Siebente Fortsetzung

Übrigens blieb dieser in Preußen erwachte Eifer für die Bildung des Volkes nicht ohne Nachfolge in den übrigen Ländern Deutschlands. Felbiger selbst erhielt auf das Gesuch Maria Theresias Urlaub von Friedrich dem Großen, um auch in den österreichischen Ländern das gesummte Volksschulwesen zu verbessern. Die eifrigste Förderung fand sofort diese Schulreform in Böhmen durch den Dechanten Kindermann zu Kaplitz, den die Kaiserin später wegen eben dieser Verdienste mit dem Namen von Schulstein adelte. Unter Joseph II. gewann nach Publizierung des Toleranzediktes vom Jahre 1781 auch das evangelische Volksschulwesen Osterreichs eine größere Freiheit der Entwicklung. Kurz überall wurde Volksbeglückung durch Volksbildung das Motto der Zeit; und nicht nur die Kinder fasste man ins Auge, sondern ebenso für die Erwachsenen suchte man zu sorgen durch Sonntagsschulen und Fortbildungsanstalten an den Werktagen. Überall waren diese Bemühungen von ähnlichem Geiste belebt, man wollte den Verstand üben, aufklären, ohne Betonung der konfessionellen Unterschiede christlich fromme Menschen bilden, für die Bedürfnisse des praktischen Lebens vorbereiten. Aufklärung und Volksbeglückung wurden — kann man sagen — zur Leidenschaft der Zeit.

So fielen denn Rousseaus Emil (1762) und Basedows Bestrebungen schon auf einen empfänglichen Boden. Nur daraus ist die überschwänglich begeisterte Aufnahme ihrer Ideen bei den denkenden, für das Volkswohl mit Teilnahme erfüllten Männern aller Nationen Europas zu erklären. Von der natürlichen Erziehung, wie sie Rousseaus Emil forderte, hofften Dichter und Denker, Laien und Gelehrte damals den Heranwuchs eines gesunden, vernünftigen Menschengeschlechts. Selbst Kant, der besonnene Königsberger Philosoph, gesteht, von keinem Buche so gefesselt worden zu sein, wie von diesem. — Durch die Wolff'sche Philosophie war Basedow nach eignem Bekenntnis für die Aufklärung gewonnen worden, die Lektüre Rousseaus begeisterte ihn zu der Idee, Reformator des Erziehungswesens in Deutschland, wenn möglich in ganz Europa zu werden. Der allgemeinen Zeiterregung zufolge fand Basedow für seine Erziehungsreform die reichlichste Unterstützung der Zeitgenossen. Kaum ein Jahr nachdem er in seiner 1768 erschienenen „Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluss in die öffentliche Wohlfahrt" die Notwendigkeit dargelegt hatte, zur Besserung des Volkes mit der Hebung seiner Elementarbildung zu beginnen, und nachdem er zur Abfassung eines Elementarbuches sich die Unterstützung aller Menschenfreunde erbeten hatte, befand er sich durch Beisteuer von Fürsten und reichen Bürgern aus vielen Ländern im Besitz von 15.000 Thlrn. Kaum hatte er im Jahre 1770 „das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker" herausgegeben, worin er beweisen wollte, dass die übliche Bildungsweise der Jugend den Einsichten und Bedürfnissen des Jahrhunderts nicht angemessen sei, zugleich Mittel zur Abhilfe vorschlug, so berief ihn der Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt mit ansehnlichem Gehalte nach Dessau zur Verwirklichung seiner Ideen. Hier verfasste er sein „Elementarwerk", welches 1774 in 4 Bänden mit 100 meist Chodowieckischen Kupfern erschien. Es sollte der 0rbis pictus des 18. Jahrhunderts sein. Sein Gönner, der Fürst von Dessau, gab dann weitere reiche Unterstützung zur praktischen Ausführung der vorgeschlagenen Erziehung in einer Anstalt, so entstand 1774 das bald viel besprochene Dessauer Philanthropin. Aufklärung, im Bunde mit Nützlichkeit, Natürlichkeit und möglichst enzyklopädischem Wissen, bildeten die Grundideen der neuen Erziehung. „Der Zweck der Erziehung muss sein — heißt es in der an alle Freunde gerichteten Einladung zum Examen im Jahre 1776 — einen Europäer zu bilden, dessen Leben so unschädlich, so gemeinnützig und so zufrieden sein möge, als es durch die Erziehung veranstaltet werden kann." Das Gemeinnützigste aus allem Wissen sollte in der natürlichsten, angenehmsten Weise gelehrt werden. Ein zwölfjähriger Knabe von nicht zu verderbten Sitten und mäßiger Begabung, der nur lesen und schreiben könne, sollte ohne Zwang und Unlust binnen vier Jahren in aller Hinsicht zu einem der tüchtigsten Universitätsbürger gebildet werden. Im Religionsunterrichte des Philanthropins sollte von allem Konfessionsunterschiede ebenso abgesehen werden, wie im Geschichtsunterricht von der Begünstigung irgend einer Nation oder Regierungsform. Jude und Christ, Katholik und Protestant, Russischer Untertan und Schweizer Republikaner — sie alle sollten sich gleich wohl im Philanthropin befinden. Das zu erstrebende Ideal war die Erziehung zu einem allseitig gebildeten, aufgeklärten, nützlichen Weltbürger. — Auch dieses Unternehmen begünstigte der Minister von Zedlitz. Die Petersburger Akademie sogar stellte demselben ein günstiges Zeugnis aus. Lessing billigte dasselbe, Kant erklärte sich 1774 öffentlich für dasselbe. Das Heil des Menschengeschlechts — schrieb er — sei von dem Aufkommen einer natürlichen Erziehung abhängig, aber nicht eine langsame Reform, nur eine schnelle Revolution könne dienen. Dazu sei als Vorbild eine nach der echten Methode von Grund aus neu geordnete Musterschule notwendig, und eine solche sei nun nicht mehr bloß eine schöne Idee, sondern das Philanthropin zeige die Tunlichkeit dessen, was längst gewünscht worden. Basedow hatte eben in vielen Punkten die Ideen seiner Zeit getroffen, daher kamen ihm die Anhänger der neuen Zeit Anfangs begeistert entgegen. Doch alle diese Bemühungen um die Volksbildung überschossen vielfach das richtige Ziel oder schlugen falsche Wege ein; daher konnte Anfeindung nicht ausbleiben, ward spätere Einschränkung des ersten Lobes und Ausmerzung des Falschen durchaus notwendig. Indes nicht die unbegründete Gegnerschaft, sondern nur das wohlbegründete Abtun des Verkehrten hatte Erfolg.


Gar Manchen missfiel der Anspruch auf Erweiterung der Volksbildung überhaupt. Man halte dafür — schreibt Felbiger 1772 — Dorfkinder dürften eben so viel nicht wissen. Auch Rochow machte die Erfahrung, „dass ein ganz achtbarer Teil des Publikums fortfuhr zweifelhaft zu sein oder scheinen zu wollen, ob bei der sittlichen Aufklärung des Volks die Menschheit gewinne". Man befürchtete, die Folgsamkeit des Bauern und des Hintersassen mochte am Ende aufhören, wenn derselbe zu klug werde. Insbesondere das Schreibenlernen der Mädchen beanstandete man. „Bei den virginibus — schrieb 1772 ein alter Schulmeister — ist das Schreiben nur ein vehiculum zur Lüderlichkeit." Man besorgte, die Erwerbung dieser Kunst werde nur zur Abfassung von Liebesbriefen verwendet werden. Selbst Justus Möser meinte, als Mann des Volks würde er kein Mädchen heiraten mögen, das lesen und schreiben könne. Überhaupt gehörte der brave Osnabrücker Justizmann, der sehr viel getan hat den Gemeinsinn im Volke zu erwecken, doch in Betreff der Volksbildung zu dem ganz achtbaren Teil des Publikums, von dem Rochow redet. Er sehe nicht ein, — schrieb er — was das Schreiben einem Ackersmann sonderlich nütze, die Kunst verleite ihn nur seinen väterlichen Acker zu meiden und außer Landes sein Brot zu suchen; wie ähnlich Friedrich der Große in einem Briefe an Zedlitz vom Jahr 1779 schrieb: „auf dem platten Lande ist es genug, wenn sie ein bisgen lesen und schreiben lernen, wissen sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Secretairs und so was werden." Möser ging darin noch weiter, er wollte sogar für die Berufsarten, die mehr Handeln als Wissen erfordern, der praktischen Berufsbildung vor der gelehrten den Vorzug geben. Was das praktische Leben durch die Wissenschaft gewonnen hat, will er nicht verkennen, aber nur die fertigen Resultate der Wissenschaft sollen die Praktiker in die Hand nehmen, ohne mit den Gelehrten einerlei Gang zu gehen. Gewiss fanden solche Gedanken Anklang bei den sogenannten Praktikern der Zeit, aber den notwendigen Fortschritt in der Ausbreitung des Wissens hemmten sie nicht. Höchstens trugen sie mit dazu bei, dem allzu weit gegangenen Idealismus etwas mehr Rücksicht auf das Bedürfnis der Wirklichkeit abzunötigen. Solcher Mäßigung bedurfte allerdings der Rousseau-Basedow'sche Bildungsfanatismus. In der Meinung natürlich zu erziehen, hatte derselbe eine höchst unnatürliche Natur erkünstelt, um das Lernen zu erleichtern war beinahe ganz vergessen, das Lernen eine Arbeit geistiger Anstrengung sein soll, in dem Wunsche den Menschen so gebildet wie möglich zu machen, war die echte Bildung mit der Anhäufung allen möglichen Wissens oder rein formaler Verstandesaufklärung verwechselt worden, der Zug zur bürgerlichen Nützlichkeit hatte das Ideal der klassischen Bildung verdrängt, über den reinen Menschen und Weltbürger hatte man die Unterschiede des wirklichen Lebens außer Acht gesetzt. Dagegen musste eine Reaktion eintreten. Gerade dieser Rückschlag aber hat zur gesicherten Anerkennung des berechtigten Bildungsanspruchs geführt, dem alle jene Versuche entsprungen waren, nicht minder gleichzeitig zur notwendigen Vertiefung und Erweiterung der Wissenschaft selbst.