Volkssagen, Märchen und Legenden Niedersachsens

Autor: Harrys, Herrmann, Erscheinungsjahr: 1862

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sagen, Märchen, Legenden, Norddeutschland, Niedersachsen, Überlieferungen, Aberglauben, Sitten und Gebräuche, Altertum, Volksmund, Glauben
Einleitung.

Die Sage, teils örtlich, teils historisch, unterscheidet sich vom Märchen durch Nennung bestimmter Stämme, Geschlechter, Personen oder Orte. Das Märchen bindet sich weder an einen bestimmten Punkt der Geschichte noch des Bodens und sendet seine Helden nicht selten ganz ohne Namen in die Welt; es ist über die ganze Erde verbreitet und so sehr Gemeingut der Nationen, dass manche seiner Blüten fast in derselben Gestalt bei sehr verschiedenen Völkern deutschen und außerdeutschen Stammes vorkommen. *) Schon dies hätte darauf hinweisen sollen, wie fruchtlos und vergebens die Bemühung sei, Sage und Märchen ihrer wunderbaren Fassung zu entkleiden, um eine historische Tatsache daraus hervorzuschälen. Gelänge es auch hie und da, ein nacktes geschichtliches Ereignis in dem Wundergewebe einer Sage aufzuspüren **), so würde doch auch hier die schwere Frage zu lösen übrig bleiben, wie es gekommen, dass sich das Wunder mit dem geschichtlichen Factum vermählte und in dieser Gestalt, wo Kern und Hülle kaum mehr zu sondern waren, nicht bloß von einzelnen betörten Menschen sondern von den Bewohnern einer ganzen Gegend in treuem Glauben festgehalten und durch Jahrhunderte bewahrt wurde, ja wie es geschehen mochte, dass dieselbe Sage sich in verschiedenen Ländern unter Voraussetzung ganz verschiedener Verhältnisse wieder erzeugte?

*) Wir erinnern an das Märchen, das Shakespeares Maß für Maß zum Grunde liegt und außer in England und Deutschland z. B. auch in neugriechischen Volksliedern vorkommt; siehe Altdeutsche Wälder (von den Gebrüdern Grimm, Kassel 1813) Band II. S. 181 —184. Vgl. das Gedicht ,,von zwein Kaufmann" das. Bd. 1. S. 33-71.

**) Z. B. beim Auszuge der hamelnschen Kinder. Vgl. Fr. Sprenger Geschichte der Stadt Hameln (Hannov. 1826) S. 23—29 und die dort mitgeteilten Notizen über die Wiederkehr derselben Sage in Draucy-les-Rouis bei Paris und zu Belfast in Irland.


Die Forschung, zu welcher Sage und Märchen Anlass bieten, ist indes über diese nüchternen Auslegungsversuche längst hinausgekommen und will fortan nicht mehr einen historischen Anhaltspunkt für das Einzelne aufspüren, sondern hat einen Weg eingeschlagen, der das Wunder der Gesamtheit zu enträtseln und auf die Zustände hinzuleiten geeignet ist, aus denen sie alle, wenn auch nicht alle gleich unverfälscht und unverkümmert, hervorgegangen sind. Was diesen Überbleibseln des Altertums zum Grunde liegt, ist eben das Altertum selbst, der alte Glaube, das alte Recht, die alte Sitte, und nicht bloß das christliche Altertum des deutschen Volks, sondern (und der Regel nach) die heidnische Vorzeit. Man wird es bei offenem, unbefangenem Blicke leicht erkennen, dass in den deutschen Sagen gar Vieles enthalten ist, was sich aus der Gegenwart und ihrer Grundlage, dem christlichen Leben, nicht erklären lässt, und bei näherer Betrachtung wird man in vielen einzelnen Sagenzügen eine Verwandtschaft, nicht selten eine genaue Übereinstimmung mit der nordischen Altertumswelt in Glauben, Recht und Sitte entdecken. Diese Entdeckung ist auch schon in früheren Tagen gemacht worden und hat dazu dienen müssen, den Beweis zu liefern, dass Deutschland vom Norden entlehnt habe. „Aus dem Reichtum des einen Bruders schloss man, sagt Jakob Grimm*), nicht etwa, dass der andere das Seine verloren, sondern, dass er gar nichts besessen habe.“

*) in der deutschen Mythologie (Göttingen, 1835)

Für das nordische Altertum strömen die Quellen reich und voll; Deutschland hat, neben andern Verlusten, welche die Verbindung der römischen Kaiser- mit der deutschen Königskrone über uns gebracht, auch einen guten Teil seines Altertums durch die römische Priesterherrschaft einbüßen müssen. Aus vereinzelten Bruchstücken, die kein Chronist überliefert, kein Denkmal verewigt, sondern der lebendige Volksmund von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt hat, und aus der Vergleichung und Verbindung derselben mit dem urkundlich auf unsere Zeit Gekommenen muss das Altertum, so viel wenigstens den Glauben an Götter und göttliche Wesen betrifft, wieder hervorgelesen werden. Um dem Vorwurf zu entgehen, dass Deutschland den Reichtum des Nordens auf sich übertrage, ohne dazu befugt zu sein, ist die Forschung bedacht gewesen, vorerst das zusammen zu stellen, was unsrer Geschichte und unserem Vaterlandsboden eigentümlich angehört. Erst als sich hier eine sichere Grundlage ergeben, auf der ein Gebäude stehen konnte, durfte auch die nordische Mythengeschichte wieder zu Hilfe genommen werden. Das Resultat im Großen und Ganzen war, dass Deutschland ursprünglich einen Götterhimmel hatte, der meistens mit guten Wesen bevölkert war und in Liebe und ohne Grauen verehrt wurde. Mit dem Siege des Christentums war dieser Götterhimmel nicht mit einem Male erloschen und weggetilgt, sondern heidnischer und christlicher Glaube vermischten sich zusammen. Allmählich erst errang der letztere die entschiedene Herrschaft und verwandelte, wo er die Reste des älteren eingeborenen Glaubens nicht ganz verwischen konnte, dieselben in dunkle Gestalten. Ursprünglich getrennte Wesen höherer und niederer Ordnung schmolzen in denselben Namen des Teufels zusammen, und was der heidnische Glaube früher den Göttern und ihren Priestern zugeschrieben, das übertrug jetzt der Volksglaube der jungen christlichen Geschlechter auf gefürchtete Dienerinnen des Teufels, auf Hexen. Wer des Glaubens der Heiden am meisten bedurft hatte, und nicht im Stande war sich immer gleichmäßig auf der Höhe der christlichen Weltauffassung zu halten, gleichwohl aber täglich das Bedürfnis fühlte, höhere Mächte um sich und über sich zu wissen, der musste diesen Glauben auch am zähesten festhalten. Es ist dies der kindliche Teil des Volks, sei er es in körperlichem Bezug, die Jugend, oder in geistigem, der gemeine Mann. Was er vom Vater und Ältervater durch lange Geschlechterreihen empfangen, das pflanzte er auf den Sohn, den Enkel fort, und Alle benutzten die in jenen Überresten des Heidentums enthaltenen Dogmen, wenn wir so sagen dürfen, um sich durch Anwendung derselben mit Erscheinungen abzufinden, die das Leben täglich vorführte und die zu erklären der schlichte einfache Verstand nicht ausreichte. So lässt sich die Fortbildung, das Umgestalten und das Schaffen der Sage erklären, deren Vermischung mit völlig modernen Zuständen manchmal einen ganz besonderen Reiz übt und für die Forschung nicht ohne Gewinn ist.

Wie man nicht alle Sagen, die bei einem Volke vorkommen, den andern desselben Stammes überweisen kann und nicht schließen darf, dass eine den Angelsachsen gehörige Sage auch bei den Alemannen, wiewohl beide germanischen Stammes, gänge gewesen; so wird man auch nicht die im Süden Deutschlands heimischen ohne Weiteres dem Norden beilegen können. Schon aus diesem Grunde empfiehlt sich die Zusammenstellung der vorhandenen Sagen nach einzelnen Ländern und Provinzen. Freilich nicht so, dass die politischen Grenzen der Gegenwart strenge inne gehalten werden *), sondern man wird am sichersten gehen, wenn man den natürlichen, durch Berge, Flüsse und Küsten gebotenen Grenzen folgt; denn nur von solchen Grenzen konnten einzelne Stämme der Vorzeit umschrieben werden. Das Sammeln dessen aber, was den einzelnen Volksstämmen eigentümlich scheint angehört zu haben, ist jetzt, wo das Resultat für das Allgemeine feststeht, dasjenige, was Not tut. Erst wenn alle Provinzen das Ihrige zusammengestellt, wird sich ein vollständigeres, die Stammeigenheiten schonendes Gebäude deutscher Mythologie aufführen lassen, das zwar den Mythologien des klassischen Altertums immer nachstehen, aber doch nicht ein so ganz geringes und scheinloses Aussehen haben wird, wie die Philologen, die nur der hellenischen und römischen Welt Größe, Würde und Glanz zugestehen, die Welt möchten glauben machen.

*) Wie in der sonst verdienstlichen Sammlung preußischer Sagen von Tettau und Temme.

                                    *********************

Neben der wissenschaftlich zu berücksichtigenden Seite haben Sage und Märchen noch eine poetische. Diese fordert, wie jede Dichtung, nur „den Glauben an den Glauben.“ Woran sich das deutsche Volk Jahrhundertelang erquickt und erfreut hat, das muss eine Kraft in sich tragen, die auch heute noch stark genug ist, zu erquicken und zu erfreuen. Um diese Freude zu genießen, bedarf es weiter nichts, als für Augenblicke einmal jenen Glauben an den Glauben, der in keines Kindes Brust gefehlt hat, wieder aufzuwecken und durch den Duft der Sage in die blaue Ferne unsers Altertums zu schauen, wo reine, starke, gesunde Naturen in freudiger Kindlichkeit mit ihren Göttern, ihren Helden, ihren Hausgeistern traulich verkehrten.

                                    ********************

Der Teil Norddeutschlands, welchen man unter dem Namen Niedersachsen begreift, ist — mit Ausnahme des Harzgebirges — nicht so ergiebig an poetischen Sagen, wie andere Landesstriche; Manches teilt auch dieser Boden nur mit dem übrigen Deutschland. Allein nicht Alles, was er erzeugt hat, ist Gemeingut, und in den Sagen der flachen Haidegegend ist eine Eigentümlichkeit nicht zu verkennen, welche hinreicht, die diesem Gebiete vorgehaltene Mythen-Armut zu bestreiten.

Der Wunsch, die Sagen dieses Kreises zusammengestellt zu sehen, ist öfter geäußert; die Erfüllung desselben durfte vielleicht nicht lange mehr verschoben bleiben; denn die mündliche Fortpflanzung der Sage wird seltener, je weiter die politische Bildung der Völker fortschreitet, und immer schwerer wird es, dem eigentlichen Bewahrer der Sagenschätze, dem Volke, von seinem Reichtum zu rauben.

Wir haben bei Sammlung dieser Sagen Treue vor Allem im Auge gehabt, und jede Zutat von den einfachen Volksberichten fern zu halten gestrebt. Deshalb konnte das Wenige, was aus neueren Sagensammlungen in die vorliegende übergegangen ist, meist auch nur dem Inhalte nach entlehnt werden: es soll in der Umarbeitung keine Kritik der früheren Sammler liegen, die für andere Zwecke schrieben. Eine kurze Quellen-Angabe haben wir wohl mit Grund für nötig gehalten.

Der Herausgeber ist bei Aufsuchung dieser Sagen von seinen Freunden Karl Gödeke und Günther Nikol, und in Bezug auf die oberharzischen Sagen von dem Herrn G. Schulze, dem Herausgeber der Harzgedichte, *) fleißig und freundlich unterstützt worden. Dankbar, wie er ihnen ist, wird er jede fernere Mittheilung aufnehmen.

*) Clausthal, 1833

Inhaltsverzeichnis.
Erste Abteilung
Einleitung
01. Graf Isang
02. Der Tils-Graben
03. Die schöne Bertha vom Schweckhäuserberge
04. Wallfahrt nach den Schweckhäuserbergen
05. Zweige in den Schweckhäuserbergen
06. Die Zwerge bei Hitzacker
07. Die goldene Wiege
08. Zwergüberfahrt
09. Zwerghöhlen
10. Der Glockensee
11. Der bessoische Meerpful
12. Die Glocke zu Coenhausen
13. Die sieben Trappen
14. Der nächtliche Pflüger
15. Der Zaunhase
18. Umgehen
17. Das weiße Kind
18. Der weiße Geist
19. Der Waldgeist
20. Der Geisterstieg
21. Der schöpfende Geist
22. Besessensein
23. Bund mit dem Teufel
24. Wärwolf
25. Der Wolfsbaum
26. Die Hamelnchen Kinder
27. Die Geister im Lüningsberge
28. Der Wolfstein bei Ürzen
29. Die fünf Eichen
30. Die wei0e Jungfrau am Riepen bei Hameln
31. Der Brautstein
32. Treueschwur
33. Das Heldengrab bei Steinbeck
34. Der Lübbower Stein
35. Die Riesen im Hunnenberge
36. Das Felsengrab zu Steinbeck
37. Die Hünenburg
38. Der Pickelstein
39. Die Erbauung Hildesheims
40. Die Rose am Dom zu Hildesheim
41. Das Wandelkreuz
42. Die weiße Rose im Dom zu Hildesheim
43. Das seufzende Kruzifix
44. Legenden vom Kloster Corvey
45. Der Dom zu Verden
46. Vom Roland in Bremen
47. Das Stierloch
48. Das Klageweib
49. Graf Teklenburg bezwingt Osnabrück
50. Der weiße Ritter
51. Der alte Turm zu Sehmünden
52. Fritz von der Bergen
53. Die Lippoldshöhle
54. Das Jammerholz
55. Die Eiche bei Lüchow
56. Der Schmied am Hüggel

Zweite Abteilung.
Der Harz.
Einleitung
01. Der Zwergkönig
02. Der Bergmönch
03. Das Mönchstal
04. Der silberne Mann
05. Der wilde Jäger
06. Die Haulemutter
07. Das kleine Claustal
08. Der Wilddieb
09. Die Wunderblume
10. Der Hirschlerteich
11. Feuer wird verflucht
12. Die Kirche zu Zellerfeld
13. Fausts Höllenzwang
14. Die Totenwiese bei Zellerfeld
15. Spuk bei Zellerfeld
16. Der Freischütz
17. Andreas-Abend
18. Der silberne Tannzapfen
19. Hans-Kühnenburg
20. Der Schatz im Turm zu Osterode
21. Ersteigung des Hübichensteins
22. Das ewige Licht und die Spindel
23. Die Osterjungfrau und die Wunderblume
24. Goslar und der Rammelsberg
25. Der Teufel zu Goslar
26. Das Teufelsbecken zu Goslar 70
27. Der heilige Nicolaus
28. Teufels-Grube
29. Der Turm zu Scharzfeld
30. Die Zwerglöcher
31. Teufels-Tümpel
32. Die Steinkirche
33. Das Weingartenloch
34. Das Magdbette
35. Der Tanzteich
36. Das graue Männchen
37. Das Nadelöhr beim Kloster Ilefeld
38. Der Schatz
39. Die Hufeisen