Versunkene Städte (Vinetamotiv)

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 8. 1930
Autor: Prof. Dr. Richard Hennig, Erscheinungsjahr: 1930

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Vineta, Sturmflut, versunkene Stadt, Klima, Umwelt, Natur, Wasser
Das Vinetamotiv von der im Wasser versunkenen Stadt ist weit über die Erde verbreitet. Nicht nur von Orten an der Meeresküste berichtet die Sage, dass sie auf den Grund der Wellen herabgesunken seien, meist zur Strafe für Übermut der Bewohner, sondern auch von vielen Binnenseen, zumal in deutschen Landen, wird erzählt, dass an ihrer Stelle eine Ortschaft, ein Schloss, ein Kloster und so weiter gestanden habe, die eines Tages plötzlich versunken seien.

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In den meisten Fällen liegen derartigen Erzählungen reine Fabeln zugrunde, doch sind ab und zu in der Überlieferung auch historische Kerne nachweisbar, wenngleich die nachprüfbare Geschichte die Dinge meist weniger dramatisch erscheinen lässt als die dichterisch ausgestaltete Sage. Soweit Binnenseen nachgesagt wird, dass auf ihrem Grunde einst blühende menschliche Ansiedlungen ruhten — zum Beispiel wird in der Mark Brandenburg derartiges vom Scharmützelsee bei Buckow, vom Werbellinsee bei Joachimstal und andern erzählt —, haben wir es ziemlich restlos mit reinen Sagen ohne geschichtlichen Anhaltspunkt zu tun. Vereinzelt kommt zwar auf schlammigem Gelände ein Abrutschen menschlicher Wohnungen durch Überlastung von Bodenteilen vor. Bekannt wurde durch solche Vorkommnisse vor allem das schweizerische Städtchen Zug am gleichnamigen See. Hier sind noch vor vierzig Jahren, am 5. Juli 1887, 20 Gebäude und eine Bodenfläche von 9.000 Kubikmeter plötzlich im See verschwunden, wobei 11 Menschen ums Leben kamen. Eine noch größere Katastrophe ereignete sich ebendort am 4. März 1435, bei der 26 Häuser vernichtet und 60 Menschen getötet wurden. Doch derartige Geschehnisse sind nicht nur außerordentlich selten, sondern auch stets von verhältnismäßig kleinem Umfang, und ein geschichtlich nachweisbares Ereignis, dass auf solche Weise ein ganzer Ort den Untergang gefunden habe, ist nicht bekannt. Andere Ursachen, wie Erdbeben, Vulkanausbrüche (Pompeji, St. Pierre auf Martinique), Bergstürze (Goldau am Rigi), Feuersbrünste, Wassermangel und vor allem kriegerische Ereignisse waren viel öfters der Anlass zum plötzlichen Untergang ganzer Orte und Städte.

Häufiger ist natürlich ein Zugrundegehen von Meeresstädten durch entfesselte Fluten zu verzeichnen. Aber auch hier ist in der Regel die Wirklichkeit nicht so grausig, wie es die Sage hinzustellen beliebt. Wenn Liliencron in seiner großartigen Ballade den Untergang der friesischen Stadt Rungholt besingt: „Ein einziger Schrei — die Stadt ist versunken, und Hunderttausende sind ertrunken“, so weiß die Wirklichkeit von derartigen Riesenkatastrophen nichts. Wohl sind gerade an den flachen Küsten der von Sturmfluten besonders oft und schwer heimgesuchten Nordsee zahllose Orte im Laufe der Jahrhunderte verschlungen worden, auf dem Grunde der weiten Wasserflächen der Zuidersee, des Dollarts, des Jadebusens, im Bereich der Halligen und anderswo ruhen Trümmer von vielen Dutzenden von Dörfchen, Kirchspielen und so weiter, die in den verschiedenen großen „Manntränken“, vornehmlich des dreizehnten bis sechzehnten Jahrhunderts, ihren Untergang gefunden haben, aber richtige Städte sind nicht darunter. Denn größere Stadtgemeinden werden kaum im gefährdeten Gelände angelegt und können sich auch viel leichter durch starke Deichanlagen gegen das schwerste Unheil schützen. Wohl können sie, genau wie an Flüssen liegende Städte des Binnenlandes, in Überschwemmungen vorübergehend schweren Schaden leiden — Städte wie Hamburg, Amsterdam, Rotterdam und viele andere können ein Lied davon singen —, aber eine dauernde Überflutung ist bei ihnen nicht möglich, und wenn das Wetter sich bessert, weicht auch das Wasser aus der Stadt zurück.

Eine völlige oder fast völlige Zerstörung ganzer Städte kommt nur bei schweren Erdbebenfluten vor; sie sind an Furchtbarkeit den gewaltigsten Sturmfluten bedeutend überlegen, aber an den Küsten der deutschen Randmeere treten sie nicht auf. Bei dem berühmten Ausbruch des Krakatauvulkans in der Sundastraße am 27. August 1883 wurden in der heranbrausenden Riesenflutwelle die Städte Bantam, Anjer, Merak und andere vollkommen vernichtet. Auch Lissabon wurde in dem großen Erdbeben vom
1. November 1755 durch die Erdbebenflut fast schwerer als durch das Erdbeben selbst verwüstet. Eine ganz besonders furchtbare Erdbebenflut im östlichen Mittelmeerbecken, die zahlreiche dortige Seestädte aufs schrecklichste zerstörte, ist von zahlreichen Chroniken ferner für den 21. Juli 365 nach Christo bezeugt. Aber bei allen derartigen Naturkatastrophen haben wir es doch nie mit einem eigentlichen Vineta-Schicksal zu tun. Wenn solche Städte durch Erdbeben- oder Sturmfluten zerstört oder schwer heimgesucht wurden, so zieht sich das Meer wieder in seine Grenzen zurück, und neues Leben kann aus den Ruinen sprießen, um nun vielleicht für Jahrhunderte und selbst Jahrtausende ein ähnliches Schicksal nicht wieder zu erfahren. Ein wirkliches Versinken findet nicht statt.

In der Tat zeigt uns die Geschichte, dass das Verschwinden von einst hochberühmten Seestädten, die der Sage nach im Meer versunken sind, viel seltener auf plötzliche Naturkatastrophen als auf langsam wirkende physikalische oder wirtschaftliche Einflüsse, zuweilen auch auf rein kriegerische Einwirkungen zurückzuführen ist. Die weitverbreitete Vorstellung, dass große, reiche Städte oder gar riesige Inseln, wie die sagenhafte Insel Atlantis, sozusagen von heut auf morgen versinken und mit allen Bewohnern zugrunde gehen, ist ohne weiteres in den Bereich der Fabel zu verweisen. Anscheinend war das schon oben erwähnte Rungholt im Bereich der Nordsee der größte Ort, dem Mitte Januar 1362 ein plötzlicher Untergang in einer gewaltigen Sturmflut beschieden gewesen ist. Aber auch Rungholt war nicht eine reiche Handelstadt oder gar eine von Hunderttausenden bewohnte mittelalterliche Großstadt, wozu es durch Liliencrons Dichterphantasie gemacht wurde, sondern lediglich ein großes und wohlhabendes Marschendorf auf der alten Insel Nordstrand, in dem tausend bis zweitausend Seelen gewohnt haben mögen, keinesfalls mehr. Wir sind in der Lage, diese Tatsache in neuester Zeit nachprüfen zu können, denn durch die Aufmerksamkeit eines wissenschaftlich interessierten Landmanns, des Herrn Andreas Busch in Morsumhafen, ist es am 16. Mai 1921 überraschenderweise gelungen, im Wattenmeer, westlich der kleinen Hallig Südfall, einige beachtenswerte Reste des bis dahin als spurlos verschollen angesehenen Rungholt wieder aufzufinden, in der Folge die alten Werften, den Platz der Kirche, bearbeitete Ackerstücke, eine Schleusenanlage festzustellen und auch mancherlei alte Waffen, Geräte und Stücke von Kleidungsteilen zu bergen, so dass wir uns heute von dem geheimnisvollen Rungholt ein leidlich klares Bild zu machen vermögen, aus dem das eine mit voller Sicherheit hervorgeht, dass die landläufige Sage von der versunkenen Stadt Rungholt, dem „Vineta der Nordsee“, stark übertrieben hat. Die Katastrophe der „Manntränke“ von 1362 war sicher eine der schwersten, die die friesische Küste je betroffen hat; dennoch war Rungholt nur das größte unter den hundert und mehr Dörfern und Ortschaften, die von dem gefräßigen „Wasserwolf“ verschlungen worden sind.

Was nun Vineta selbst betrifft, die berühmteste, in der ganzen Welt bekannte „versunkene Stadt“, so ist ihr tatsächliches Schicksal heute mit einiger Sicherheit festgestellt. Wenn an dieser Stelle die Beweise nicht alle erbracht werden können, so lässt sich doch in Kürze mitteilen, dass die wendische Seestadt Jumne, das zweifellose Urbild der Vinetasage, im elften Jahrhundert eine der größten und reichsten Städte Europas war. Unter dem Schutze der von dänischen Wikingern angelegten, sagenberühmten Jomsburg (zerstört 1042) emporgeblüht, war sie etwa ein halbes Jahrhundert lang die glänzende Königin der Ostsee. Sie war bestimmt nicht identisch mit dem heutigen Städtchen Wollin am Stettiner Haff, wie Virchow und andere Forscher vor einem halben Jahrhundert vermuteten, sondern lag im äußersten Nordwesten der Insel Usedom in der Mündung des Peenearms. Anscheinend wurde sie im Jahre 1028, wahrscheinlich aber etwa zwanzig Jahre später von den Dänen im Kriege bezwungen, zerstört und in der Folge nicht wieder aufgebaut. Ihre Ruinen und der ganze alte Nordwestzipfel von Usedom sind später, wahrscheinlich in der furchtbaren Allerheiligen-Ostseesturmflut im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts, vom Meere verschlungen worden. Vermutlich ruhen ihre Trümmer, von Sand bedeckt, noch heute in den flachen Gewässern zwischen dem Peenemünder Haken und der kleinen Insel Ruden, die durch Gustav Adolfs Landung am 5. Juni 1630 geschichtlich berühmt geworden ist.

Auch in diesem Falle wäre also nicht eine lebende Stadt, sondern nur ihr menschenleerer Überrest, nach Verfall aller schützenden Dämme, „in der Fluten Schoß hinabgesunken“, mehr als zweihundert Jahre nach der Zerstörung. Sonst kennt die Geschichte der Ostsee, in: Gegensatz zu der der Nordsee, keinen einzigen Fall dauernder Vernichtung eines irgendwie größeren Ortes durch Sturmfluten. Kleinste Ansiedlungen können zerstört werden, wie das Vorwerk Damerow bei Koserow in der riesigen Flut vom 13. November 1872, es können durch Wanderdünen Dörfer langsam verschüttet und ausgelöscht werden, wie es auf der Kurischen Nehrung in den letzten Jahrhunderten mehrfach geschah; ebenso können Dorfbewohner durch allmähliches Abbröckeln von Steilküsten gezwungen werden, ihren Wohnsitz aufzugeben und sich anderswo einen neuen zu suchen, wie es der Fall war bei dem verschwundenen Dorfe Hoff bei Rewahl, von dem nur noch ein Stück Ruine der alten Kirche auf die Brandung am Fuße der Steilküste herabschaut, aber große Katastrophen von „versunkenen Städten“ hat es auch in diesem Fall nirgends gegeben.

Soweit dabei nicht Erdbebenwirkungen in Frage kommen, verlieren Seestädte weit häufiger durch langsame Wandlungen der Küste ihre herrschende Stellung. Das im dreizehnten Jahrhundert blühende Stavoren am heutigen Eingang zur Zuidersee, an dessen einstigen Reichtum als Hansestadt die Sage vom Frauensand erinnert, ist durch den Einbruch der Zuidersee (1277 und 1287) und die nachfolgende Versandung seines Hafens ein unbedeutender Ort geworden. Dasselbe gilt für Kampen, Zutphen und andere Ysselstädte, die einst in der Hansezeit keine unbedeutende Rolle als Seehäfen spielten. — In Italien war Ravenna in der Gotenzeit ein wichtiger Hafen; heute ist es durch Hebung der Küste vom Meer abgerückt und nährt sich nur noch von seinen großen Erinnerungen. — In Spanien ist die älteste Seehandelsstadt Europas, Tartessus an der Guadalquivirmündung, seit über zweitausend Jahren, nachdem es von den Karthagern zerstört worden war, so spurlos verschollen, dass man seine Überreste bis heute noch nicht wiedergefunden hat. Diese sind durch Verschiebungen der Küste nicht im Meer, sondern im Grundwasser versunken und dann von den Wanderdünen überlagert worden. Von „versunkenen Städten“ zu sprechen, sind wir also in verschiedenem Sinne durchaus berechtigt. Nur muss man sich dabei stets vor Augen halten, dass ein dramatisch-plötzliches „Versinken“ einer ganzen Stadt, wie es die Sage mit ganz besonderer Vorliebe zu schildern weiß, sich niemals ereignet hat.

Versunkene Städte - Die Predigt

Versunkene Städte - Die Predigt

Versunkene Städte - Die Lage des versunkenen Hafens von Rungholt, des  Haupthafens der alten Insel Nordstrand

Versunkene Städte - Die Lage des versunkenen Hafens von Rungholt, des Haupthafens der alten Insel Nordstrand

Versunkene Städte - Die Umwandlung der Nordseeküste in historischer Zeit

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Versunkene Städte - Ein im Wattenmeer zur Ebbezeit sichtbarer Brunnen

Versunkene Städte - Ein im Wattenmeer zur Ebbezeit sichtbarer Brunnen

Versunkene Städte - Spuren einstiger, jetzt im Wattenmeer versunkener Siedlungen

Versunkene Städte - Spuren einstiger, jetzt im Wattenmeer versunkener Siedlungen

Versunkene Städte - Sturmflut auf einer Nordseehallig

Versunkene Städte - Sturmflut auf einer Nordseehallig