Vierte Fortsetzung

Thomasius, der Leipziger Professorssohn, erkannte, dass die Wissenschaft eine neue Stellung zur Zeit einnehmen müsse. Nach mehrjähriger Leipziger Universitätslehre sagte er sich im Jahr 1688 los von dem alten Schlendrian, indem er wider allen bisherigen Brauch eine Vorlesung in deutscher Sprache „über des Gratians Grundregeln, vernünftig, klug und artig zu leben" hielt. Dabei entwickelte er, „welchergestalt man den Franzosen im gemeinen Leben und Wandel nachahmen solle". Nicht in der Annahme ihrer Sprache, nicht in Nachäffung ihrer Sitten sollte die Nachahmung bestehen, sondern darin, dass wir nach dem Beispiel der Franzosen unser Wissen in eigener Muttersprache zur Hebung der allgemeinen Volksbildung verwerteten. Dadurch werde die Gelehrsamkeit unvermerkt mit großem Vorteil fortgepflanzt, wenn ein jeder dasjenige, was zu einer klugen Wissenschaft erforderlich sei, in feiner Landessprache lesen könne und es sich nicht erst, fremde Sprachen zu erlernen, sauer werden lassen müsse. Nicht unbedingt verwerfen wollte er das Erlernen der alten Sprachen, nur die geistlose, übermäßige Art der Betreibung wollte er abgestellt wissen. Um sein Wirken zu unterstützen gab Thomasius eine deutsche Zeitschrift „die Monatsgespräche" heraus und ward dadurch der Begründer des freieren literarischen Journalismus, der nach diesem Beispiel und nach dem Muster der englischen Wochenschriften bald allerorten seine Schösslinge trieb. In diesen „Monatsgesprächen" griff Thomasius vorzüglich die religiöse Scheinheiligkeit und den gelehrten Pedantismus seiner Zeit an. Überdies verteidigte er von Seiten des Rechts im Gegensatz zur lutherischen Orthodoxie den um diese Zeit durch Spener aufkommenden Pietismus, dessen Anhänger in Leipzig dermal in ihrer Lehrfreiheit beschränkt wurden. Natürlich erregte dies Auftreten und seine Neuerungen den Hass und die Verfolgungssucht seiner Kollegen, die ihm Lehren und Schreiben mit Hülfe des Dresdener Ober-Konsistoriums und der Zensur zu erschweren suchten. Den Ausschlag wider ihn gaben indes wie gewöhnlich einige nebensächliche Behauptungen, welche ihm die Ungnade des Hofes zuzogen. Seine Lehrfreiheit wurde beschränkt und selbst seine persönliche Freiheit bedroht. Thomasius flüchtete ins Brandenburgische, der Kurfürst Friedrich verstattete ihm an der Ritterakademie zu Halle seine Lehrtätigkeit fortzusetzen. Der freie Zulauf, den dieselbe fand, ließ die schon ältere Idee der Gründung einer Universität in Halle wieder aufkommen. Von anderen trefflichen Männern unterstützt, wurde dieser Plan im Jahr 1694 zur Ausführung gebracht. Im neuen Geiste gegründet, wurde Halle eine Zeit lang Hauptträger dieses Geistes, dessen es leider nicht allezeit eingedenk geblieben ist. Von hier aus bekämpfte nun Thomasius die Tortur und den Unfug der Hexenprozesse. Durch Thomasius angeregt, erwarb sich die Universität die entschiedensten Verdienste um die Rechtswissenschaft, auf ihr wurde der Geist der Neuzeit vorbereitet, der Religion und Recht, Kirche und Staat von einander trennen will. An der in Halle geförderten Rechtswissenschaft fand dann bald Friedrich der Große eine wesentliche Stütze für die praktische Förderung des Gerichtswesens in seinem Lande, Die theologische Unduldsamkeit hatte in Thomasius den Ruf nach Freiheit der Wissenschaft geweckt, nur durch den Besitz größerer Freiheit erklärte er in einer Zuschrift an den Kurfürsten vom Jahr 1692 den größeren Fortschritt der Wissenschaften in Holland, England und Frankreich. „Die Weisheit braucht keine Protektion — sagte er — sondern dies ist ihr Protektion genug, wenn man ihre Freiheit nicht hemmt und unterdrückt." — Auch die Theologie sollte an der Hallenser Universität im neuen Geiste gelehrt werden. Man berief den vortrefflichen Francke, der schon an der Leipziger Universität, von Thomasius rechtlich verteidigt, im Sinne des frommen Spenerschen Pietismus gewirkt hatte, bis ihm dort untersagt war theologische Vorlesungen zu halten. Wohl bewusst, dass im lutherischen Sinne Frommsein die Bildung fürs Leben nicht hindern soll, nahm sich Francke der vernachlässigten Volksbildung an, und begründete im Jahr 1695 die Armen- und Bürgerschule, aus der allmählich die weit berühmten, nach seinem Namen genannten Stiftungen in Halle erwuchsen. In den höheren Lehranstalten dieser Stiftungen wurden neben dem wahren Christentum die Realkenntnisse in weitem, vielleicht gar in zu weitem Sinne getrieben. Anatomische Sektionen, Drechselbänke und Mühlen zum Glasschleifen wenigstens gehörten sicherlich nicht zu den notwendigen Bildungsmitteln dieser Anstalten. Aber im Betreiben dieser Künste des wirklichen Lebens lag doch ein gesundes Gegengewicht gegen den frommen Verkehr mit der übersinnlichen Welt, der so leicht unfähig macht das Bedürfnis dieser Welt zu verstehen. Im Gegensatz zu dieser Richtung erhielt die Universität Halle den Stempel der Aufklärungszeit durch den Philosophen Christian Wolff, durch den auch die Philosophie deutsch reden und schreiben lernte. „Ich habe gefunden, sagte Wolff, dass unsere Muttersprache zur Wissenschaft sich viel besser schickt, als die lateinische, und dass man in der reinen deutschen Sprache vortragen kann, was im Lateinischen sehr barbarisch klingt. Die Erfahrung lehrt, dass an deutschen Schriften sich auch Andre, so den Studien eben nicht obliegen, erbauen und dadurch zu einem ziemlichen Grad des Wissens gelangen." Wolffs Augenmerk war also nicht bloß auf die Gelehrten gerichtet. Da er von Jugend auf eine große Neigung gespürt hatte zur Besserung des Menschengeschlechts beizutragen, so hatte er demgemäß sich niemals etwas angelegener sein lassen, als alle seine Kräfte dahin anzuwenden, dass Verstand und Tugend unter den Menschen zunehmen mögten, und er wollte davon nicht ablassen, so lange sich ein Blutstropfen in seinem Leibe rege. So erklärte Wolff in der Vorrede zu seinem 1719 erschienenen Werke: „Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt", und so weit man durch Verstandesaufklärung vom Katheder herab für solchen Fortschritt wirken kann, hat Wolff sein Vorhaben unermüdlich ausgeführt. Bald beherrschte seine Weisheit überall Kanzel und Katheder und damit einen beträchtlichen Teil seiner gebildeten Zeitgenossen.

Inzwischen hatte die Anregung des Thomasius auch in Leipzig einen neuen Geist geweckt. Gottsched hatte sich dort die Bahn zu seinem norddeutschen Kunstrichtertum eröffnet und durch Herausgabe einer Wochenschrift „die vernünftigen Tadlerinnen" so wie durch Veranlassung einer Übersetzung der Bayle'schen Enzyklopädie sich um die Ausbreitung allgemeinen Wissens verdient gemacht. Ihn unterstützte in diesem allgemeinen Bildungswirken sein Kollege Gellert, dessen Vorlesungen über Poesie und Beredsamkeit ähnlich wirkten, und dessen moralische Sonntagsvorlesungen auf das Gemüt seiner Hörer keinen geringeren Einfluss ausübten als seine Fabeln auf den Sinn unzähliger Leser. Gellert selbst erklärte einmal: „Mein größter Ehrgeiz besteht darin, dass ich den Vernünftigen dienen und gefallen will, und nicht den Gelehrten im engeren Verstande. Ein kluges Frauenzimmer gilt mir mehr als eine gelehrte Zeitung, und der niedrigste Mann von gesundem Verstande ist mir würdig genug, seine Aufmerksamkeit zu fesseln, sein Vergnügen zu befördern und ihm in einem leicht zu behaltenden Ausdrucke gute Wahrheiten zu sagen und edle Empfindungen in seiner Seele rege zu machen."


Im Hinblick auf solche Bestrebungen konnte Gottsched in einer Denkrede auf Thomasius mit Befriedigung sagen: „Es ist allerdings wahr, dass man noch jetzt mit großen Hindernissen zu kämpfen hat, doch wenn Thomasius noch lebte, würde er mit Vergnügen wahrnehmen, wie die deutsche Sprache und die deutschen Schriften fast täglich mehr Liebhaber und Leser bekommen und wie das von ihm ehemals so tapfer bestrittene Vorurteil beinahe alle Kraft in unseren Grenzen verloren hat." — Gewiss mit Recht hat I. Schmidt hervorgehoben, dass von allen Zweigen der prosaischen Literatur keiner so geeignet ist, zwischen der Gelehrsamkeit und der allgemeinen Bildung zu vermitteln als die Geschichtsschreibung, dass daher das gleichzeitige Erscheinen mehrerer bedeutenden Werke über deutsche Geschichte in deutscher Sprache, so des Leipziger Professors und Ratsherrn Mascov „Geschichte der Deutschen bis zum Anfang der fränkischen Monarchie" 1726 und des Dresdener Hof- und Justizrats H. von Bünau „deutsche Kaiser und Reichshistorie" 1728, charakteristisch sei für die Wendung der Zeit. Lessing beklagte in seinen Literaturbriefen den Mangel an vortrefflichen Geschichtsschreibern in Deutschland. Unsere schönen Geister seien selten Gelehrte und unsere Gelehrte seien selten schöne Geister. Jene wollten gar nicht lesen, gar nicht nachschlagen, gar nicht sammeln, kurz gar nicht arbeiten, und diese wollten nichts als das. Jenen mangele es an Stoff und diesen an der Geschicklichkeit ihrem Stoffe eine Gestalt zu erteilen. Nur jene beiden, Bünau und Mascov, hebt er rühmend hervor und ihre trotzdem geringe Wirkung erklärt er nur daraus, dass sie sich mit ihrer Darstellung in zu dunkele Zeiten gewagt hätten, während der wahre Geschichtsschreiber die Ereignisse seines Landes und seiner Zeit schildere. Diese Auffassung Lessings von der ausschließlichen Bedeutung der Zeitgeschichte war sicherlich verkehrt, aber es lag doch das Bewusstsein dahinter, dass eine lebendigere Beziehung zur Gegenwart einem Geschichtswerk die größere Wirkung in weitem Umkreis der Gebildeten sichert. Jedenfalls war das Erscheinen solcher Werke in deutscher Sprache ein Zeichen des erwachenden neuen Geistes, dass man sich nicht mehr mit der Bildung begnügen wollte, welche Theologie, klassisches Altertum und deutsche Dichtkunst geben konnten, sondern sein Augenmerk wieder lebhafter den Zuständen der politischen und sozialen Entwicklung Deutschlands zuzuwenden begann.