VII. Die Umgestaltung des College (1865-1909).

Flexner, A., The American College; a criticism, New York, 1908. — Hill, George B., Harvard College, by an Oxonian, New York, 1900.

Das altmodische amerikanische College, in der Form, wie es bis 1865 bestand, war einfach, bestimmt und klar begrenzt. Es konnte beschrieben und charakterisiert werden. Es wußte, was es wollte. Von 1865 an verlor es seine Einfachheit und feste Gestalt und war sich nicht mehr klar über seinen Zweck. Durch diese Unklarheit wurde um 1890 sogar seine Existenz gefährdet. Es verlohnt sich, den Ursachen, die zu diesem Umschwung führten, nachzugehen.


Die Ursache ist erstens in der Erhöhung der Eintrittsbedingungen zu suchen. In der Zeit von 1800—1870 war man in dieser Sache nur langsam und stufenweise fortgeschritten. Die Anforderungen in Griechisch und Lateinisch waren von Zeit zu Zeit in diesem oder jenem College kaum merklich erhöht worden, ein Beispiel, dem andere Colleges dann später folgten. In derselben Weise waren von Zeit zu Zeit*) neue Unterrichtsgegenstände hinzugefügt worden; aber die gewöhnliche Liste enthielt bis zum Ende des Bürgerkrieges (1865) nur acht Gegenstände: Griechisch und Lateinisch, Arithmetik, Algebra und Geometrie, Geographie, alte Geschichte und engl. Grammatik. Algebra war zuerst 1820 in Harvard verlangt worden. Columbia folgte 1821, Yale 1847, Princeton 1848. Princeton war die erste Anstalt, die englische Grammatik verlangte, 1819. Yale folgte 1822. Planimetrie erschien erst spät: in Harvard 1844, in Yale 1856, und Geschichte, d. h. alte, noch später, nämlich in Harvard und Michigan 1847 und in Cornell 1868. Nur fünf neue Unterrichtsgegenstände waren demnach in den Jahren von 1800—1865 hinzugekommen, und keiner derselben hätte mehr als ein halbes Jahr Studium erfordert.

*) Vgl. Broom, E. C, Eine historische und kritische Diskussion über College-Eintrittsbedingungen, S. 46 ff.

Innerhalb der nächsten zehn Jahre erschienen sechs neue Gegenstände: Geschichte der Vereinigten Staaten in Michigan 1869, physische Geographie in Michigan und Harvard 1870, englischer Aufsatz in Princeton 1870, Physik (Naturwissenschaft) in Harvard 1872, englische Literatur in Harvard 1874, und eine neue Sprache (Deutsch oder Französisch) in Harvard 1875. Seit 1851 waren zuerst in Brown und Harvard, dann in Yale und Dartmouth parallele Eintrittsbedingungen gefordert, die zu einem besonderen Kursus und einem verschiedenen Grad (Ph. B. oder B. S.) führten. In Harvard hatte man für diesen Kursus eine besondere Schule, „The Lawrence Scientific School“, und in Yale „The Sheffield“. Diese parallelen Eintrittsbedingungen unterschieden sich von den ursprünghchen dadurch, daß sie Griechisch ganz fortließen und die Anforderungen in Lateinisch verringerten, und um dieses Defizit wieder gut zu machen, einen der neuen Gegenstände substituierten; aber die Lücke wurde in keinem Falle angemessen ausgefüllt und die Kurse wurden gewöhnlich über die Achsel angesehen. Sie waren jedoch der Beginn des Zerfalls, und durch ihre variierenden Eintrittsbedingungen war ein Präzedenzfall für die zahlreichen freien Wahlen (Optionen) und verschiedenen Kombinationen geschaffen, welche sich von 1875 an der ganzen Masse mitteilten und das alte unveränderhche Zulassungsreglement zersetzten.

Dies Erweitern und Ausdehnen der Eintrittsbedingungen konnte natürlich nicht ohne angemessene Verlängerung der Vorbereitungszeit verwirklicht werden. Es wurden daher nicht mehr drei, sondern vier Jahre überall verlangt, und in Privatschulen, wo man früh mit Lateinisch begann, wurden fünf und sogar sechs Jahre angesetzt. In den öffentlichen „High-Schools“ waren jedoch vier Jahre das Normalmaß. In der Zwischenzeit waren große Veränderungen in den niederen Schulen vor sich gegangen. Um den Aufbau der verschiedenen Grade zu vollenden, hatte man einen größeren Mechanismus in Bewegung setzen, mehr Hindernisse überwinden müssen. Neue Unterrichtsgegenstände waren hinzugefügt und alte erweitert, und einige dadurch entstandene Lücken hatte man dann, damit alles von außen recht schön und eben aussähe, mit Sägespänen ausgefüllt. Die Knaben traten infolgedessen nicht länger mit 12 und 13 Jahren, sondern mit 14 und sogar 15 Jahren in die „High-School“ ein. So kam es, daß das Zulassungsalter des College, ohne daß es irgend jemand im voraus geplant oder ernstlich gewünscht hätte, unmerklich und doch in Wirklichkeit außerordentlich schnell von einem Durchschnitt (im Falle regelrecht vorbereiteter Schüler) von 16 oder 17 auf 18 oder 19 stieg.

Das anarchische Vorgehen einzelner Colleges, die, ohne mit anderen Colleges zu konferieren oder sogar sich nach den Vorbereitungsschulen zu richten, allein auf der Basis einer einzigen Lehrer -Versammlung (Faculty-meeting) bald dies, bald das zu ihren Anforderungen hinzufügten, hatte um das Jahr 1890 die Vorbereitungsschule in schlimme Verwirrung gebracht, während das College in eine schwindelnde Höhe hinaufgedrückt war.

Der Zeitabschnitt, der dem Bürgerkrieg unmittelbar folgte, war für die industrielle und kommerzielle Welt eine Zeit des Optimismus, des Umsichgreifens und waghalsiger Spekulationen gewesen. Alles Organisierte und Organisierbare wurde in größerem Maßstabe angelegt und in die Höhe getrieben. Die Colleges nahmen an dieser Zeitströmung teil. Der heißeste Wunsch ihrer Förderer war, sie zu Universitäten zu machen. Sie wußten nicht immer, was eine Universität war, noch weniger, wie eine organisiert werden konnte. Etwas hatte sich jedoch ihrem Bewußtsein, wenn auch nur undeutlich, eingeprägt, nämlich, daß eine Universität etwas Größeres, Höheres war. Das beste Rezept, aus einem College eine Universität zu machen, war, es durch Erschwerung der Eintrittsbedingungen in die Höhe zu treiben, indem man es darauf ankommen ließ, ob sich seine Lungen an die höheren Regionen gewöhnen würden oder nicht. Und das College ging um so leichter in die Höhe, da keine Universität da war, es niederzuhalten. Aber hierauf kommen wir noch später zurück. Wir haben es jetzt nur mit den Leuten zu tun, die eifrig bemüht waren, die Hebeschrauben dicht über dem Boden einzuzwängen, ohne auch nur einmal aufzuschauen, wo das Gebäude bliebe und wie es ihm bekam.

Die Wirkung auf die Vorbereitungsschulen, von denen erwartet wurde, die entstandenen Lücken von unten her einzufüllen, war die der äußersten Verwirrung. Sie hatten in ein und derselben Klasse Schüler, die sich für verschiedene Colleges vorbereiteten. Die neuen Lehrgegenstände und der Umstand, daß ihrer so mannigfaltige waren, stellten ihre Geschicklichkeit und Geduld auf die stärksten Proben. Konferenzen der Vertreter der Schulen und Colleges, in der Absicht gehalten, diese Schwierigkeiten zu beseitigen, führten im Jahre 1885 zu der Bildung der „Vereinigung der Colleges und Vorbereitungsschulen Neu-Englands“ und der späteren Organisation einer Kommission der Colleges in Neu-England zwecks Beratung über Eintrittsexamina, und im Jahre 1892 zu der Vereinigung der Colleges und Vorbereitimgsschulen in den Mittelstaaten und in Maryland. Sehr bezeichnend war ebenfalls der Schritt, den die Nationale Erziehungs-Vereinigung (National Education Association) tat, indem sie ein Komitee berief — am meisten unter dem Namen „Committee of Ten“ bekannt — , dessen große Arbeit es war, die Eintrittsbedingungen zu normieren, was auch mit einigem Erfolge geschah. Durch diese Normierung wurde natürlich dem Individualismus Halt geboten, welcher während des verflossenen Vierteljahrhunderts das College unbarmherzig und planlos in eine Stellung getrieben, in die es nicht gehörte und für die es, solange es nüchtern war, keinen Wunsch gehegt hätte. Dies endigte zu unserem Glück eine Zeit wahnwitzigen Ehrgeizes, in der es einer dem andern zuvortun wollte, und wo man, um den Olympus zu erklimmen, den Pelion auf den Ossa türmte.

Wir schließen hiermit die Betrachtungen über die erste der Ursachen, die, wie wir zu zeigen wünschten, an der Umgestaltung des College mitwirkten: nämlich die Erhöhung der Eintrittsbedingungen. Wir kommen nun zu der zweiten: das Auftauchen der großen Colleges zum Unterschiede von den „small Colleges“.

In dem Zeitraum von 1820—1850 hatte sich die Frequenz der alten östlichen Colleges nur wenig geändert; Harvard hatte 1820 234 Studenten und 297 im Jahre 1850; Yale hatte 371, resp. 386; Columbia 127 und 179; Williams 118 und 163; Amherst 136 und 176. Während dieser Zeit war die Einwohnerzahl von 9 ½ Millionen auf 23 Millionen angewachsen. Die Colleges fielen sichtlich trotz aller neuen Gründungen ab. Sie verloren den Halt am Lande. Nach dem Bürgerkriege setzte ein neues Wachstum ein, das direkt dazu beitrug, den Unterschied zwischen den großen Colleges (besonders denen, die mit Universitäten verbunden waren) und den kleinen Colleges zu vergrößern. Obgleich diese kleinen Colleges fortfuhren zu existieren und auch wuchsen, und obgleich mehr und mehr derselben ins Leben gerufen wurden (gewiß nicht weniger als 200 in der Zeit von 1865—1904), so wurde doch die größere Masse der Studenten in stetig wachsendem Verhältnis von den größeren Universitäten angezogen. Während im Jahre 1850 von allen College-Studenten in den Vereinigten Staaten 42% Anstalten besuchten, die eine Frequenz von weniger als 150, und nur 40% solche, die eine Frequenz von über 200 aufwiesen, ergibt sich, daß 1904 50% sich in Colleges von über 1000 befanden und sogar 25% in solchen über 3000, während nur 21% in Colleges unter 400 waren. Oder um den Gegensatz stärker hervortreten zu lassen, in 1850 waren 40% in Colleges über 200, in 1904 50% in Colleges über 1000. Ein so plötzlicher Wechsel des Schwerpunktes konnte nicht verfehlen, einen Eindruck auf den Lehrplan zu hinterlassen. Das kleine College mit seiner Freshman-Klasse von 30 bis 50 kam wohl kaum in die Versuchung, seinen feststehenden Stundenplan auseinander zu reißen, während das große College mit einer Beginner-Klasse von 300 oder mehr kaum der stürmenden Bitte widerstehen konnte, den Studierenden eine größere Auswahl im Studienplan zu bieten an Stelle der eintönigen Wiederholung desselben Gegenstandes durch viele Abteilungen der Klasse. Der Druck, der zum Untergange des feststehenden Lehrplanes führte, kam somit von den großen Colleges. Wenn das amerikanische System den mehrgliedrigen Typus des englischen Colleges gehabt hätte, würden wir viel konservativer mit dem Lehrplane umgegangen sein, denn anstatt des plötzlichen Aufschießens eines Colleges würden wir neue Colleges innerhalb der Universität gegründet haben. Unsere ungeheuren Colleges sind in ihrer jetzigen Form Anomalien. Man kann sie nicht als Universitäten bezeichnen, nur weil sie groß sind, und andererseits haben wir noch nicht gelernt, sie in leicht zu handhabende Einheiten zu teilen.

Ein dritter Umstand, der die Aufreibung des Colleges begünstigte, war das Erscheinen neuer Unterrichtsgegenstände, die man nicht übersehen konnte. Sie fanden gewöhnlich ihren Weg von oben herein, wo die Formation eine losere war, und drängten sich dann durch die Phalanx des Lehrplans nach unten hin. Die alten „verschanzten“ Gegenstände waren gewöhnlich den Eindringlingen gegenüber ungastlich und Rechtshändel waren an der Tagesordnung, indem jeder Professor sich als speziell für seinen Gegenstand angestellten Rechtsanwalt betrachtete. Die geschäftigsten Eindringlinge waren Nationalökonomie, Geschichte, die Naturwissenschaften und die neuen Sprachen. Sobald sie erst einmal festen Fuß im College gefaßt hatten, drangen sie immer weiter vor und erhielten zahlreiche Schüler, dadurch daß sie entweder als obligatorische oder alternative Kurse sich im Lehrplan Anerkennung verschafften.

Das alte feste Vertrauen auf die seelenrettende Kraft der Klassiker begann zu wanken. In Wirklichkeit glaubte man nicht länger, daß alle Orakel und alle Ideale in irgend einem goldenen Zeitalter der Vergangenheit zu suchen seien. Schon seit einiger Zeit war dieser Glaube ins Wanken geraten, aber zum Denken und Handeln war es bis dahin noch nicht gekommen, — die Macht der Gewohnheit stand dem hindernd im Weg. Jetzt aber gab der scharfe Konflikt mit den modernen Lehr-Gegenständen häufig genug Veranlassung, diesen ketzerischen Gedanken Ausdruck zu verleihen, und die Leute hörten es nur zu gern.

In den Klassikern war in Amerika nur selten mit europäischer Gründlichkeit unterrichtet worden und die Resultate waren daher im gewöhnlichen Falle nur oberflächliche gewesen. Das verhältnismäßig späte Alter, in dem Latein begonnen wurde (vierzehn), trug dazu bei, die gewöhnliche klassische Disziplin als eine etwas dünne Schicht erscheinen zu lassen. Das Fazit der griechischen Bildung, die aus dem flüchtigen Studium von Paradigmen und ein paar Seiten einiger weniger Autoren absorbiert wurde, dürfte offenbar leicht von einer neuen Sprache, wie zum Beispiel Deutsch übertroffen werden. Daher fanden denn auch die enthusiastischen Worte der von Charles Francis Adams 1883 gehaltenen Phi-Beta-Kappa-Ansprache (A College Fetich) williges Gehör.

Die Frage nach dem praktischen Werte aller dieser Studien begann ebenfalls mehr und mehr in den Vordergrund zu treten, denn die Hebung des College hatte es in den Bereich der Jahre gebracht, wo man an einen Beruf denken mußte. Jura, Medizin und Theologie waren nicht länger die einzigen Studien, die bei der Wahl eines Lebensberufes in Frage kommen konnten.

Alles dies ging gerade zu der Zeit vor sich, als der Einfluß der deutschen Universitäten auf die amerikanischen Gelehrten und in noch höherem Maßstabe auf die Ideale des Universitätsunterrichts sich stark fühlbar machte. In den ersten Dekaden des Jahrhunderts hatten Amerikaner — im ganzen ungefähr ihrer hundert — ihren Weg in die deutsche Universität gefunden, und aus dieser Zahl sind einige der größten Zierden der Gelehrtenwelt und des öffentlichen Lebens hervorgegangen, z. B.:*) Edward Everett, J. Lothrop Motley, Francis J. Child, George M. Lane, B. L. Gildersleeve, John L. Lincoln, Roswell D. Hitchcock, William D. Whitney und Theodore D. Wolsey. 1861 hatten sich 77 amerikanische Studenten in deutsche Universitäten eintragen lassen, im Jahre 1881 173 und 1891 446. Diese Leute brachten nach ihrer Rückkehr Gärung in die Sache. Sie wurden überall die Apostel der deutschen Idee, und überall predigten sie das Evangelium der Spezialforschung, das Wissen aus erster Hand, die Lernfreiheit und die Lehrfreiheit. Sie sahen sofort, daß wir keine Universitäten hatten. John Hopkins wurde nicht vor 1876 gegründet, und die anderen Universitäten eröffneten ihre Graduate Schools nicht vor 1872. Das harte und bunte Mosaik unseres alten College-Kursus hatte für Spezialisten in irgend einem Gegenstande wenig oder gar keine Ermutigung. Ja, es war sogar unmöglich, irgend ein Studium über seine Anfangsgründe hinaus fortzusetzen. Das College, als das Nächstliegende, wurde irrtümlicherweise für die Universität gehalten, die es hätte sein sollen, und so kam es, daß ein großer Teil dieses in Deutschland aufgespeicherten Enthusiasmus darauf verwendet wurde, das College in eine Universität umzuändern. Der Rest desselben wurde — und das erst später — beim Aufbau der graduate school verausgabt. Und so kam es, daß wir an zwei verschiedenen Stellen unseres höheren Erziehungssystems und von zwei verschiedenen Zentren aus, zu ein und derselben Zeit, den Bau unserer amerikanischen Universitäten in Angriff nahmen. Dieser unseligen Gleichzeitigkeit schulden wir zum größten Teil die Konfusion, die in unser aller Gemütern darüber herrscht, was ein College ist und wo die Universität beginnt, und dem Fremden andererseits fällt es aus demselben Grunde so äußerst schwer, uns zu verstehen, wenn wir ihm diese Dinge auseinanderzusetzen versuchen.

*) Hinsdale B. A., Report of U. S. Commissioner of Educ. 1897—98, Vol. I, 592, 629.

Es war also in den großen Colleges, wie wir gesehen haben, und besonders in Harvard, wo der Versuch, aus einem College eine Universität zu machen, indem man zu gleicher Zeit die Eintrittsbedingungen hinaufschraubte imd freie Wahl unter Lehrgegenständen einführte, zum ersten Male seinen vollen Ausdruck fand. Der Stundenplan, der im Jahre 1867 in Harvard angenommen wurde, machte die ganze Arbeit des ersten Jahres obligatorisch, von der des zweiten Jahres 7 Stunden obligatorisch und 6 Stunden elektiv und von der des dritten und vierten Jahres 6 obligatorisch und 6 bis 9 elektiv. Im Jahre 1870 wurde man noch liberaler, und im Lehrplan des Jahres 1872 wurde den Schülern des vierten Jahres vollständig freie Wahl in ihren Studien gelassen. Im Jahre 1879 wurde diese Freiheit auf das dritte Jahr ausgedehnt, 1884 auf das zweite und 1885 auf das erste. Dies ist das berühmte und berüchtigte „elektive System“, obgleich bei demselben kaum von einem System die Rede sein kann, man müßte denn die Vollständigkeit, mit der dieses Chaos zuwege gebracht, systematisch nennen. Nachdem die Flut erst einmal die Dämme durchbrochen, riß sie alles mit sich, überschwemmte, ohne großen Widerstand zu finden, die kleineren Deiche und Schutzwehren, bis die Wasser der Sintflut vollständig die Erdoberfläche bedeckt hatten und die Taube des Friedens und der Ordnung lange nach einem Fleckchen Landes suchen mußte, wo sie sich niederlassen könnte. Die Flut hatte an Kraft und Volumen im Bereich der beiden oberen Klassen zugenommen, welche durch die ungerechtfertigte Hebung des Colleges in eine Region hinaufgeraten waren, wo ihre Einschränkungen angesichts der neuen größeren Anforderungen zu kleinlich waren. Eine starke Scheidewand fand sich kaum an irgend einem Punkte, auch nicht an der Grenze zwischen dem zweiten und dritten Jahre, wo man eine solche wohl hätte erwarten können; das Ganze war ein ununterbrochener vierjähriger Kursus. Daher spülte das Hochwasser das ganze College von einem Ende bis zum andern aus. Es bedurfte unzweifelhaft einer derartigen Ausspülung. Viel alter traditioneller Kehricht und Schutt hatte sich in seinen Bassins angesammelt, und es mangelte an einem zusammenhängenden Kanalsystem. Sein Kursus bestand aus einer Masse von Flickwerk und Pfuscherarbeit; Dilettantismus und Oberflächlichkeit wurden durch denselben zu sehr ermutigt. Aber nun, nachdem es einmal gesäubert und das Freuden- und Beifallsgeschrei verhallt ist, kann man bemerken, wie die Gedanken der Erzieher des Landes jetzt überall damit beschäftigt sind, Pläne zu entwerfen, wie man in das College und besonders in seine zwei ersten Jahre etwas hineinbaue, das das von der Flut Hinweggeschwemmte ersetzen könne.

Wir bedürfen des Colleges oder eines Teiles desselben als Bindeglied zwischen der High-School und dem „graduate work“, resp. Fachstudium, der Universität, — und das aus zwei Gründen: 1. Die High-School-Erziehung ist keine hinreichende Grundlage für die UniversitätsArbeit, 2. amerikanisches Leben und ein gewisser dem Amerikaner angeborener Trieb verlangen eine Bekanntschaft mit den Methoden und der Beschaffenheit verschiedener Studienfächer als einen Hintergrund für ein Spezialfach. Dies geht Hand in Hand mit der beim Amerikaner tief eingewurzelten Bewunderung für Vielseitigkeit und das, was er „gumption“ (Mutterwitz, Grütze) nennt.

Wir müssen die Entwicklung dieser Arbeit systematisch verfolgen. Die Installierung einer Anzahl Parallelklassen wenigstens für die zwei ersten Jahre — ein Plan, mit dem Cornell 1867 begann — war ein guter Anfang und würde auch von Erfolg gekrönt worden sein, wäre eine solide Scheidewand am Ende des zweiten Jahres vorhanden gewesen. Noch besser ist das Gruppensystem, das Johns Hopkins in seiner College-Abteilung eingeführt hat.

Die eifrigsten Anwälte des „elective Systems“ ohne jegliche Einschränkung haben immer auf das verständige Selbstinteresse des einzelnen Studenten gerechnet, und erwarten von demselben, daß er sich bei freier Wahl seiner Gegenstände einen systematischen Stundenplan entwerfe. Sie haben immer die deutschen Universitäten als Beispiele hierfür zitiert, — in der Tat, es scheint, als ob eine große Anzahl dieser Ultra-Radikalen in dem Gedanken lebten, daß die deutschen Universitäten das „elective System“ hätten, — ja, daß dies „elective System“ sie vor allem andern erst zu deutschen Universitäten mache. Sie ließen die bessere Schulung und größere Reife des Abiturienten ganz außer Berechnung, besonders aber noch, daß der Student, der sich auf einen Grad vorbereitet, seine Arbeit und seine Kurse um sein Hauptfach und besonders um den Professor, der ihn später examiniert, gruppieren muß.

Erfahrung hat ohne Zweifel bewiesen, daß, während viele Studenten, besonders die besten, gute Stundenpläne für sich entwerfen, die große Masse derselben in ihrer Wahl von so vielen irreführenden Erwägungen beeinträchtigt und von so vielen willkürlichen und nebensächlichen Bedingungen beeinflußt werden, daß ihr Plan verdorben ist und von einem System gar keine Rede sein kann. So wird zum Beispiel ein Kursus gewählt, weil er auf eine gewisse Stunde fällt: sie paßt so schön mit der eines anderen Kursus zusammen und kollidiert nicht mit den „athletics“ (Sport); oder es ist ein einstündiger oder zweistündiger Kursus und soviel mag gerade noch nötig sein, um die vorgeschriebene Stundenzahl voll zu machen; oder er mag als leicht bekannt sein, — was die Studenten einen „snap“ (eine Sinekure) nennen, und da man schon ein oder zwei schwere hat, will man die Sache etwas ausgleichen: oder es mag auch der Kursus eines bekannten und populären Professors sein, dessen Colleg jeder anstandshalber gehört haben muß: oder es mag schließlich auch ein Gegenstand sein, von dem Vater oder Onkel die Überzeugung haben, daß er „für den Jungen gerade wie geschaffen“ sei. Dies sind so einige Proben*) von den irreführenden Erwägungen, die aufkommen können und leider nur zu oft auch wirklich aufkommen.

Die Probleme, die das Leben und das Fortbestehen des Colleges berühren, haben alle mit der Frage zu tun, was mit den ersten zwei Jahren geschehen soll: die Arbeit der letzten zwei Jahre kann ohne Schwierigkeit um einen Hauptgegenstand gruppiert werden und in ein Spezial-Studium auslaufen. Das College wird jedoch beibehalten werden. Es entspricht einerseits den Bedürfnissen jener großen Klasse von Studenten, die direkt vom College ins Geschäftsleben eintreten, und andererseits den Anforderungen derjenigen, die eine Grundlage für fachmännische oder wissenschaftliche Spezialisierung brauchen. Für die letzteren mag es zu hoch hinaufgeschraubt worden sein, und für diesen Fall hat man zwei Abhilfsmittel vorgeschlagen; eins — das des Präsidenten Eliot — reduziert seinen Kursus auf drei Jahre, aber das kollidiert mit den alten Rechten und Interessen der sogenannten „separate small Colleges“ und mit dem, was zum Besten des Durchschnitts-Studenten dient, dessen Erziehung mit dem College endet; das andere Abhilfsmittel, das den Verhältnissen des ganzen Landes am besten angepaßt ist und besonders von den großen Universitäten des Westens begünstigt wird, schlägt einen deutlich markierten Abschnitt am Ende des zweiten Jahres vor und benützt die beiden letzten Jahre, den Baccalaureus-Kursus zu beenden und einen 4 oder 5 Jahre langen Universitätskursus zu beginnen, der zu dem „Dr. phil.“ oder einem anderen höheren Grade führt. Aber hierauf werden wir später eingehen, wenn wir von den Universitäten sprechen. Das amerikanische College ist augenscheinlich in der letzten Hälfte des Jahrhunderts zwischen den oberen und unteren Mühlsteinen der erst kürzlich oben aufgesetzten „graduate school“ und der von unten andrückenden Sekundärschulen stark mitgenommen worden, aber es macht seine Ansprüche auf Existenzberechtigung wieder geltend und wird bleiben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterricht und Demokratie in Amerika