Verschwörung gegen die Adelsverfassung
Die Wahlreform Gradenigos fand heftige Gegner, sowohl unter dem vornehmen Geburtsadel als unter jenen Plutokraten, die noch nicht den Anschluss an die herrschenden Fraktionen erreicht hatten. Das niedere Volk scheint allen Unzufriedenen angehangen zu haben, solange es sich nur um ungefährliche Demonstrationen gegen die Autorität und um Befriedigung persönlichen Hasses gehandelt hat; eine ernstliche Haltung in der Verfassungsfrage hat es nicht eingenommen und jene nicht ausdauernd unterstützt, die seine Rechte zu verteidigen versuchten. Die erste Bewegung dieser Art ging von einer Anzahl reicher Bürger aus, die in Marino Bocco oder Bocconio ihr Haupt gefunden hatten. Sie wollten den Großen Rat mit gewaffneter Hand sprengen, den Dogen töten und eine neue Regierung einsetzen. Ihre Vorbereituugen wurden jedoch in leichtsinniger Weise getroffen. Gradenigo erhielt von der Verschwörung Kenntnis und veranlasste, dass auch die Mitglieder des Rates an dem zum Losschlagen bestimmten Tage bewaffnet im Palaste erschienen. Bocconio stürmte an der Spitze von elf Genossen in den Ratssaal, während die übrigen Verschworenen auf dem Platze das Volk in Bewegung zu setzen suchten, sie wurden sofort festgenommen und in der folgenden Nacht zwischen den zwei Säulen vor dem Palaste, die den heiligen Theodorich und den Löwen des Evangelisten Markus trugen, aufgehängt (1299). Weit gefährlicher ward die Verschwörung der Quirini und Tiepolo, die zehn Jahre später ausbrach, als sich Venedig wegen Ferraras in einem heftigen Streite mit dem Papste befand. Clemens V. hatte sich der Brüder Azzos von Este, Franz und Aldobrandino, angenommen, die zugunsten seines natürlichen Sohnes Fresco und dessen Knaben Folco enterbt werden sollten; er sagte ihnen seinen lehensherrlichen Schutz zu und forderte die Republik zur Räumung der von ihnen besetzten Stadtteile und des Kastells Tebaldo auf. Ihre Weigerung beantwortete er mit dem Banne, und das führte zu Spaltungem im Großen Rate, da sich Gradenigo und sein ghibellinischer Anhang gegen den Papst entschied, während ein Teil der alten Familien den guelfischen Standpunkt der Unterordnung der städtischen Politik unter die päpstliche Leitung einnahm. An der Spitze des letzteren standen Marco Quirini und sein Schwiegersohn Bajamonte (Boëmondo) Tiepolo, ein Neffe des Jakob Tiepolo, ein äußerst beliebter, ebenso freigebiger als kühner und volkstümlicher Kavalier. Zu ihnen gesellten sich noch die hervorragendsten Persönlichkeiten der Familie Badoër, von welchen namentlich Badoëro Badoër auf der Terra ferma großen Anhang besaß. Es war schon in den Ratsversammlungen zu heftigen Szenen, auf dem Markte und in den Straßen zu Kämpfen zwischen den Edlen verschiedener Parteien gekommen, worauf denselben das Waffentragen verboten worden war. Man beriet im Hause des Quirini den Sturz des Dogen und die Abschaffung der Wahlreform, und nur der Einfluss Jakob Quirinis, eines Politikers von großer Erfahrung und Einsicht, hemmte den Ausbruch der Revolution. Als dieser aber als Gesandter nach Konstantinopel abgegangen war, entschloss man sich sofort zum Losschlagen. Der 14. Juni 1310 wurde dazu bestimmt, er war jedoch dem Unternehmen äußerst ungünstig, weil in der Nacht, während welcher sich die Verschworenen im Hause des Marco Quirini zu S. Matteo di Rialto zu sammeln hatten, ein furchtbares Unwetter losbrach, durch welches der Zusammenfluss von Leuten, die sich hatten mitreißen lassen, gehindert und vor allem die Ankunft Badoërs, der bewaffnete Freunde und Diener aus der Umgebung von Padua herbeiführen sollte, unmöglich gemacht wurde. Aus Furcht vor Entdeckung glaubten die Verschworenen, die bereits beschlossene Tat nicht länger verschieben zu dürfen, und brachen in zwei Scharen gegen S. Marco vor, Quirini mit seinen zwei Söhnen durch di Calle dei Fabbri und über den Ponte dei Dai, Tiepolo durch die Mercerie. Gradenigo wurde jedoch nicht überrascht; Marco Donato dalle Rose, dessen Familie bei der Wahlreform nicht zur Nobilität gelangt war, hatte die Rebellen, denen er sich zuerst angeschlossen, an den Dogen verraten. Schon waren bewaffnete Anhänger der Regierungspartei und die in Venedig anwesenden Soldleute der Republik auf dem Markusplatze versammelt, als zuerst Quirini heranstürmte. Ein kurzes Gefecht, Marco und sein Sohn Benedetto wurden niedergestreckt. Die anderen entflohen auf demselben Wege, auf dem sie gekommen waren. Bajamonte machte wegen des noch immer andauernden Sturmes kurze Rast bei S. Giuliano und kam zu spät nach S. Marco, um die Genossen unterstützen zu können. Nach heftigen Kampfe musste auch er weichen. Auf der Flucht wurde sein Standartenträger durch einen von einer alten Frau aus dem Fenster geschleuderten Steinmörser erschlagen, die in den Häusern zurückgebliebenen Bürger nahmen gegen ihn Partei. Es gelang ihm jedoch, zu der hölzernen Brücke zu gelangen, die über den großen Kanal zum Rialto führte, und die Brücke abzubrechen. Noch war er Herr der Rialtoinsel, wo sich seine Leute zum Widerstande rüsteten. Wäre Badoër zur rechten Zeit am Platze gewesen, so konnte man nochmals zum Angriff übergehen. Diesem hatte Gradenigo den rasch herbeigerufenen Podestà von Chioggia, Ugolino Giustiniani, mit einer starken Macht entgegengesendet, er wurde samt seinen Begleitern geschlagen, gefangen genommen und nach kurzem Prozesse hingerichtet. Tiepolo konnte nicht mit Gewalt zur Riederlegung der Waffen gezwungen werden, man unterhandelte mit ihm und gewährte ihm und den Seinen durch Beschluss des Großen Rates vom 17. Juni 1310 freien Abzug in die Verbannung nach Slavonien jenseits von Zara. Unter den Verbannten befanden sich, außer zahlreichen Mitgliedern der Familien Tiepolo, Quirini und Badoër, ein Barbaro, mehrere Barozzi, Lombardo, Longo, Trevisan und Priester aus verschiedenen Pfarren der Stadt. Sie gaben ihre Sache nicht auf, sondern verbanden sich mit den Carrara und anderen Optimaten von Padua und Rizzardo da Camino, um sich mit deren Hilfe der Vaterstadt zu bemächtigen. Auch Treviso öffnete ihnen seine Tore und neigte sich zu einem Bündnisse mit den venezianischen Rebellen. Es gelang jedoch den diplomatischen Sendlingen der durch fortgesetzte Besorgnis vor neuem Bürgerkriege zur größten Wachsamkeit genötigten Regierung von S. Marco, die gefährlichen Verbindungen zu lockern, die Anhänger der Rebellen zu zerstreuen nnd diese zur Flucht nach Dalmatien zu zwingen. Bajamonte Tiepolo spielte dort bis 1328 eine politische Rolle und bemühte sich nicht nur, Zara zum Abfall vom Bündnisse mit Venedig zu bewegen, sondern suchte auch bei den Serbenfürsten und bei den Herren von Bologna Unterstützung. Im genannten Jahre erscheint sein Name zum letztenmal in den Akten, der letzte Vorkämpfer der alten Verfassung verschwand vom Schauplatze, wahrscheinlich von der Hand eines heimlichen Schergen der Republik beseitigt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Venedig als Weltmacht und Weltstadt