Sechste Fortsetzung

Noch im Jahre seiner Thronbesteigung zog Friedrich der Große den verbannten Wolff wieder nach Preußen, „weil ein Mensch, der die Wahrheit sucht und sie liebet, unter aller menschlichen Gesellschaft wert gehalten werden müsse". Noch im selben Jahre erließ Friedrich eine Kabinettsorder im Sinne der Religionsfreiheit und tat seine bekannten Aussprüche, „dass in seinem Lande jeder nach seiner Façon selig werden könne, dass bei ihm ein jeder glauben könne, was er wolle, wenn er nur ehrlich sei". Zu den ersten Regierungshandlungen gehörte auch der Befehl einer größeren Freiheit für die Berliner Zeitungsschreiber, mit dem persönlichen Zusatz des Königs: „Gazetten, wenn sie interessant sein sollen, müssen nicht geniert werden". Freilich ließ sich die Freiheit leichter dekretieren als ausführen, Zensur und Zensurfreiheit wechselten ab unter mancherlei Bestimmungen, und Lessing konnte wohl einmal im Unmut schreiben, die Berliner Freiheit scheine nur in der Erlaubnis zu bestehen, so viele Sottisen wie möglich wider die Religion auf den Markt zu bringen. Aber die freie Handhabung der seit 1749 wieder hergestellten Zensur tat doch der Bewegung des Ganzen nur wenig Abbruch. Kurz Kant hatte wohl Recht, wenn er in einem Aufsatz vom Jahre 1784: Was ist Aufklärung? mit Bezug auf Friedrich den Großen sagte: „Ich höre von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert so viel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!" —

Unter solcher Freiheit konnte der von den Männern der Wissenschaft geweckte Geist der Aufklärung und Volksbeglückung seine Flügel ausbreiten. Und Friedrich gab dazu nicht nur Raum, mit seinem lebhaften und freien Sinne griff er selbst überall helfend und vorwärts drängend ein. „Wenn ich etwas wünschte, schrieb er einmal in jungen Jahren an Voltaire — so wäre es, gelehrte und gescheidte Leute um mich zu haben; ich glaube nicht, dass eine Sorge um sie sich nicht sehr belohnte. Zuerst ist es eine Achtung, die man ihrem Verdienst schuldig ist, sodann ein Bekenntnis des Bedürfnisses, das man hat, von ihnen Licht zu bekommen." Bitter beklagt er die Geringschätzung, welche gemeiniglich deutsche Prinzen den Gelehrten bewiesen. „Die unmodische Kleidung, der Bücherstaub, der diesen etwa anhängt, und das wenige Verhältnis, dass zwischen einem kenntnisreichen Kopf und dem leeren Hirn dieser Herrn stattfinden kann, macht, dass sie sich über ihr Äußeres aufhalten und den großen Mann ohne Hofkleid ganz und gar nicht gewahr werden, — Ich predige ihnen unaufhörlich, dass der Gipfel der Unwissenheit Hochmut sei und glaube, dass ein großer Mann, der über mir ist, auch meine Achtung verdiene." — In einem andern Brief vom Jahre 1739 beklagt Friedrich die mangelhafte Bildung des deutschen Adels, findet indes bei dem Adel seines Landes mehr Lust sich zu unterrichten, mehr Lebhaftigkeit und Genie als bei dem Adel der übrigen deutschen Länder und zieht daraus die Hoffnung, „dass die Künste einst auch hier, aus der unteren Klasse gezogen, gute Häuser und Paläste bewohnen werden. Berlin hat Funken aller Künste in sich, man sieht das Genie von allen Seiten hervorglimmen, und es bedarf nur eines glücklichen Hauchs, um das Leben den Wissenschaften wieder zu geben, die Athen und Rom einst berühmter machten als ihre Eroberungen im Kriege. Ich freue mich, diese glücklichen Produktionen meines Vaterlandes zu sehen: sie sind Rosen, die unter Disteln und Dornen wachsen, Funken des Genies, die durch die Asche hervorblicken, mit denen sie unglücklicherweise bedeckt sind". Der König verlor diese kronprinzliche Gesinnung nicht und namentlich in der zweiten äußerlich ruhigeren Periode seiner Regierung war sein Bemühen unausgesetzt darauf gerichtet, den Schutt fortzuräumen, der das Aufflackern der glimmenden Geisteskohle hinderte. Ihm zur Seite in diesem Wirken stand seit 1770 der treffliche Minister von Zedlitz, dem die in Fluss gekommenen Zustände selbst überall Gelegenheit zu ersprießlicher Hilfe darboten.


Die Saat Franckes ging nun auf, man sah ein, dass die Realkenntnisse in der Schulbildung eine größere Beachtung finden müssten. Hervorragende Philologen, wie die beiden Rektoren der berühmten Leipziger Thomasschule, Gesner und Ernesti, billigten diese Forderung der Zeit. Gesner nannte es einen gemeinen Fehler der meisten Schulen, dass man in denselben nur auf diejenigen sehe, welche Gelehrte von Profession werden wollen, hingegen versäume, was im gemeinen bürgerlichen Leben bei Künsten und Professionen, in Hof- und Kriegsdiensten unentbehrlich oder doch nützlich sei. Man begann zum Besten Derer, die „unlateinisch bleiben wollten", Realklassen an den lateinischen Gymnasien zu errichten oder eigene Schulen zu gründen. Zu Letzterem gab namentlich die Francke'sche Bürgerschule den Anstoß. Hier wurde der Hallenser Theologe Semler zu ähnlichen, von der Berliner Akademie wie von der königlichen Provinzialregierung empfohlenen Versuchen angeregt, welche nach seinen Worten aus den Verbalschulen Realschulen, aus den Marterstuben Freudenstuben machen sollten. Hier empfing auch der eigentliche Begründer der Realschulen, J. Hecker, die Anregung, die zur Anlage der ersten namhaften Bürgerschule führte, als er im Jahr 1739 in Berlin Prediger geworden war und ihm Friedrich der Große ausdrücklich empfohlen hatte, sich der Jugendbildung recht anzunehmen. Auch ihre ersten Lehrer Jähns und Silberschlag, unter deren Einfluss sich trotz mancher Anfeindung das Ansehen der vom Könige und seiner Regierung unterstützten Realschule hob, waren der Hallenser Bildungsrichtung gefolgt. Der Kampf dieser Richtung mit der überkommenen Gymnasialaufgabe ist seitdem unablässig bis in unsere Tage hinein fortgesetzt und noch nicht zum genügenden Abschluss gebracht. —

Ebenso erkennbar ist, wie mittelbar durch diese von Gelehrten ausgegangene Anregung auch andere Männer erweckt wurden, sich der unteren Volksbildung anzunehmen. So erregten im Jahr 1758 die Mängel der katholischen Trivialschulen zu Sagan in Schlesien die Aufmerksamkeit des dortigen Abtes und Prälaten Felbiger. Zur Durchführung einer 1761 aufgestellten neuen Schulordnung fehlte es durchaus an tüchtigen Schullehrern. Da suchte Felbiger Hilfe bei der genannten Berliner Realschule, in welcher er trotz der Religionsdifferenz, aber freilich darum ganz im Stillen, einige katholische junge Männer zu Volksschullehrern ausbilden ließ. Der damals in Schlesien dirigierende Minister Graf G. von Schlabrendorf, der dem evangelischen Seminar zu Breslau eine jährliche Präbende von 1.250 Thlr. auszahlen ließ und außerdem 100.000 Thlr. zur Errichtung eines anderen Seminars in Schlesien testamentarisch aussetzte, schenkte auch den Bemühungen Felbigers um die Hebung des katholischen Volksschulwesens seine Teilnahme. Auf seinen Betrieb arbeitete Felbiger einen Gesetzentwurf aus, der die Grundlage des im Jahr 1765 vom Könige angeordneten „Landschulreglements für die Römisch-katholischen in Städten und Dörfern des souveränen Herzogtums Schlesien und der Herrschaft Glaz" wurde. — Gleichzeitig erwarb sich um das protestantische Volksschulwesen Preußens ein anderer Mann hohe Verdienste, Friedrich Eberhard von Rochow, Erbherr zu Reckan bei Brandenburg und Domherr zu Halberstadt. Derselbe hatte in den Schlachten des siebenjährigen Krieges rühmlichst mitgefochten, bis mehrere Verwundungen ihn zwangen den Kriegsdienst zu verlassen. Während des Winterquartiers zu Leipzig war er mit Gellert bekannt geworden, durch dessen Umgang sein wissbegieriger Geist dem Bildungsstreben der Zeit zugeführt wurde, dem zu dienen er bald in seinem Gutsleben Gelegenheit fand. Als in den Jahren 1771 und 1772 Teuerung und Epidemien das Landvolk seiner Güter heimsuchte, tat Rochow sein Möglichstes zur Abhilfe. Aber auf Schritt und Tritt sah er sich gehemmt durch die Unwissenheit und den Aberglauben der Landleute. Die einfachsten Vorkehrungen zur Reinigung wurden, wenn mündlich gegeben, wieder vergessen, oder konnten, wenn schriftlich gegeben, nicht gelesen werden. Statt des Arztes, den er für sie annahm, liefen die Bauern lieber zu Quacksalbern und klugen Frauen, die sie selber bezahlen mussten. Erhaltene gute Mittel brauchten sie nicht, nahmen die verkehrtesten und starben dahin. In bitteren Gram versenkt über diese schrecklichen Folgen der Dummheit und Unwissenheit sann er darauf, was zu tun sei, um die edle Gottesgabe Vernunft aus dem Gewebe von Vorurteilen und Unsinn zu befreien, das sie umstrickt hatte. Es ward ihm klar, wie sehr man versäume, die Seelen der Landjugend zu veredeln. „Ich lebe unter Landleuten, und mich jammert des Volkes — schreibt Rochow. Neben den Mühseligkeiten ihres Standes werden sie von der schweren Last ihrer Vorurteile gedrückt. Ihre Unwissenheit in den nötigsten Kenntnissen beraubt sie der Ersetzungen, welche die für alle Stände gnädige Vorsehung Gottes auch dem ihrigen gegönnt hat. Sie wissen weder das, was sie haben, gut zu nutzen, noch das, was sie nicht haben können, froh zu entbehren. Sie sind weder mit Gott noch mit der Obrigkeit zufrieden. — Die Ursachen dieser sämtlichen, den Staat in seinem wichtigsten Teil zerstörenden Übel liegt an der vernachlässigten Erziehung der ländlichen Jugend. — Man bildet nicht ihre ganze Seele. — Außer dem Katechismus und der Heilsordnung fand ich kein Schulbuch für den Landmann und außer dem wörtlichen Inhalt dieser höchstens bloß auswendig gelernten aber nicht verstandenen Bücher keine Wissenschaft, die man dessen Kindern lehrte. Ich denke doch nicht, dass man die Seele eines Bauernkindes für ein Ding von anderer Gattung hält als die Seele des Kindes höherer Stände. Aber dann ist mir's unerklärbar, wie nach der herrschenden Lehrart aus diesen Leuten verständige Menschen und gar Christen gebildet werden sollten. — Da ich also nichts fand, was unmittelbar für den gemeinen Mann und seine Kinder mir zweckdienlich schien, so wagte ich diesen Versuch mit dem herzlichen Wunsche, dass bessere, weisere Menschenfreunde als Arbeiter an diese Ernte sich machen mögten, und dass mein Versuch bald durch Meisterstücke verdrängt werden möge." — Dieser Versuch, den Rochow gemacht hatte, bestand in der Abfassung „eines Schulbuchs für Kinder der Landleute oder zum Gebrauche in Dorfschulen", das zuerst zu Ostern 1772 erschien und in den folgenden Jahren mit erläuternden Zusätzen unter dem richtigeren Titel: „Unterricht für Lehrer an niederen und Landschulen", wiederholt herausgegeben wurde. Als Lehrbuch für die Kinder selbst, um die große Lücke zwischen Fibel und Bibel auszufüllen, verfasste Rochow seinen viel gelesenen „Kinderfreund", der in 100.000 Exemplaren für einen geringen Preis verbreitet wurde, damit er leicht in jedes Schulkindes Hände komme. — Mit solchen Mitteln und mit Hilfe eines passenden Lehrers besserte Rochow sofort tatsächlich das Landschulwesen in der Nähe seiner Güter. Zur praktischen Ausführung seiner Ideen ermunterte ihn der Minister von Zedlitz, der ihm gleich nach dem Erscheinen seiner Bücher seinen Beifall aussprach, denn „dass ein Domherr für Bauernkinder Lehrbücher schreibe, sei selbst in unserm aufgeklärten Jahrhundert eine Seltenheit". Zedlitz unterstützte die Schulanlagen Rochows, so viel er konnte, auch der König selbst bezeigte tatsächlich seine Anerkennung. Der Ruf der Reckan'schen Schule verbreitete sich so sehr, dass bald von allen Seiten Lehrer, Geistliche, Gelehrte, Fürsten dahin pilgerten, um die Schuleinrichtungen kennen zu lernen. Mehr als dies musste den menschenfreundlichen Stifter erfreuen, dass den Eltern das Schulgehen der Kinder teuer und wert ward, und dass sie oft mit Tränen im Auge dem edlen Gutsherrn für die erwiesene Wohltat dankten. Rochow hatte über die Grenzen Deutschlands hinaus den verdienten Namen eines Reformators des Landschulwesens erhalten.