Erste Fortsetzung

Es gab in Deutschland eine Zeit, in welcher Bildung und Gelehrsamkeit nur auf den Lehrstühlen der Universitäten und in den Klosterzellen einiger geistlichen Orden gepflegt wurden. Die hier gehegte Wissenschaft erhob sich nicht über Kirchenlehre, Kirchenrecht und unlebendiges Forschen in der Weisheit der alten Welt. Als dann nach der von Italien ausgehenden Wiederbelebung der klassischen Studien auch in Deutschland Geister aufstanden, welche zeigten, dass es eine freiere und edlere Art der Forschung gab, dass die Weisheit nicht an Katheder und Kutte haftete, blieben doch Fürst und Volk mit wenigen Ausnahmen lange Zeit dieser gelehrten humanistischen Bildung feind und fremd. Nur mit Mühe gewannen die Neuerungen Raum auf den hohen Schulen. Der gelehrte Abschluss von der Menge entsprach übrigens der Neigung dieser Humanisten selbst. Für das ungebildete Volk — meinten sie — tauge ihr neues Wissen nicht und in Betreff der Religion sei fromme Täuschung zum allgemeinen Besten unentbehrlich. Sie wollten daher lieber mit ihren neuen Studien und freieren Ansichten sich langsam als Gäste einschmeicheln, denn gewaltsam als Feinde einbrechen, wollten lieber einen Teil der Wahrheit dahinten lassen, als durch Behauptung der ganzen den Frieden stören, von dessen Störung sie Nachteil für die Ruhe ihrer Studien fürchteten. Erst durch Gegnerschaft und Beschränkung ihrer Freiheit wurden in einzelnen Fallen diese Gelehrten zum Wirken auf das Volk gereizt und gedrängt. Widerstrebend mussten sie sehen, dass unter vier Augen der gewünschte Fortschritt nicht zu bewirken war. Ein politisch-kirchlicher Kampf wurde nötig, der nicht im engen Kreise der gelehrten Familiengemeinde ausgefochten werden konnte, der zur Appellation an das ganze Volk führen musste. Das erkannte Luther, der weniger gelehrt als die Humanisten, aber kühner als sie alle war. Martin Luther fühlte, dass er die Geister des Volks packen müsse, wenn das schwere Joch der geistlichen Herrschaft abgeworfen werden sollte. Darum redete er zum Volk in der Sprache des Volks mit Worten leidenschaftlicher Empfindung, nicht bloß mit Worten scharfen Verstandes. Auch suchte er sofort den rechten Weg zur Besserung zu öffnen durch sein Wirken für eine tüchtigere freiere Volksbildung. In seiner Schrift „an die Ratsherren aller Städte Deutschlands, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen" vom Jahre 1524, bekämpfte Luther die aufgekommene Volksmeinung, dass man wohl Schulen haben müsse, dass es aber nichts nütze, lateinische, griechische und hebräische Zungen und andere freie Künste zu lehren, dass es vielmehr genüge, deutsch die Bibel und Gottes Wort zu lehren. „Selbst wenn man der Schulen und Sprachen gar nicht bedürfte um der Schrift und Gottes willen, so wäre doch allein diese Ursache genügsam, die allerbesten Schulen, beides für Knaben und Mägdlein in allen Orten aufzurichten, dass die Welt, auch ihren weltlichen Stand äußerlich zu halten, doch bedarf feiner geschickter Männer und Frauen, dass die Männer wohl regieren könnten Land und Leute, die Frauen wohl ziehen und halten könnten Haus, Kinder und Gesinde," Kraftvoll ruft er in dem „Sermon, dass man die Kinder zur Schule halten solle" dem Hörer zu: „Kehre dich nichts daran, dass jetzt der gemeine Geizwanst die Kunst so hoch verachtet, und sprechen: Ha, wenn mein Sohn deutsch schreiben, lesen und rechnen kann, so kann er genug, ich will ihn zum Kaufmann tun. Sie sollen in Kürze so kürre werden, dass sie einen Gelehrten gern aus der Erde zehn Ellen tief mit den Fingern grüben; denn der Kaufmann soll mir nicht lange Kaufmann sein, wo die Predigt und das Recht fallen." — Bei Klage und Vermahnung blieb er nicht stehen, er bot auch Stoff zum Werke des Fortschritts durch seine Bibelübersetzung, durch seine deutschen Katechismen und durch Erweckung des deutschen Kirchenliedes. Erst dadurch gewannen die Volksschulen dem bisherigen Stande der Dinge gegenüber einen angemessenen Lehrstoff. Nun wurde es, wie Fichte sagte, der Mühe wert, die Buchstaben zu kennen, deutsch lesen zu lernen.

Die Reformatoren erkannten in der Bildung der Jugend des Volkes eine Sicherung für die Zukunft ihrer Sache. Daher weckten und förderten sie überall den Eifer für Gründung oder für Verbesserung der Schulen. Um die Landeskinder nicht zu nötigen ihre Weisheit aus Italien und Frankreich zu holen, hatten vordem Kaiser und Fürsten sich getrieben gefühlt, deutsche Universitäten zu stiften, nun mussten die protestantischen Fürsten eigene Universitäten in ihrem Lande gründen oder die bestehenden ändern, wenn ihre Landeskinder nicht auf rein katholischen Universitäten ihre Bildung sollten suchen müssen. Humanismus und Reformation im Bunde bewirkten eine Umgestaltung in Lehre und Wissen, wie sie überall dringend Not tat. „Er erachte — sagte Luther, dass kein päpstlicher noch kaiserlicher Werk mögte geschehen, denn gute Universitäten." Was Luther forderte, dafür suchte an den hohen Schulen namentlich Melanchthon mit seinem tieferen Wissen durch Lehre und Lehrbücher zu wirken. Es ist leicht an Beispielen zu zeigen, wie notwendig eine solche Vertiefung und Erweiterung der Universitätsbildung damals war. Mit geringer Hoffnung auf Erfolg sagt Philipp Melanchthon einmal in der Ankündigung unentgeltlicher Vorlesungen über den Homer: „Wenn es heißt, Homer habe bei Lebzeiten gebettelt, so widerfäht ihm dies noch jetzt, da er todt ist. Denn der trefflichste Dichter irrt herum und bittet: man möge ihn doch hören." — Als er ein ander Mal den Beginn einer Vorlesung über Sophokles Antigone ankündigt, schreibt er: „Ich würde hier eine Ermahnung hinzufügen, glaubte ich, es fruchte etwas bei der entsetzlichen Rohheit der Gemüter." — Wegen seiner Empfehlung des mathematischen Studiums wurde Melanchthon vielfach angefeindet, und doch musste ein Wittenberger Professor der Mathematik damals über die vier Specis lesen und die Studenten noch obendrein bitten, sich durch die Schwierigkeit der Sache nicht abschrecken zu lassen. — Natur- und Arzneikunde sollten wesentlich aus den Schriften der Alten geschöpft werden; dass man mehr die griechischen Autoren zu Rate ziehen wollte, galt schon als Fortschritt. Aus erster Quelle zu schöpfen, die Natur selbst zu befragen, verstand man noch nicht. Wie tief der Stand des damaligen Naturwissens war, zeigt nichts deutlicher als der verbreitete Aberglaube. Selbst Melanchthon glaubte an die Astrologie so fest, dass er einen Ruf nach Dänemark und England ausschlug, weil ihm als Kind ein Mathematiker die Nativität gestellt hatte, dass Nordsee und Ostsee ihm Gefahr bringen würden. Der Tübinger Professor der Mathematik und Astronomie, Johannes Stöffler verkündete auf das Jahr 1524 eine allgemeine Sündflut, weil dann Saturn, Jupiter und Mars zusammenträfen. Der berühmte Mann fand überall Glauben, eine allgemeine Angst entstand. Der Präsident Auriol in Toulouse ließ für sich und seine Familie zur Rettung eine große Arche bauen und ein Wittenberger Bürgermeister flüchtete sich an dem Schreckenstage mit einem Viertel Gebräu Bier auf den obersten Boden seines Hauses, um dem Wasserschwall in tröstlichem Biergenuss wenigstens so lange wie möglich sich zu entziehen. — Stand es so mit dem Naturwissen der Zeit, dann begreift man wohl, dass Kopernikus sagen konnte: „Was dem Volke gefällt, verstehe ich nicht, was ich verstehe, gefällt ihm nicht. Wir sind geschiedene Leute." Schon im ersten Dezennium des sechszehnten Jahrhunderts war dem Kopernikus die neue Idee des Weltsystems aufgegangen und rastlos hatte er seitdem an ihrer Gestaltung gearbeitet, aber die Scheu vor dem Spott gerade seiner gelehrten Zeitgenossen hielt ihn vierzig Jahre lang zurück die gefundene Wahrheit öffentlich darzulegen. Erst in seinem Sterbejahre 1543 gelang es dem unermüdlichen Drängen einiger geistlichen Freunde, ihn zur Herausgabe seines Werkes über die Bewegungen der Gestirne zu bewegen. Dabei konnte doch Kopernikus diesen Studien ungehindert nachgehen, da ihm der Besitz eines Kanonikates am Domstift zu Frauenburg äußere Lebenssicherung und innere Arbeitsmuße gönnte. Wer aber wie Kepler angewiesen war von diesem seinem Wissen zu leben, der musste sich den törichten Ansprüchen der Zeitgenossen fügen. „Man hält es für Amtspflicht des Mathematikers, Jahres-Prognostika zu schreiben", so beginnt Kepler eine Schrift über die gewisseren Grundlagen der Astrologie. Kaiser und Stände verlangten von dem großen Manne Sterndeuterei, die er offen verwarf. Um Unterstützung zu finden, musste die Naturkunde im Gewande des Aberglaubens erscheinen; ihre Kenner mussten verstehen in den Sternen zu lesen, die Zeichen der Hände zu deuten, mussten das Lebenselixier besitzen oder mit dem Stein der Weisen jedes Metall wissen in Gold zu verwandeln. Und doch, wer alles Dies zu können versprach, musst gefasst darauf sein, als Zauberer verketzert oder als Charlatan verfolgt zu werden. — Bei solchem Stande der Volksbildung konnten die einzelnen freieren Köpfe nur mit Scheu vorwärts dringen. Die Reformatoren hatten zwar die Notwendigkeit des Fortschritts erkannt, auch den freieren Trieb des Forschens geweckt, so dass auf dem von ihnen befreiten Boden die Ideen erwuchsen, die wie keine anderen die Weltanschauung der alten Zeit umgestalten sollten, aber die Volksbildung war noch unfähig sie aufzunehmen. Selbst die Männer der Wissenschaft schenkten ihnen nur langsam Gehör; sie hatten vor der Hand noch vollauf mit der religiösen Zeitfrage zu tun. So kam es denn leider bald dahin, dass der Aufschwung des neuen Forschens hinter das einseitige Vordrängen theologisch-dogmatischer Zänkereien wieder zurücktrat. Schon der alternde Melanchthon klagte schmerzlich: „Einst erfüllten die aus der Verbannung zurückgekehrten Wissenschaften alle Geister, aber jetzt ist die Flamme verlöscht, die Gelehrsamkeit wird verachtet, die Jugend verkommt in Trägheit und Eitelkeit, man gefällt sich nur in müßigem endlosem Streiten." Das Verdienst der deutschen Universitäten um die Volksbildung blieb durch diese Pest theologischen Gezänkes leider noch auf eine lange Zeit geschmälert.
Abb. 092 Luther, Martin (1483-1546) theologischer Urheber der Reformation

Abb. 092 Luther, Martin (1483-1546) theologischer Urheber der Reformation

Melanchthon, Philipp (1497-1560) Philologe, Philosoph, Humanist, Theologe

Melanchthon, Philipp (1497-1560) Philologe, Philosoph, Humanist, Theologe

Homer (etwa 1200 v. Chr.) gilt als erster Dichter des Abendlandes

Homer (etwa 1200 v. Chr.) gilt als erster Dichter des Abendlandes

Stöffler, Johannes (1452-1531) Astronom

Stöffler, Johannes (1452-1531) Astronom

Kepler, Johann (1571-1630) Johannes Kepler war ein deutscher Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom, Astrologe, Optiker und evangelischer Theologe. Johannes Kepler entdeckte die Gesetze der Planetenbewegung.

Kepler, Johann (1571-1630) Johannes Kepler war ein deutscher Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom, Astrologe, Optiker und evangelischer Theologe. Johannes Kepler entdeckte die Gesetze der Planetenbewegung.

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