Erste Fortsetzung

Aber so wie man bei jeder Wahrheit und jeder Tugend weder zur Rechten, noch zur Linken abweichen darf, so ist es auch also mit der Liebe zum Vaterland. Du verleugnest sie, wenn dein Auge zu weit hinausblickt, und über der Welt den eignen Herd vergisst; und sie ist nicht rein und erhaben in dir, wenn deine Stadt, deine Provinz, oder die Religionspartei, zu der du dich bekennst, der Stand, in dem du geboren wardst, oder den du später einnahmst, das Gewerbe, das du treibst, die Vorrechte und Vorteile, in deren Besitz du bist und deren Schmierung du fürchtest, deine Ansichten und Wünsche beengen und hindern. Wir haben gegen die Träume kalter Weltweisheit, schmeichelnder Sklaverei und übermütiger Tyrannei gesprochen. Wir müssen jetzt gegen Partei- und Sektengeist, gegen Krämer- und Handwerkssinn reden. Jene sind die Erfindungen unsers aufgeklärten Zeitalters, mit den Lehren aller Weltherrscher verschmolzen; dieser Geist der Spaltung und Trennung ist die alte Krankheit unsers Vaterlandes, die Ursache unsers Zurückbleibens in politischer Bedeutung und aller unsrer Not. So weit die Spuren der Geschichte gehen, finden wir dieselben Deutschen, tapfer und stark und treu und fromm, auch stolz auf gemeinschaftlichen Namen und Abkunft, und dadurch zu großen Waffentaten getrieben, aber immer getrennt und geteilt in mehrere Völkerschaften, und so gehemmt in mächtigen Unternehmungen; im Innern der Schauplatz blutiger Bürgerkriege, durch Ehrgeiz einzelner Stamme und ihrer Häupter, und durch die Bosheit und List der Gegner; im Äußeren angefochten von neidischen Fremden; jenen Pfeilen gleich, die zusammengebunden niemand zu bewegen vermochte, einzeln auch der Schwache und Kraftlose zerknickte, oder der Hand, der man die gespaltenen Finger langsam ablöste, während die geschlossene Faust den Widersacher hätte zermalmen können. Und daraus kamen die anderen Fehler und Gebrechen, aus Tugenden entstanden, denen es an einer kräftigen Leitung fehlte. Denn aus der angeborenen Liebe zur Freiheit ward Misstrauen und Empörung gegen das Oberhaupt; und aus dem Stolz auf Taten und Waffenruhm Eifersucht gegen die Blutsverwandten, die Gleiches oder Ähnliches jetzt oder früher getan hatten; aus der Frömmigkeit und hoher Ehrfurcht vor dem Heiligen Unduldsamkeit und Verfolgung; aus der Anhänglichkeit an alte Sitte und Gebräuche, Verschmähen des Besseren und bei geänderten Umständen in neuer Zeit Brauchbareren. Daher große Taten und Siege, aber keine überwiegende Hoheit über das Ausland, kurze Zeiträume ausgenommen, wo kräftige Geister walteten; daher Herrlichkeit und Ruhm in einzelnen Landschaften, und Stolz auf Namen von Völkerschaften, aber kein Gemeinsinn, kein Feuereifer, von dem einzigen deutschen Namen entzündet; daher Verehrung des Heiligen unter allen, und Zwiespalt und Erbitterung über Meinungen und Gebräuche; daher viel Wissen und der erste Rang in den Reihen der Gelehrsamkeit und der Kunst, und doch blinde Hochachtung veralteter Formen in Staats-Verfassung und -Verwaltung, so wie im Unterricht der Wissenschaften, und eitle Vorliebe zu der eignen Kaste und Sekte und Zunft durch alle Stände, von dem ersten bis zu dem niedrigsten; und so ein wunderbares Gemisch von Großem und Kleinem, von Ehrwürdigem und Lächerlichem, von Kraft und Schwache, von glänzender Erhebung und schmachvoller Erniedrigung. Ich will nicht leugnen, dass auch manche Vorzüge und schöne Früchte hervorgesprosst sind aus der Reibung und der Zwietracht des Geschiedenen und Mannigfaltigen, wie der Kampf der Elemente oft die fruchtbare Masse bildet, die das wahre Leben und Gedeihen gibt; dass die Zerstückelung größere nähere Sorge im Einzelnen, und damit glücklichere Fortschritte in manchen Fächern der Kunst und des Wissens hervorgebracht hat; dass die Ideen sich über die vielfachen Widerstrebungen durch innewohnende Kraft und Göttlichkeit glänzender erhoben, dass gleiches Schicksal mit den griechischen Staaten und gleicher Grundzug des Charakters, wenn auch im Norden anders gestaltet, uns griechischer Bildung unter den neuen Völkern am nächsten gebracht, in vielen Stücken über die Muster hinaus geführt hat. Aber der Nutzen verschwindet vor dem Schaden. Wir haben jetzt bitterer, als jemals, die Folgen, unser Fehler erfahren müssen. Niedergeworfen nach und nach, und mit Füßen getreten haben wir endlich unseren Nationalstolz durch die empörende Schmach fühlen lernen, wir haben unsere Kräfte erprobt, und unsre Triumphe, der Sieg der Einheit, haben uns die Wichtigkeit einer festen und beständigen Verbindung gelehrt. Soll dieser Augenblick ungenützt vorübergehen? wollen wir wieder aus einander scheiden, da Gott uns versammelt hat? soll das Große vergeblich geschehen, die Herrlichkeit unserer Tage nur ein strahlender Lichtschein gewesen sein, und alles das Alle, das Gemeine, das Alltägliche und Verkehrte wiederkehren, und uns neue Schmach, neue Demütigung, neue Leiden bereiten, desto schmerzlicher und beschimpfender, je größer der Sieg und der Ruhm des Besseren war?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vaterland
Norddeutschland 011 Rostock, Blick vom Bliesathsberg nach der Marienkirche

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Norddeutschland 012 Aachen, Hauptstraße in Burtscheid, Abteikirche

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Norddeutschland 013 Osnabrück, Neustadt, Johannesstraße und Johanneskirche

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Norddeutschland 015 Thorn, Jakobikirche am Neustädter Markt

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Norddeutschland 017 Greifswald, Hunnenstraße, Nikolaikirche

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Norddeutschland 018 Danzig, Frauengasse, Marienkirche

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Norddeutschland 019 Perleberg, Roland auf dem Marktplatz

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