Bericht Casiodors. Wasserbau. Tribunat

,,Es wird Euch wenig Mühe kosten, solches bei der mäßigen Entfernung zu bewerkstelligen, denn Ihr seid geborene Schiffer und müsst den Weg des Wassers wählen, um in Eurer Heimat von Haus zu Haus kommen. Und wenn Euch auch zuweilen Stürme hindern, die hohe See zu halten, so öffnet sich Euch noch eine andere Bahn, die vollkommen sicher ist; ich meine die Straße der Flüsse, aus welcher Eure Barken, geschützt gegen Wind und Wetter, das Festland durchschneiden.“ Er schildert auch ihre Wohnsitze und das Leben in den Lagunen. ,,In diesem Gebiete, um welches Meer und Erde sich streiten, habt Ihr Euch Häuser aufgerichtet, wie die Nester von Wasservögeln, durch Faschinen und künstliche Dämme versteht Ihr Eure Wohnungen miteinander zu verbinden; den Meeressand häufet Ihr an, um die Wut der Wellen zu brechen, und der scheinbar schwache Wall trotzt der Stärke des Wassers. Fische sind die Nahrung von Euch allen, das Haus des einen sieht dem des anderen gleich, darum seid Ihr befreit von einem Übel, das anderswo die Bande der Gesellschaft lockert, vom Neide, von der Eifersucht, die aus Verschiedenheit des Standes erwachsen.“ Die von Holz erbauten Häuser waren mit Strohdächern gedeckt, wie die ältesten Kapellen und Kirchen, von denen manche in ihrer schlichten Einfachheit noch unter den Prachtbauten des fünfzehnten Jahrhunderts zu sehen waren. An den Süßwasserläufen standen Mühlen, von kräftigen Burschen bedient, die mit den Fischern an Ansehen wetteiferten. Wo das Meer in das Gelände einzudringen versuchte, da wurden Dämme hergestellt, gegen gefährliche oder verdächtige Eindringlinge waren Wachen bestellt, welche in hölzernen Türmen sich aufhielten, die auf breiten Flößen errichtet waren. Die Eigentümlichkeiten der Lagune, das Verhältnis von Fluss und Meer, Sumpf und Gerölle, das in jenen Gegenden in den mannigfachsten Formen auftritt, gab Anlass zu fortgesetzten Beobachtungen und Erfindungen und zur Entwicklung einer Wasserbaukunst, die in Verbindung mit einer sorgsam ausgebildete Seepolizei später die Tätigkeit einer der wichtigsten Verwaltungskörperschaften (Magistrato sopra le acque) in Anspruch nahm.

An der Spitze der Inselbevölkerung standen seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts die Tribunen, die im Namen der oströmischen Kaiser und ihrer Statthalter die richterliche Gewalt ausübten. Vor den arianischen Langobarden, die sich in der friaulischen Ebene ausbreiteten, floh der Patriarch von Aquileja (588) samt seinem Kapitel und einem großen Teile der Bevölkerung seiner Residenz auf die Insel Grado, die ihm durch ihre Lage an der Berührungslinie der Lagune mit dem offenen Meere nicht nur Schutz, sondern auch leichten Verkehr mit den nachbarlichen Bischofssitzen gewährte. Grado wurde dadurch nicht nur der Mittelpunkt des kirchlichen Lebens von Seevenetien, dort versammelten sich auch die Tribunen zu gemeinsamen Beratungen, von dort gingen auch die ersten Anregungen zu einer politischen Organisation aus.


Nachdem sich in Ober und Mittelitalien eine germanische Herrschaft festgesetzt hatte, neben welcher sich die byzantinische nur mit Mühe erhielt, war es den Einwohnern der venetischen Inseln, mit deren Wohlstand sich auch das Selbstbewusstsein steigerte, wesentlich erleichtert, ihre Eigenberechtigung und Selbstverwaltung zu bewahren. Jeder Angriff von der einen Seite sicherte ihnen wenigstens für einige Zeit die kräftigste Unterstützung von der anderen, das wachsen der venetischen Macht beunruhigte weder die Byzantiner noch die Langobarden oder ihre Nachfolger, die Franken, weil durch sie auch das Umsichgreifen gegnerischer Bestrebungen verhindert wurde. Eine neue Nachbarschaft erhielten die Veneter an den Kroaten, die im siebenten Jahrhundert als Kampfgenossen der Avaren an der dalmatinischen Küste erschienen und sich bald zur See ebenso beflissen in der Erwerbung fremden Gutes erwiesen, als sie es zu Lande bei ihren unwillkommenen Besuchen altrömischer Städte schon gewesen waren. Der Kampf gegen Langobarden und Kroaten erforderte die Zusammenfassung aller Kräfte des Inselvolkes, wozu die Autorität der Tribunen nicht ausreichte. Demnach muss die Erzählung von der Erwählung des Pauluccio Anafesto zum ,,Dux“ durch eine Volksversammlung in Eraclea (697) als nicht zutreffend und als eine Erfindung der venezianischnationalen Tradition erklärt werden.

Es ist das Verdienst Heinrich Kretschmayrs, im ersten Bande seiner, aus den ernstesten kritischen Untersuchungen aufgebauten Geschichte von Venedig (1905) die Unhaltbarkeit der von der späteren offiziellen Geschichtsschreibung Venedigs aufgestellten Behauptungen über die ältesten Zeiten Seevenetiens aus den byzantinischen, langobardischen und fränkischen Quellen nachgewiesen zu haben. Wir nehmen. soweit es der Rahmen dieser Monographie gestattet, die Ergebnisse seiner Forschung auf, werden aber die für das Verständnis venezianischen Lesens unentbehrliche Lokalfärbung unserer Erzählung nicht entziehen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Venedig als Weltmacht und Weltstadt