Achte Fortsetzung

Treffend spottet Möser über das frühe Durchfliegen aller Wissenschaften mit Hilfe der so beliebt gewordenen Enzyklopädien, welche die Kinder schon auf ihren Rollwagen führen. „Was kommt aber bei diesem unserm spielenden Lernen heraus? Süßes Gewächse, leichte Phantasien und ein leerer Dunst. Der Trieb zum Nützlichen, fürs Leben Brauchbaren verdrängte in der Tat zu sehr allen idealen Anspruch einer allgemeineren Bildung, über der Bildung zum Beruf wurde die Bildung zum Menschen vernachlässigt. So war der Realismus viel zu weit gegangen, wenn in der Manufakturklasse der Berliner Realschule Lederhandel gelehrt wurde, bei dem neunzig Sorten Leder vorgezeigt werden konnten. Es war höchst beschränkt geurteilt, wenn der gute Campe keinen Anstand nahm, das Verdienst des Erfinders des Spinnrades weit über das Verdienst des Dichters Homer zu stellen, dieses Erziehers zum Guten und Schönen für ganze Volker. Dem gegenüber haben Herder und die im Geiste Gesners und Ernestis fortschreitenden Schulrektoren der Zeit mit Nachdruck wieder an die Aufgabe der allgemeinen Menschenbildung erinnert und durch geistvollere Behandlung den Wert der humanistischen Studien wieder gehoben, ohne vor den gerechten übrigen Bildungsansprüchen der Zeit die Augen zu verschließen. Die allseitig genügendere Ausgleichung dieser Ansprüche ist seitdem das höhere Ziel unserer Volksbildung geworden.

Alle diese in den verschiedenen Schichten des Volkes erhobenen Bildungsansprüche nun trugen wesentlich dazu bei, die entsprechenden Wissenschaften selbst vorwärts zu treiben, an denen wiederum jenes vielfach ungestüme und abirrende Drängen allein festen Rückhalt finden konnte. So verstärkte das verschiedenartige Dilettantieren und Experimentieren auf dem Gebiet der Erziehungskunst die Notwendigkeit, den Mechanismus derselben, wie Kant sagte, in Wissenschaft zu verwandeln. Erst seitdem hat diese Umwandlung begonnen, Der größere Trieb zur Kenntnis der realen Welt und ihrer Geschichte führt kräftiger als zuvor die klassische Philologie von der Wort- zur Sacherklärung, machte die Sprachkunde zur lebendigen Altertumswissenschaft, setzte an die Stelle der Altertumskrämer nach Lessings Ausdruck Altertumskundige. Es war eine zweite, mit noch besseren Mitteln unterstützte Wiederbelebung des klassischen Altertums, weniger einseitig als die erste, weil sie die gleichzeitige Erhebung des übrigen Wissens nicht hinderte. Mit Hilfe besseren Naturwissens hoffte man das Volk vom Aberglauben des Mittelalters zu befreien und über das praktisch Nützliche aufzuklären; von diesem Bedürfnis; getragen erhoben sich, dem Aufschwünge dieser Studien im Ausland folgend, namentlich seit der Mitte des Jahrhunderts die Naturstudien in immer großartigerem und freierem nicht mehr vom Nutzen allein bestimmtem Geiste. Im Bunde damit wurde auch mehr und mehr die Wahrheit von Leibnitz' Ausspruch erkannt, dass die Staatswirtschaft einer der wichtigsten Teile der Staatswissenschaften ist. Auch diese selbst, so wie die historischen Studien nahmen einen gedeihlichen Aufschwung, seitdem die an Kraft und Umfang gewachsene Aufklärung die Fesseln der kirchlichen Abhängigkeit mehr und mehr gebrochen hatte. Der Kampf zwischen Aufklärung, Herzensglaube und Buchstabenglaube war freilich nicht abgetan, aber er führte Theologie und Philosophie selbst auf tiefere Wege. Der fromme Glaube suchte den Einklang mit dem Wissen, namhafte Theologen versuchten die Überlieferung der Bibel und der Kirche nach dem Geiste anstatt nach dem toten Buchstaben zu verstehen. Lessing gab diesem Streben einen allgemeineren Ausdruck. In der Philosophie zog Kant mit fester Hand die Grenzen zwischen Wissen und Glauben und gab dem natürlichen Sittenglauben der Aufklärung einen tieferen Rückhalt wider Unglauben und Zweifel. Kurz überall wird uns offenbar, in wie lebendiger Wechselbeziehung zu den Bedürfnissen der Volksbildung sich die Wissenschaften damals selber vertieften.


Damals unterhielten auch die Männer der Wissenschaft, so weit sie es vermochten, sich selber den Sinn für den Wert dieser Beziehungen offen und handelten darnach. Schon Wolff hatte es für seine Pflicht gehalten in Zeitblättern das Volk über vorkommende Natur- und Zeitereignisse aufzuklären. Kant rühmte das Betreten dieser ungelehrten Bildungswege in England und folgte dem Beispiel, wo immer eine passende Gelegenheit sich darbot. Bald war es die allgemeine Erregung der Gemüter durch das Lissaboner Erdbeben, bald der durch Forster erregte Streit über die Menschenrassen, dann wieder die Entdeckung des Blitzableiters oder Swedenborgs vielbesprochene Träumereien, was ihm erwünschten Anlass zur angemessenen Volksbelehrung gab. Ein Mann wie der Göttinger Mathematiker Kästner verschmähte selbst nicht in einem Gedichte über den Kometen zu dieser Aufklärung beizutragen. Sein Kollege Lichtenberg, der zwar bemerkte, dass populär oft nur derjenige Vortrag hieß, durch den die Menge in den Stand gesetzt ward von Etwas zu sprechen ohne es zu verstehen, war doch ein ebenso erklärter Gegner der abgeschlossenen registerartigen Gelehrsamkeit und nannte Wahrheits-Monopole, einem einzelnen Stande angedichtet, Injurien für die Menschheit. Diese Überzeugung von dem Anrecht Aller auf Wahrheit verteidigte Lessing, als man von ihm verlangte, er hätte, um den Glauben des gemeinen Mannes nicht zu stören, seine theologischen Streitschriften in lateinischer Sprache schreiben sollen. Doch die Art, wie er halb scherzend, halb ernsthaft die aus jenem Verlangen sich ergebenden Absurditäten bespricht, indem er daran erinnert, dass durch das Lateinschreiben die Gefahr der Schriften für das meist Latein verstehende polnische und ungarische Volk vermehrt werde, dass diese Sitte nur durch ein bei der Religionsdifferenz in Deutschland unmöglich zu erlangendes Reichsgesetz allgemein werden könne, zeigt uns, wie verbreitet damals noch die Meinung war, welche zwischen der Bildung der Gelehrten und des Volkes eine unübersteigliche Kluft zu erhalten wünschte. Kant andererseits rechtfertigte einmal seine Forderung unbedingter Lehr- und Schreibfreiheit für die Gelehrten der philosophischen Fakultät damit, dass das Volk praktischer Weise von den Schriften dieser Herren keine Notiz nähme und wenn dies, sich doch bescheide, dass vernünfteln nicht seine Sache sei. Darin offenbaren sich nur Rücksichten auf noch zurückgebliebene Ansichten der Zeit, denn diese Männer wussten wohl, dass die Wahrheit den Menschen nicht mehr ständeweise zugemessen werden konnte. Kant, der sein Zeitalter nicht das aufgeklärte, sondern das der Aufklärung nennen wollte, gab diesem allgemeinen Streben den Wahlspruch: Wage weise zu sein! — Zu der Kühnheit des Selbstdenkens wollte er selbst durch die Ideen seiner Philosophie beitragen; und wenn er auch wohl wusste, dass Metaphysik zu studieren nicht jedermanns Sache sein konnte, so versuchte er doch selbst, diese Ideen dem allgemeinen Verständnis so zugänglich wie irgend möglich zu machen, dankte auch den Schülern und Anhängern, die ihn an Talent zur Popularisierung zu übertreffen schienen.

Dieses kräftige Streben der damaligen Wissenschaft nach Beziehung zum Leben wurde vor Allem dadurch gestützt, dass die Meister und Gehilfen der schönen Literatur sich demselben anschlossen. Wie zur Zeit der Humanisten sollte die Gelehrsamkeit — nach Schillers Worten — einen Bund mit den Musen und Grazien schließen, um den Weg zum Herzen zu finden und den Namen einer Menschenbildnerin zu verdienen. „Aus den Mysterien der Wissenschaft sollte der Geschmack die Erkenntnis unter den offenen Himmel des Gemeinsinns herausführen und das Eigentum der Schulen in ein Eigentum der ganzen menschlichen Gesellschaft verwandeln." Unstreitig hat der Bildungsaufschwung unseres Volkes durch diesen hohen Bund damals eine ungewöhnliche Kraft gewonnen, nur fehlte das reale Gegengewicht eines gefunden historischen Lebens im Staate. Die kräftige Erhebung des jungen preußischen Staates unter Friedrich hatte wohl in ganz Deutschland hervorragende Geister mit Hoffnungen erfüllt, aber um so drückender musste die Misere des verfallenden Reiches empfunden werden. Zum Troste flüchteten die besseren Seelen zu den Idealen des Wissens und der Kunst oder einer so unwirklichen Freiheit, wie sie die französische Revolution zu verwirklichen versprach. Der alte Dualismus, der Gott und Welt, Himmel und Erde entzweite, fand neue Nahrung an diesem Idealismus und Arndt hatte wohl so Unrecht nicht, wenn er diesem Zwiespalt eine wesentliche Schuld an dem hereingebrochenen Unheil der Fremdherrschaft zuschrieb. Große Begebenheiten verlangte J. Möser zur Besserung unseres Volksgeistes. Das gegenwärtige Jahrhundert hat uns dieselben gebracht in Schmach und Erhebung. Seitdem ist es das Losungswort der Zeit geworden, die überkommenen Ideale der Volksbildung unter sich und mit den realen Ansprüchen des öffentlichen Lebens in immer weiteren Kreisen zum Einklang zu bringen.