Aquileja und Grado

Eine Lebensfrage für den Bund der Inselvölker bildete die Selbständigkeit der kirchlichen Verwaltung, die in große Gefahr geriet, als die langobardischen Bischöfe ihrem Erzbischofe den Titel eines Patriarchen von Aquileja verliehen und für diesen die großen Vorrechte in Anspruch nahmen, welche Aquileja als erstes Bistum nach dem römischen genossen hatte. Aber die Päpste hatten kein Interesse daran, der Macht des langobardischen Oberhirten eine allzugroße Ausdehnung zu geben, sie stimmten daher der Ausscheidung von Seevenetien und dem istrischen Küstenlande ans dem alten Patriarchate zu und ließen beide Diözesen nebeneinander bestehen. Jede behauptete, die Rechtsnachfolgerin des alten Aquileja zu sein, auf beiden Seiten wurden Fälschungen päpstlicher Urkunden angewendet, um ihr historisches Recht zu begründen. Der Streit kam niemals zur Entscheidung, der Charakter und die Bestimmung der beiden hierarchischen Institute wurden durch die politischen Verhältnisse in Oberitalien so verschiedenartig, dass eine dauernde Vereinigung ausgeschlossen war. Aquileja blieb eine Landmacht, der Mittelpunkt deutscher Ansiedelung in Friaul, durch seine wesentlichsten Interessen auf die Verbindung mit den alpenländischen Herrschaften gewiesen. Grado wurde das geistliche Haupt des venetischen Golfs und seine hierarchische Stellung an die politische Unabhängigkeit seiner Gemeinden gebunden. Die Suffragane des Gradenser Patriarchen saßen in Eraclea, Eguilio (Jesolo), Caorle,Torcello (Abb. 6), Olivolo (Castello) und Malamocco; ihnen schlossen sich die istrischen Bischöfe an, sobald der venezianische Einfluss in Istrien vorherrschend wurde. Der Patriarch war in seinen wichtigsten Funktionen auf die Zustimmung des Dogen angewiesen, er durfte ohne dessen Einwilligung keine Synode berufen, keine Wahl auf einen erledigten Stuhl ausschreiben, ja selbst die Einsetzung der Gewählten in ihr Bistum erfolgte durch den Dogen. Diese Einrichtungen entsprachen dem byzantinischen Verwaltungssystem, dem sich der ganze Inselstaat nicht entziehen konnte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Venedig als Weltmacht und Weltstadt