Heinrich Dandolo und die Eroberung Konstantinopels

Der Markgraf von Montferrat, der im Sommer in Deutschland gewesen war, hatte sich vom Könige Philipe von Schwaben zu dieser Unternehmung bestimmen lassen. Prinz Alexios hatte dem König, seinem Schwager, die Nachricht überbracht, dass sein Vater Isaak Angelos durch dessen Bruder vom Throne gestürzt und gefangen gesetzt worden war. Philipp beabsichtigte nicht nur die Wahrung seiner verwandtschaftlichen Interessen, sondern auch einen Schlag gegen Papst Innocenz III., der den Kreuzzug als sein eigenes Werk so rasch als möglich seinem eigentlichen Zwecke zugeführt haben wollte. Dandolo war auf den Plan sofort eingegangen, da er der venezianischen Politik vollkommen entsprach. Venedig hatte zwar mit Bangen das Anwachsen der staufischen Macht unter Heinrich VI. beobachtet, von Philipp hatte es nichts zu befürchten, da dieser infolge der zwiespältigen Königswahl mit seinem Gegner, dem Felsen Otto, genug zu schaffen hatte. Dem Dogen erregte auch der Bannstrahl des Papstes kein Bedenken, er bemühte sich sogar eifrigst, die Gewissensskrupel der Franzosen, denen die Erfüllung ihres Gelübdes am Herzen lag. zu beschwichtigen.

Die Aussicht auf den großen Gewinn, den die vom Prinzen Alexios in Aussicht gestellte Zahlung von 200.000 Goldgulden versprach, sowie die Hoffnung, dass der Krieg im Heiligen Lande im Bunde mit dem wiedereingesetzten Isaak sich glücklicher als bisher gestalten werde, besiegte alle Bedenken. Das Kreuzheer überwinterte in Zara und Korfu und erschien im Juni 1203 vor den Mauern von Konstantinopel. Die Erstürmung dieser Stadt, damals der größten der Welt, gehört zu den glänzendsten Momenten der venezianischen Geschichte. Der Heldenmut des Dogen, der, im höchsten Greisenalter stehend, nicht nur der geistige Leiter des Unternehmens war, sondern durch seine persönliche Tapferkeit das wesentlichste zum Erfolge desselben beitrug, wird für alle Zeiten ein bewunderungswürdiges Beispiel patriotischer Eingebung und seltener Willensstärke bleiben. Die venezianische Flotte hatte mehr geleistet, als die stolzen Barone mit ihren Rittern und Knappen. Von den großen Schiffen (Dromoni), welche hohe Türme trugen, waren die kriegstüchtigen Patrizier mittels Brücken auf die Mauern gestiegen und hatten im wilden Handgemenge die griechischen Verteidiger zurückgetrieben. Dandolo war mit einer tapferen Schar gelandet und hatte sich an die Seite der Franzosen gestellt, um ihren Mut zu beleben. Den heroischen Taten, durch welche Isaak Angelos seinen Thron zurückerhielt, folgten mühsame und fruchtlose Verhandlungen mit den untüchtigen Mitgliedern der Komnenendynastie, deren Zusammenbruch nicht aufzuhalten war. Ihrem Sturze folgte die Errichtung des lateinischen Kaisertums, unter Balduin von Flandern (1204), nach dem Muster des Königreiches von Jerusalem. Seine Stütze blieben die Venezianer, denen außer dem Stadtteile Pera eine Reihe von wichtigen Plätzen am Bosporus, am Marmarameere, in Romania, Mazedonien und im Peloponnes samt den meisten Inseln des Archipels eingeräumt wurden.


Vom Adriatischen Meere bis zu den Küsten von Kleinasien zog sich jetzt eine ununterbrochene Kette von Seeplätzen, die der Republik unterworfen waren: Faktoreien und Magazine wurden daselbst errichtet, der gesamte Handel mit dem Orient ging durch die Hände der Venezianer, deren Kapitalskraft in ungeheuren Dimensionen stieg. Enrico Dandolo, der 1205 fern von der Heimat starb, hatte als Doge dem Titel eines Herzogs von Dalmatien und Kroatien noch den eines Despoten von Albanien und Herren eines Vierteiles des römischen Reiches zugelegt, seine Kriegsgenossen wurden Lehensfürsten mit stattlichen Besitzungen. Seine eigene Familie erwarb die Insel Andros. Negroponte erhielten die Ravano dalle Carceri, Santorino die Barozzi, Keos die Giustiniani, Lemnos die Navagero; Marco Sanudo, der die Zykladen eroberte, wurde Herzog des Archipels, die Michieli, Foscarini, Quirini erwarben ausgedehnte Ländereien in Korfu, das damals auch für kurze Zeit in den Besitz der Venezianer übergegangen war. Auf dieselbe Weise hatte man die Interessen einzelner Familien auf die dalmatinischen Inseln zu lenken gesucht; hatte den Fragipani Veglia, den Morosini Pago, den Zorzi Curzola zu Lehen gegeben. Kandia (Kreta) kauften die Venezianer dem Markgrafen von Montferrat um 1.00 Mark Silber und einen Grundbesitz in Mazedonien ab, nachdem es den Gennesern nicht gelungen war, diese für den Levantehandel so wichtige Besitzung an sich zu bringen. Aber auch die anderen Gebiete, die sich bei der Gründung des lateinischen Kaisertums aus dem Zusammenhange mit Byzanz losgemacht hatten, wie das Herzogtum Athen, das Komnenenreich Durazzo, die Insel Kephalonia und so viele kleinere wurden der Republik zinsbar, weil ihr Bestand ausschließlich von deren Schutze abhing. Die Gerichtsbarkeit über alle Venezianer, die auf dem Boden des alten griechischen Reiches wohnten, besaß der Bailo von Konstantinopel als Stellvertreter des Dogen, dem ein Großer Rat beigeordnet war. Für die venezianischen Staatsbürger galten die Gesetze ihrer Heimat, für die acht Millionen Griechen, die der Republik unterworfen waren, die unter Kaiser Balduin eingeführten „Assisen von Jerusalem“. Das Institut der venezianischen Verwaltung unter Leitung des Bailo erhielt sich auch nach dem Sturze der Lateiner unter den Paläologen und unter den Türken.

Der Anteil, den Venedig an dem lateinischen Kaisertum gewonnen hatte, war so groß, dass seine Bürger sich mit dem Gedanken beschäftigen konnten, Konstantinopel zum Sitze ihres Staatswesens zu machen. Als sich nämlich ihre einsichtsvollen Politiker der Überzeugung nicht verschließen konnten, dass das neue Kaisertum unter den flandrischen Herrschern nicht zu halten sein werde, stellte der Doge Peter Ziani den Antrag, die ganze Bevölkerung von Venedig solle mit ihrer ganzen Habe und mit allen ihren Einrichtungen an den Bosporus übersiedeln und das lateinische Kaisertum mit dem Dogat verbinden.

Nur mit zwei Stimmen Mehrheit soll die konservative Partei, die ihr Staatswesen von den heimatlichen Gewässern nicht trennen wollte, den merkwürdigen, aber begreiflichen Antrag vereitelt haben. Nicht Venedig ließ sich nach dem Orient versetzen, aber die orientalische, im besonderen die byzantinische Kultur zog nun in Venedig ein. Sowie sich der Schatz von S. Marco mit den Kunstwerken und Kostbarkeiten füllte, die Dandolo aus der riesenhaften Beute in die Vaterstadt gesendet hatte, so wurden auch die Häuser der Signori mit Werken der griechischen Kunst und des griechischen Gewerbsfleißes geschmückt, wurde der Sinn für farbenprächtige Stoffe und den Glanz der Metalle und Edelsteine durch die herrlichen Gegenstände, die in Kirchen und Wohnungen zur Schau gestellt wurden, geweckt. Aber auch die edlen Formen der Antike machten tiefen Eindruck auf die künstlerisch veranlagte Phantasie der Italiener, die Denkmäler der klassischen Griechenzeit beschäftigen den Geist ihrer Denker, welche dadurch die Anregung zu fortgesetzter Pflege wissenschaftlicher Studien erhielten. Die Venezianer waren reich geworden, sie besaßen aber auch die Eigenschaften, um vornehm werden zu können, was so wenigen anderen Eroberern gegeben war. Wenn es des Beweises bedürfte, dass die Nationen nicht gleichwertig sind, dass ihre Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit sich in sehr verschiedenen Größen darstellt und daher auch ein verschiedenes Maß verdient, so müsste ein unbefangener Blick in die Kulturgeschichte der Balkanvölker darüber vollste Klarheit bringen. Von den zahlreichen slawischen Stämmen, die sich auf dem Boden des alten oströmischen Reiches niedergelassen haben, hat nicht ein einziger das Geistes und Kunstleben der byzantinischen Griechen in sich aufzunehmen und weiterzuführen vermocht. Was hinderte diese Kroaten und Serben, Bulgaren und Bosnier, den Kampf mit dem verkommenen und widerstandsunfähigen Staate aufzunehmen, sich seiner reichen Mittel zu bemächtigen, die Kunstfertigsten der Byzantiner zu erlernen, ihre Schrift und Sprache sich eigen zu machen und sich durch sie in die Tiefen der Wissenschaft einführen zu lassend Der Weg von der Rarenta oder vom Verbas nach Konstantinopel war näher als der von Venetien, und die Völker, die ihn hätten einschlagen müssen, waren zahlreicher. Was hinderte sie, die Nachfolger der Griechen zu werden, was hielt sie jahrhundertelang auf der Stufe raubbeflissener Hirten zurück, während ihre italischen Nachbarn in derselben Zeit von Fischern und Salzsiedern kühne Seefahrer und ritterliche Krieger, Großkaufleute und Fabrikanten geworden waren; warum brachten es jene nicht weiter als zur rohesten Nachahmung von Heiligenbildern und Waffen, während diese die byzantinische Kunst in volles Eigentum übernahmen, sie ausgestalteten und veredelten, sorgsame Hüter und Förderer griechischer Weisheit und Dichtung wurden? Die Grafen von Bribir und Kuni, die Remaniden und Kotromanen hätten so gut wie die Dandolo und Morosini, Tiepolo und Foscari mit ihren Reichtümern auch Geschmack und edle Sitten erwerben, ihre Familien im Dienste der Schönheit erziehen können, wenn ihr Menschentum dem der Lagunenbewohner ebenbürtig gewesen wäre!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Venedig als Weltmacht und Weltstadt