Fünfte Fortsetzung

Ohne Widerstreit war natürlich diese Fortentwicklung nicht geblieben. Den Stockgelehrten gefiel es jetzt so wenig wie früher, dass durch das Abfassen der Werke in deutscher Sprache der Kreis der Leser erweitert wurde. Die Leipziger lateinische Gelehrten-Zeitung bemerkte spitz über Mascovs deutsches Geschichtswerk: es sei so gut, dass es verdiene lateinisch geschrieben zu sein. Ein Tübinger Fakultätsgutachten vom Jahre 1725 will die schädlichen Wirkungen der Wolff'schen Philosophie zum Teil daraus ableiten, dass der Vortrag dieses Mannes durchgehends deutsch sei; denn obwohl man einen Vortrag in unserer Muttersprache je und je wohl vertragen, auch mit Nutzen anbringen könne, so fassten doch sonderlich die an das Latein gewöhnten Hörer der philosophischen Disziplinen die schwersten Lehren ungleich besser im Lateinischen als im Deutschen. Die Gegner sagten, durch solche Erleichterung und Ausbreitung des Wissens werde Oberflächlichkeit und Halbbildung erzeugt. Gottsched bekämpfte dieses verbreitete Vorurteil in der Vorrede zu seinem „Handlexikon oder kurzgefasstes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freien Künste", indem er entgegnete: „was es denn schade, wenn außer den wahren Gelehrten, die freilich ihre Wissenschaft aus ganz anderen Quellen schöpfen müssten, auch eine gute Anzahl der sogenannten Unstudierten nicht ganz unwissend sei? ob es nicht im gemeinen Leben allemal angenehmer sei, mit Leuten, die Etwas, als die gar Nichts wüssten, umzugehen, und ob nicht diese sogenannten Ungelehrten, die aber von den freien Künsten und Wissenschaften Allerlei gelernt, was zu ihrer Lebensart in Weltgeschäften und zu einem artigen und aufgeweckten Umgange nötig sei, Diejenigen wären, welche die Welt gescheidt und eine Nation gewitzt und wohlgesittet machten, nicht die Handvoll wirklicher Gelehrten?" Dichter und Praktiker machten sich lustig über Wolffs gelehrte Sucht Allen Alles aus zureichenden Gründen zu demonstrieren, spotteten über die Kunst, nach der sowohl die Bauern wie die allersubtilsten Mathematici erkennen könnten, wo sie zu Hause seien, über die Logik der schönen Wolfsianerinnen, über die Kunst des Beweises, die uns überzeuge, dass ein Student kein Rhinozeros sei, weil ein Rhinozeros ein Horn auf der Nase habe und ein Student keins. Vor Allem aber erregte die freigeistige, aufklärerische Richtung dieser Neuerer Anstoß. Der Theologe Val. Löscher beweinte in seiner seit 1701 erscheinenden theologischen Zeitschrift die Risse, die man jetzt in den Mauern Jerusalems sehen müsse. „O wie glückselig waren wir vor 20 Jahren — rief er aus — da man von solcher schändlichen Lizenz in Deutschland wenig oder nichts wusste, und mit Erstaunen anhörte, was für Unheil das ungemessene Bücherschreiben durch viel atheistische und fanatische Schriften in dem allzufreien Holland anrichtete; wir hörten mit Grausen von einem Spinoza, Acosta, Hobbes und ihren Schriften reden. Nunmehr ist es, Gott sei es geklagt! dahin gekommen, dass das holländische Samaria gegen das evangelisch-deutsche Jerusalem fromm geworden ist: denn es haben es ja einige lichtscheue Kinder der Finsternis ärger als jene gemacht. Gott bekehre den weltbekannten Politicum (Thomasium), der durch öffentliche Schriften meistenteils den Anfang dazu gemacht, und große Herren und hohe Bediente durch seine glatte Schreibart beredet hat, es müsse, wenn die Erudition bei uns, wie in Holland, steigen sollte, der Indifferentismus eingeführt werden." Darin, dass ein Gutachten der drei Fakultäten Jenas die 1715 bei einer Schatzgräberei erfolgte Bewusstlosigkeit eines Studenten und den erfolgten Tod zweier Bauern als Folge erstickender Kohlendämpfe darstellte, sogar in öffentlicher Rechtfertigung die Möglichkeit diese Wirkung auf den Teufel zurückzuführen geradezu bestritt, — in dieser Teufelsleugnung durch eine ganze Universität sah Löscher „eine offenbare Probe der tränenwürdigen Lizenz, welche unter uns eingerissen und welche, wenn man ihr nicht ernstlich wehre, endlich die vornehmsten Wohltaten Gottes verschlingen werde". —

Auf heftige Gegner stieß Thomasius, als er wider die Hexenprozesse eiferte; und doch behauptete er nur, es sei am besten, die Prozesse wider die Hexen aufzugeben, weil gar viel Beweis dazu gehöre, wenn man die Leute schädlicher Hexerei beschuldigen wolle — und doch wollte er nicht das Dasein des Teufels bezweifeln, sondern nur bestreiten, dass der Teufel Hörner, Klauen und Krallen habe, den Menschen erscheinen und mit ihnen Bündnisse und Verträge schließen könne. —


Wie mussten da erst die Strenggläubigen den Wolff'schen Geist der Aufklärung hassen, der sich nicht scheute, selbst den Glauben an die Offenbarung derartigen Bedingungen vernünftiger Prüfung zu unterwerfen, dass kaum Platz für diesen Glauben blieb. Ihrer Feindschaft gelang es denn auch Wolff für eine gute Weile aus Halle zu verdrängen. Die Geschichte dieser Verdrängung ist bezeichnend für den Geist der Zeit. Wolff hatte gewagt in einer akademischen Rede die chinesische Sittenlehre des Confutse zu rühmen, auch zu behaupten, dass die Sittenlehre unabhängig vom rechten Gottesglauben bestehen könne. Solche Lehren glaubten seine orthodoxen Kollegen, die mittlerweile auch in Halle aufgekommen waren, nicht dulden zu dürfen, von Kanzel und Katheder eiferten sie wider ihn. Bald fanden ihre Gesinnungsgenossen am Hofe auch den rechten Punkt für eine wirkungsvolle Anklage beim Könige Friedrich Wilhelm I. Wolff ward beschuldigt die Freiheit des Willens zu leugnen, eine solche Lehre wirke volksverderblich. In der Umgebung des Königs wurde davon die passende Nutzanwendung gemacht: „wenn also einige seiner langen Grenadiere desertierten, so hätte es das Fatum so haben wollen und er täte Unrecht sie zu bestrafen, weil sie dem Fatum nicht widerstehen könnten". Eine so verhängnisvolle Lehre durfte selbstredend nicht geduldet werden. Wolff wurde durch Kabinettsorder vom Jahre 1723 seiner Professur entsetzt und bedeutet: „die sämtlichen königlichen Lande binnen 48 Stunden bei Strafe des Stranges zu räumen". Der bekannte Philosoph fand einstweilen eine engere Sphäre zum Wirken an der Universität Marburg; die aufgeworfene Streitfrage aber wurde, unterstützt durch das Ansehen des Märtyrertums zum Gegenstande der eifrigsten Erörterungen an deutschen und außerdeutschen Universitäten. Durch diese Ausbreitung der Teilnahme trug nun die Streitfrage vielleicht mehr zur Erweckung freien Nachdenkens bei, als es die stillere Fortsetzung der Hallenser Kathederlehre Wolffs vermocht hätte. — Unter derartigen Zuständen des öffentlichen Lebens die Wissenschaft zu treiben, so dass sie in Mitten des lebendigen Lebensbedürfnisses stand, war keine leichte Sache. Dazu bedurfte es zunächst einer freieren Gestaltung des öffentlichen Lebens, wie sie in der Mitte des Jahrhunderts unter Friedrich dem Großen begann.