Volksbildung und Wissenschaft in Deutschland während der letzten Jahrhunderte.

Autor: Meyer, Jürgen Bona (1829-1897) deutscher Philosoph. Professor an der Universität zu Bonn., Erscheinungsjahr: 1869

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Volksbildung, Schulbildung, Universitätsbildung, Allgemeinbildung, Wissenschaft, Gelehrte, Schulen, Lehrer, Universitäten, Gymnasien, Schüler, Kunst, Kultur, Geistliche, Reformatoren, Reformation, Luther, Melanchthon, Wissen, Schulwesen, Gelehrtensprache, Schulpflicht, Ausbildung, Handwerk, Kenntnisse, Fertigkeiten, Natur, Geschichte, Halbbildung, Wahrheit, Aberglauben, Erkenntnis, Humanisten, Mysterien, Religion, Menschenrecht, Bedürfnisse, Aufklärung
Zu den weit verbreiteten Zeitforderungen gehört das Verlangen nach einem richtigen Verhältnis zwischen Wissenschaft und allgemeiner Volksbildung. Nicht unbekümmert um einander sollen dieselben ihre Wege gehen, sondern zur wechselseitigen Förderung eine sorgsam gepflegte Beziehung zu einander unterhalten. So berechtigt nun auch Vielen dieses Verlangen erscheint, an Missdeutung und Gegnerschaft fehlt es nicht. Manche Männer der Wissenschaft betrachten mit ängstlicher Scheu dieses Streben nach Verwertung des Wissens für die Volksbildung oder verwerfen gar mit gelehrtem Hochmut dasselbe als unnütz und verderblich für die Wissenschaft wie für die Volksbildung. Ein Naturforscher, der die Kunst der Vermittlung beider Sphären wohl versteht und übt, der berühmte Petersburger Akademiker Karl Ernst von Baer, sagt doch bedenklich in seiner Autobiographie: seit die Arbeit der Popularisierung der Wissenschaft im Gang sei, und die Früchte der Finder und Erfinder auf unzähligen Mühlen vermahlen würden, kämen ihm diese doch wie die Knochenmühle vor, welche die Reste lebendiger Organismen in ein formloses Pulver umändere, das den Abstammungsprozess nicht mehr erkennen lasse und dem Volke nur eine dürftige Nahrung biete. Als der Nestor unserer deutschen Historiker, Friedrich von Raumer, im Jahre 1841 den Gedanken zur Anordnung der seitdem allwinterlich in Berlin wiederholten öffentlichen Vorlesungen vor einer gemischten Zuhörerschaft fasste, und einen der berühmtesten Juristen, Friedrich von Savigny, bat, einen Vortrag zu übernehmen, erhielt er die Antwort: das ganze Unternehmen (und insbesondere die Teilnahme von Frauen und Mädchen) sei eine Herabwürdigung der Wissenschaft, auch werde der Verein im ersten Jahre dahinsterben. — Der Bestand und der Fortschritt solcher überall sich mehrenden Bestrebungen hat seitdem wohl die Besorgnis vor der Gefahr des Missbrauchs und die Klage über den notwendigen Schaden gemindert, aber keineswegs schon so weit beseitigt, dass es nicht mehr der Mühe verlohnte ein Wort zur Verständigung darüber zu sagen. Noch immer bestehen die alten Gegensätze. Während die Einen behaupten, das ganze Volk habe ein wachsendes Anrecht auf Teilnahme am wissenschaftlichen Fortstreben und die Wissenschaft selbst gewinne, wenn sie dieser Teilnahme fördernd entgegen komme, stellen dawider Andere die Behauptung auf, diese Teilnahme gereiche dem ungelehrten Volke zum Schaden, indem durch sie Halbbildung erzeugt werde, die Berücksichtigung dieser Teilnahme schade auch der Wissenschaft, indem dadurch die Kraft des reinen Erkenntnisstrebens geschwächt und die Richtung desselben von den höchsten Zielen abgelenkt werde auf die Oberfläche eines allgemein verständlichen, allgemein zugänglichen Bedürfnisses. Dass diese einander widersprechenden Ansichten noch heut zu Tage sich bekämpfen, wird Niemand bestreiten, es darf daher wohl für ein Unternehmen, wie dasjenige ist, dem diese Blätter dienen, angemessen erscheinen, auf Grund eines historischen Rückblicks eine Prüfung der gedachten Zeitforderung anzustellen. Die Beschränkung dieses Rückblicks auf Hauptzüge der deutschen Kulturgeschichte in den letzten Jahrhunderten empfiehlt sich durch die Rücksicht sowohl auf die für diese Schrift notwendige Kürze, wie auch auf das dem deutschen Volke, für welches die Schrift bestimmt ist, näher liegende Interesse.
                  (Erste Fortsetzung)




Welche Lehren gibt uns nun dieser Rückblick auf die Entwicklung der Beziehungen von Wissenschaft und Volksbildung?

Die Geschichte lehrt, dass einerseits die Wissenschaften gesunder und rascher auf dem günstigen Boden einer allgemeineren Volksbildung gedeihen, und dass andererseits ohne die wissenschaftliche Pflege dieser die gesamte Volkswohlfahrt leidet. Sie zeigt, wie mit der Vertiefung und Vermehrung des Wissens unaufhaltsam auch die Ausbreitung desselben im Volke wächst, und wie vergeblich es ist, das Maaß der Teilnahme an diesem Fortschritt für die einzelnen Volkskreise ängstlich zuschneiden zu wollen Sie überzeugt uns ferner, dass Gefahren für beide Seiten sich einstellen, sobald die Förderer des Wissens die weitere Ausbreitung desselben den unklaren Versuchen halbgeschulter Geister oder den nur halbberechtigten Eingriffen genialer Neuerer überließen. Erst dann ward die Wissenschaft verflacht und die Volksbildung verwirrt. Umso gerechtfertigter erscheint also das Verlangen der Gegenwart nach einer sorgsamen Pflege der Beziehungen von Volksbildung und Wissenschaft.

                  (Neunte Fortsetzung)

Baer, Karl Ernst (1792-1876) Mediziner, Naturforscher_

Baer, Karl Ernst (1792-1876) Mediziner, Naturforscher_

Raumer, Friedrich von (1781-1873) Verwaltungsjurist, Historiker, Schriftsteller

Raumer, Friedrich von (1781-1873) Verwaltungsjurist, Historiker, Schriftsteller

Savigny Friedrich Karl von

Savigny Friedrich Karl von

002 Aus dem Studentenleben (1)

002 Aus dem Studentenleben (1)

002 Aus dem Studentenleben (2)

002 Aus dem Studentenleben (2)

002 Aus dem Studentenleben (3)

002 Aus dem Studentenleben (3)

008 Eine Promotion im 16. Jahrhundert

008 Eine Promotion im 16. Jahrhundert

005 Herrscherin Rute. Das Standessymbol des LehrersJPG

005 Herrscherin Rute. Das Standessymbol des LehrersJPG