Neunte Fortsetzung

Jedoch die Förderung des Wissens ist schon an sich ein schwerer Dienst, der oft den ganzen Mann in Anspruch nimmt und daher nicht allezeit den Sinn offen und die Kraft frei lässt für den Dienst, den die allgemeine Volksbildung verlangt. Mancher auch vermag überhaupt nur in engster Kraftbeschränkung Tüchtiges zu leisten, hat von Natur die Begabung zu weiterem Wirken nicht erhalten. Ein verbreitetes Laienunrecht ist es, das begrenzte Schaffen solcher Männer gering zu schätzen, weil die Bedeutung desselben für den allgemeineren Kulturfortschritt nicht ersichtlich und lebensvoll hervortritt. Diese Arbeiter gleichen oftmals dem Bergmann, der im dunkeln Schachte Edelsteine bricht, deren Glanz erst durch den von Anderen empfangenen Schliff am hellen Tageslicht hervorstrahlt. Gegenüber solchem Bohren und Graben nach den verborgenen Schätzen des Wissens ist nur die bescheidene Zuversicht am Platze, dass in jeder Wissenserweiterung ein Keim zu ungeahntem Fortschritt liegen mag, dessen Entwicklung durch unzeitiges Haschen und Fragen nach dem Nutzen nicht gehemmt werden darf. — Aber diese zeitweilig oder persönlich berechtigte Kraftbeschränkung hebt die allgemeine Wahrheit nicht auf, dass der höchste Zweck des Wissens nicht darin besteht Kenntnisse anzuhäufen, sondern darin, dieselben zum Besten des geistigen Fortschritts der Menschheit zu verwerten. Auch die Wahrheit bleibt bestehen, dass die größten Geister nicht die einseitigsten waren, dass die Edelsten unter ihnen in der eigenen Erkenntnisfreude den Sporn zur Mitteilung, so weit die Gunst der Umstände es gestattete, fühlten und somit den eitlen Selbstgenuss des Wissens zur Freude einer Pflichterfüllung im Dienste der Menschheit zu erheben strebten. Gerade sie am wenigsten sahen hochmütig die Mitteilung des Wissens über den Kreis der Fachgenossen hinaus als die sittlich und geistig leichtere Aufgabe an. Sie wussten wohl, dass hierbei dem Reize einer bequemeren Abfindung mit der Sache, einer leichteren Bestechung des Urteils zu widerstehen, eine ungewöhnliche Vorsicht und Gewissenhaftigkeit fordert. Sie fühlten, dass, wenn schon jede Arbeit im Dienste der Wahrheit zugleich eine sittliche ist, doch die sittliche Verantwortlichkeit für dieselbe wächst, je größer und weniger vorgebildet der Kreis Derer wird, welchen die Arbeit zu Gute kommen soll. Und wenn auch sicherlich Derjenige, der seine Sache am gründlichsten versteht, bei einigem Talent dieselbe auch am einfachsten Vielen wird verständlich machen können, so ist eben doch das Talent solcher Darstellung eine besondere Gabe, deren Ausübung keineswegs ohne Bewältigung ungewöhnlicher Schwierigkeiten möglich ist. Ein hochmütiges Herabsehen auf solche Leistungen entbehrt daher jeglichen Grundes; es ist das untrügliche Zeichen einer engen, von Vorurteilen befangenen Seele, der das Herz fehlt für den geistigen Fortschritt der Menschheit und deren Auge deshalb blind ist für den Werth einer ernsten Beteiligung an dem Bemühen um Hebung der Volksbildung.

Die Besorgnis vor der Halbbildung wenigstens rechtfertigt die Zurückhaltung nicht, da diese vielmehr gerade dazu beiträgt, den unberufenen Geistern freien Spielraum zur Erzeugung von Halbbildung zu lassen. Der Einwand, das Wissen lasse sich überhaupt nicht so leicht mittheilen, was mit schwerer Arbeit erforscht sei, könne auch nur mit schwerer Arbeit empfangen werden, trägt keine Spanne weit. Wir lernen jetzt alle in wenigen Stunden, was zu ergründen die Anstrengung vieler großen Geister erfordert hat. Niemand verlässt jetzt die Schule, ohne zu wissen, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und warum wir dieser Ansicht sind; aber Jahrhunderte arbeiteten an der Entdeckung dieser Wahrheit. Die meisten Wahrheiten sind schwer zu finden, aber wenn sie gefunden sind, verhältnismäßig leicht einzusehen und nicht allzu schwer mitzuteilen. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, das fest Erworbene von dem noch Unsicheren scharf zu scheiden und nur das Erste als bereit liegendes Gemeingut der Volksbildung zu verwerten, von dem Zweiten aber nur zu reden in einer Weise, die kein vermeintes Wissen erzeugen kann, vielmehr gerade das Bedürfnis weiteren Fortschrittes offen dartut. Überdies hat die Rücksichtnehme der Wissenschaft auf die Volksbildung nicht den Hauptzweck, Kenntnisse und Fertigkeiten mitzuteilen, sondern Sinn und Verständnis zu öffnen für den Wert einer lebendigen Wissenserweiterung, welche einem jeden die Kraft geben soll für das bessere begreifen der eigenen Stellung zur umgebenden Welt der Natur und Geschichte, ohne welches das Band menschlicher Gemeinschaft ein lockeres bleibt. Der wachsende Wert dieser Gemeinschaft ist es, der von Jahrhundert zu Jahrhundert die veralteten Scheidungen der Menschen nach Wissen und Bildung aufhebt oder umwandelt. Einst waren nur die Gelehrten zugleich die Gebildeten im Volk, jetzt dürfte wohl mancher Gelehrte an Bildung Nichts voraus haben vor den Ungelehrten anderer Stände. Bei der jetzigen Teilung der Arbeit steht schon jeder Gelehrte dem Wissen, das er nicht selber treibt, kaum anders gegenüber als der Gebildete überhaupt, ja mancher schlichte Handwerker wird gegenwärtig an Kenntnis der Natur, manche gebildete Frau an Kenntnis der schönen Literatur und der Kunst höchst berühmte Gelehrte überragen. Die Unterschiede der Bildung sind eben fließende geworden, und Niemand kann noch mit Fug unternehmen Grenzscheiden nach Ständen und Kenntnissen abzustecken.


Der Schaden, welcher daraus der Wissenschaft erwachsen könnte, kann nur durch den gewissenhaften Ernst ihres Betriebes selbst abgewehrt werden. Geschieht aber dies, dann gewährt ihr die lebendige Beziehung zum Leben überaus große und gewichtige Vorteile. Das früher so häufige sich Verlieren der Wissenschaft in Grillen und Schrullen, das bodenlose Verflüchtigen ins Abstruse wir dadurch erschwert, sich selbst auf das Klare und Wichtige hingeführt und dadurch in ihrem eigensten Wesen vertieft. Zugleich wird durch die vermehrte Teilnahme für die Beschaffung der sie Unterstützenden Mittel erleichtert, deren Mangel ihren Fortschritt bisher so vielfach gehemmt hat, an die Stelle der oft willkürlichen und peinlichen Gunst der Großen und Reichen tritt dann die freiere Gunst der unbekannten Menge oder der halt einer genügenden Lebensstellung, welche das durch fortgeschrittene Volksbildung aufgeklärte Gemeinwesen den Männern einräumt, welche ihr Leben dem immer noch schwer genug bleibenden Dienste der Wahrheitsforschung widmen. Eine Wissenschaft also, die in unserer zeit gegen die Volksbildung sich abschließt, unterbindet sich selbst die pulsierenden Adern ihres eigenen Lebens, und nur die Wissenschaft vermag die heilsame Saat auszustreuen, welche zum Segen der allgemeinen Volksbildung aufgehen soll.

Wird nun in Deutschland heut zu Tage diese Aufgabe der Wissenschaft in Bezug zur Volksbildung in ihrem Wert hinreichend anerkannt und werden allseitig genügende Mittel zu ihrer Lösung ergriffen?

Neuerdings hat der englische Kulturhistoriker Buckle behauptet, Deutschland tue in dieser Hinsicht nicht seine Schuldigkeit. In keiner Nation Europas bestehe ein so große Kluft zwischen den höchsten und niedrigsten Geistern wie in der deutschen. Die deutschen Gelehrten ständen an der Spitze der zivilisierten Welt, das deutsche Volk hingegen sei mehr von Aberglauben und Vorurteilen beherrscht und trotz der Regierungssorge für seine Erziehung unwissender und unfähiger sich selbst zu beherrschen als die Engländer und Franzosen. Die höchste Intelligenz des Landes hätten den allgemeinen Fortschritt der Nation so weit überholt, dass keine Symphatie zwischen beiden herrsche und es gäbe für den Augenblick kein Mittel, sie miteinander in Verbindung zu bringen. Unsere großen Schriftsteller schrieben in ihrer Gelehrtensprache für einander, nicht für ihr Land. So sei in Deutschland die Verbreitung des Wissens fehlgeschlagen.

Dass diese Auffassung falsch ist, dass die besagte ungeheure Kluft der Geister nicht mehr besteht, weiß jeder, der unser deutsches Land kennt. Und doch beruht die Hervorhebung des Auslandes in dem Vergleich Buckles auf dem allerdings vorhandenen Schein einer regeren Beziehung von Wissenschaft und Volksbildung. Die Zurückweisung der Anklage kann daher keine einfache sein.

Es ist zunächst eine hinreichend bekannte Tatsache, dass unser gesamtes deutsches Schulwesen in Rücksicht der Gewinnung eines gediegenen und vielseitigen Wissens unbedingt den Vorrang vor dem Schulwesen eines jeden anderen Landes verdient. Wir kennen sehr wohl die noch bestehenden Mängel derselben, wir verhehlen nicht, dass unsere Volksschulen noch nicht die volle freie Entwicklung gefunden haben, welche unsere Zeit mit Recht fordert, wir wissen auch, dass unsere höhere Schulbildung noch vielfach an dem geschilderten lateinischen Erbübel leidet; aber das Maß der mit Hilfe der schon angewandten Mittel erzielten Volksbildung kann uns im Vergleich mit anderen Völkern nicht gering erscheinen. Weil nun diese geordneten Wege der Volksbildung bei uns besser sind als irgendwo sonst, kann die Fortsetzung dieser Bildung in späterer Lebenszeit leichter als anderswo den ungeregelten Neigungen der Einzelnen überlassen bleiben. Weil der Kreis der Gebildeten in unserem Volke ein größerer ist, kann auch der Ton unserer Schriftsteller, die nicht bloß für Gelehrte schreiben, ein höherer bleiben.

Erst nach gebührender Veranschlagung dieser Unterschiede können wir zugeben, dass vielleicht gerade das Bewusstsein dieser besseren Vorbildung uns gegen die spätere Pflege der Volksbildung zur Zeit gleichgültiger sein lässt als vernünftig ist. Die Verbreitung des Wissens auf dem Wege der politischen und literarischen Presse wird allerdings gegenwärtig meist in äußerst ungleichmäßiger Rücksicht von Zufall und Laune regiert, der Wunsch zu unterhalten beeinträchtigt nicht selten das tiefere Bedürfnis der Volksbildung, Nach dem Prinzip, dass jedem Etwas bringt, wer Vieles bringt, herrscht in unsern Zeitblättern eine stückweise Zumessung, wie sie mit einer ernsten Belehrung schwer verträglich ist. Das Unternehmen dieser Vortragssammlung ist wesentlich mit zur Abhilfe für diesen Übelstand ins Leben gerufen, und verdient schon insofern unstreitig die lebhafteste Teilnahme. Aber dergleichen einzelne Vorträge haben nur Pionierarbeit vor sich, sie graben den Weg aber nehmen die Burg nicht ein. Sie erfüllen ihren Zweck, wenn sie im Allgemeinen für einen Gegenstand oder einen Gesichtspunkt die Aufmerksamkeit erregen, damit aber zugleich auch das Verlangen wecken nach einer ausführlicheren Belehrung. Diesem Wunsch nachkommende Schriften gibt es nun freilich auch bei uns nicht wenige, aber unter ihnen ist die Zahl der nicht nur unterhaltend geschriebenen, sondern auch wahrhaft gediegenen Schriften zur Volksbelehrung nicht eben groß. Die wichtige Arbeit der Abfassung solcher Bücher ist allzu sehr in die Hände äußerlich geschickter Büchermacher oder eifriger Parteigänger geraten. — Ganz ähnlich verhält es sich mit der für den Zweck der allgemeinen Volksbildung noch wichtigeren Belehrung durchs lebendige Wort. Auch hier stehen dem zur Anregung nützlichen Einzelvortrag bis jetzt nicht überall in genügender Weise die lehrreicheren Vortragszyklen über einen Gegenstand zur Seite, und auch hier spielen Unterhaltung und religiöser oder politischer Parteigeist eine größere Rolle, als für Tiefe und Allgemeinheit des Zweckes angemessen ist. - Diese offenbaren Übelstände haben nun allerdings ihren Grund in dem mangelhaften Verhältnis zwischen Wissenschaft und Volksbildung nach der Schulzeit.

Es fehlt in Deutschland durchaus nicht an Männern der Wissenschaft, welche Neigung und Talent haben zum ganzen Volke zu reden und fürs ganze Volk zu schreiben. Nur an dem rechten Eifer für die Gesamtaufgabe solcher Volksbelehrung fehlt es zur Zeit in diesen Kreisen, man leistet mit mehr oder weniger Bereitwilligkeit erbetene Einzeldienste, aber fühlt weniger lebhaft und klar die Pflicht und den Trieb zum zusammenhängenden Wirken in dem Sinne, wie es die großen Vorgänger des vorigen Jahrhunderts verstanden. Auch mancherlei Vorurteile hindern diese Wirksamkeit; die Männer der Wissenschaft lieben die Absonderung und scheuen gar manche Gemeinschaft, die ihnen nur nicht geistig vornehm oder harmonisch genug erscheint. Ganz ohne solche Rücksicht kann natürlich ein Mann, der etwas auf sich hält, nicht verfahren, aber die Gelehrten unserer Zeit sind vielfach allzu ängstlich oder engherzig geworden. Das beengt nicht selten nachteilig die Wege ihres Wirkens, da doch oft nur in jener Gemeinschaft zu den größeren Kreisen des Volkes zu gelangen ist. Auch darin dachten unsere Vorfahren des letztvergangenen Jahrhunderts unbegangener und freier. In dem allseitigeren und bestimmteren Erfassen aller dieser Beziehungen besteht nun zur Zeit der Vorzug des Auslandes, der unserem Lande die ungerechte Beschuldigung Buckles eintrug. Sind wir nun auch in der glücklichen Lage, diesen Mangel leichter und mit geringerem Schaden für unsere Volksbildung ertragen zu können, als das Ausland, so sollten wir darum doch nicht ablassen ihn nach Kräften zu heben. Kein besseres Mittel aber gib es dazu, als die kräftige Beseitigung der gedachten Vorurteile und die Sicherung einer höheren Wertschätzung der Aufgabe aus der Kulturgeschichte unseres Volkes.

Möge diese Schrift dazu beitragen, dieser Wahrheit in immer weiteren Kreisen Anerkennung und Bestätigung zu schaffen!