Steigende Macht der Signorie

Den Grundstock aller zur Ausübung politischer Rechte berufenen Personen bildete der Große Rat, aus ihm gingen alle parlamentarischen Kommissionen, die hohen Beamten und Würdenträger hervor. Durch die seit 1172 geübte Wahl der Mitglieder des Großen Rates war keine Bevölkerungsklasse gesetzlich bevorzugt, es wurden ebenso Vornehme (Nobili), als Bürger (Cittadini) und einfache Einwohner (Popolani senza distinzione) gewählt, doch waren es unter diesen hauptsächlich die durch ihre Familienverbindungen, ihr Vermögen und ihre Leistungen ausgezeichneten Bewohner der Stadt gewesen. Es war kein aristokratisches Prinzip ausgesprochen, aber durch die Handhabung des Wahlrechtes war eine Beschränkung auf gewisse Familien entstanden, durch welche eine Scheidung der Bevölkerung in zwei Teile sich ergab, den einen, aus dem niemals Mitglieder des Großen Rates genommen wurden, den anderen, der dieses Vorrecht tatsächlich und ununterbrochen genoss. Die Zahl der Ratsmitglieder wechselte; von 317 im Jahre 1264 stieg sie 1275 auf 567, ohne sich jedoch auf dieser Höhe zu erhalten; auch die Zahl der Wähler, denen es 12 geben sollte, wurde nicht beibehalten, es wurden häufig nur drei für ein Halbjahr eingesetzt; aber die Familien, aus denen die Mitglieder genommen wurden, bildeten einen sich stetig verengenden Kreis. Die Beschränkung, dass nur vier Angehörige eines Hauses in den Rat eintreten durften, wurde längst nicht mehr beachtet. Im Maggior Consiglio des Jahres 1261 waren 27 Familien mit 242 Mitgliedern vertreten, so die Contarini mit 20, Quirini und Dandolo mit 19, Morosini mit 15, Michieli mit 12, Falier mit 11, andere mit 9, 8, 7 Mitgliedern. Dass sich dagegen die Stimme der Mehrheit des Volkes wiederholt erhob, ist nicht zu verwundern, ebensowenig aber, dass die im Besitze der Macht und des Einflusses befindlichen reichen und angesehenen Häuser die Leitung des Staates bei sich zu erhalten suchten, nicht um ihn auszubeuten, sondern um ihn vor gefährlichen Veränderungen zu bewahren. Dieselben Männer, die für die Beschränkung der Dogenmacht eintraten, nahmen für sich selbst ein besonderes Recht in Anspruch, weil sie sich eine besondere Eignung zur Verwaltung ihres Staatswesen zuschrieben. Dieses besondere Recht gesetzlich festzustellen, war das Programm der Regierungspartei, die sich daran gewöhnt hatte, ihre Reihen durch Option – denn nicht anders kann die Wahl der Ratsherren durch drei oder sechs Vertrauensmänner genannt werden – zu ergänzen. Unter dem Dogen Johann Dandolo brachten die Häupter der Quaratie 1286 zum erstenmal den Antrag ein, man solle nur solche Männer wählen, deren Väter oder Vorfahren schon dem Großen Rat angehört hätten; damals scheiterte er jedoch an dem Widerstande des Dogen. Bei seinem Tode (2. November 1289) verlangte das Volk mit stürmischem Zuruf den Jakob Tiepolo, Sohn des ehemaligen Dogen Lorenzo, zu seinem Nachfolger. Dadurch wollte es nicht nur sein altes Recht der Dogenwahl durch die Gesamtheit der Bevölkerung wieder geltend machen, sondern auch der aristokratischen Patei die Gelegenheit nehmen, einen aus ihrer Mitte an die Spitze des Staatswesens zu stellen, der geneigt und fähig war, ihre weit gehenden Pläne durchzuführen. Die Tiepolo aber gehörte zu jenen großen Famlilien, die sich auch noch über die Aristokraten stellen konnten und deshalb eine den letzteren gefährliche Volkstümlichkeit besaßen. Jakob, der sich in Krieg und Frieden als gehorsamer, tüchtiger Staatsdiener bewährt hatte, war aber nicht der Mann, kühn an die Spitze des um sein Recht ringenden Volkes zu treten. Er empfahl mit beruhigenden Worten die Dogenwahl nach der bisher festgehaltenen Gepflogenheit und ließ es geschehen, dass die Aristokratie einen ihrer besten Köpfe, einen Mann von Ausdauer und Energie, zur Förderung ihrer Zwecke mit der Stellvertretung des heiligen Markus betraute. Pietro oder Pierazzo Grandenigo, Podestà von Capodistria, setzte das berühmt gewordene Gesetz von 1297 durch, das die Herrschaft einer bevorzugten Klasse von Staatsbürgern in Venedig begründete. Die Reform des Großen Rates fiel nicht zufällig in eine Zeit großer äußerer Bedrängnis des Staates, der gerade damals in dem neuerlich entbrannten Kriege mit Genua seine ganze Kraft zusammenzufassen genötigt war. Die Aristokratie brachte dem Staate die größten Opfer, ihre Söhne standen an der Spitze der Flotten und Besatzungen, sie rüsteten aus eignen Mitteln Galeeren aus und fochten auf deren Borden und Türmen mit unvergleichlicher Tapferkeit. Sie hatte dadurch das Recht erworben, auf die Verwaltung dieses Staatswesens entscheidenden Einfluss zu nehmen, und übte es in einer Zeit aus, in welcher der Einsatz in dem politischen Spiele auf Leben und Tod mindestens ebenso groß war, als der Gewinn. Was den Charakter der Aristokratie betriff die sich damals in Venedig die Herrschaft zu sichern unternahm, muss hervorgehoben werden, dass sie nicht ausschließlich auf Rasse und Blutsverwandtschaft beruhte, sondern auf dem durch Verdienste um den Staat begründeten Ansehen alter Familien, auf erworbenem Besitze und auf dem Werte, welchen hohe geistige Kultur einer Bevölkerungsklasse zu verleihen vermag. ,,Der venezianische Adel“, sagt Monticolo, gewiss der beste moderne Kenner des italienischen Mittelasters, ,,bestand nicht aus rauen und wilden Kriegern. Wenn er auch nicht die Wissenschaften pflegte, weil sie ihm zu wenig Nutzen gewährten, so verschmähte er doch nicht, sein wirken anderen, nicht minder edlen Bemühungen zu weihen. Die Übung niederer Künste („artes sordidae“) wurde als Herabwürdigung („diminitio capistis“) angesehen und den untersten Schichten überlassen, die sich nicht völliger bürgerlicher Freiheit erfreuten, aber die edlen Künste („bonae artes“) konnten von den höchststehenden Adeligen ohne Furcht vor Verlust ihres Glanzes („disdoro“) betrieben werden. Sie pflegten Baukunst und Mosaikarbeit, erwarben sich bei ihren Handelsgeschäften ausgebreitete Sprachkenntnisse und erhielten die Tradition des römischen Rechtes, dessen Kenntnis sie aus ihrer alten Heimat mitgebracht hatten, lebendig.

Der Inhalt des Gesetzes, das Piero Grandenigo durchsetzte und das man sich irrtümlich als den Schluss des Großen Rates (Serrata die Maggior Consiglio) zu bezeichnen gewöhnt hat, strebt die Erhaltung einer gewissen Gleichartigkeit in der Zusammensetzung der Urversammlung aller zur Ausübung politischer Rechte berufenen Bürger an, indem er bestimmt, dass die Quarantia als Mitglieder des Großen Rates jene Personen auszuballotieren habe, die seit vier Jahren in demselben erschienen waren. Zwölf Stimmen genügten zur Wahl. Außerdem sollten drei Wähler andere Kandidaten bezeichnen, die noch nicht dem Großen Rate angehört hatten. Vor Jahresschluss hat der Große Rat zu entscheiden, ob das Gesetz noch serner Gültigkeit haben soll oder nicht. Die Bestätigung des Gesetzes erfolgte im September 1298 und nochmals im September 1299. Erst 1315 wurde die Anlage eines Buches beschlossen, in welchem alle verzeichnet werden mussten, die das Recht zum Eintritte in den Großen Rat besaßen, dieses wurde später (1506) das „goldene Buch“ („libro d’oro“) genannt und zu einer Matrikel des gesamten Adels ausgestaltet, welche alle rechtmäßigen Ehen und Geburten in den berechtigten Familien enthielt. Die Zahl der Eingeschriebenen betrug 1340 bereits 1212, 1437: 1300, 1490: 1670, 1510: 1671.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Venedig als Weltmacht und Weltstadt