VI. Die Gestaltung des College (1700-1865).

Thwing., C. F., A History of Higher Education in America, New York, 1906. — West, Andrew F., The American College, 1904. — Birdseye, C. F., Individual Training in our Colleges, 1907. — Ziertmann, Paul, Das amerikanische College und die deutsche Oberstufe; eine Frage der Schulorganisation. Pädag. Archiv. 51, 225 ff. (1909).

Während die amerikanische Universität ihren Anstoß und in hohem Maße ihre Form von Deutschland empfing, hat das amerikanische College ohne Frage seine Wurzeln in englischer Tradition. Wir haben jedoch in dem letzten Kapitel eben gesehen, daß das College schon bei seiner Gründung durch äußere Umstände und eigenartige Bedingungen zu einer dreifachen Abweichung von der Form seines Vorbildes gezwungen wurde: 1. zog es die Form der Einzel- und Sonder-Existenz der der mehrgliederigen Gruppe vor; 2. unterwarf es sich der Oberherrlichkeit einer religiösen Sekte; 3. spaltete sich seine Verwaltung in einen Dualismus von einem Aufsichtsrat auf der einen und dem Lehrkörper auf der anderen Seite mit dem Präsidenten als Bindeglied.


Aus diesen Anfängen entwickelte es mit den Jahren, indem es sich den wachsenden Bedürfnissen und Wünschen seiner Zeit anzupassen suchte, einen besonderen Typus und wurde die charakteristische Grundlage des höheren amerikanischen Erziehungssystems. Die Bestandteile, welche der Universität angehören, wurden in der Gestalt von Fachschulen und sogenannten „graduate schools“ erst später hinzugefügt, und zwar, wie ausdrücklich betont wurde, zum Zweck der Ergänzung des Colleges. Wir können daher die Universität nicht eher verstehen, als bis wir uns vollständig über die Colleges klar sind. Auf der anderen Seite entwickelten sich aus den Bedürfnissen des College heraus die sekundären Schulen, die wir heute unter dem Namen „academy“, „high-school“ or „preparatory school“ kennen. Diese bereiten für das College vor und haben ihren Lehrplan nach und nach von dem höheren Institut des College empfangen, hoben jedoch dasselbe zu gleicher Zeit, indem sie ihm eine breitere und kräftigere Grundlage gaben. Das College legte nicht erst seine Grundmauern und sein Erdgeschoß und wartete dann auf jemanden, der darauf weiter bauen würde, sondern es baute in erster Linie auf Erd-Niveau — wenigstens ungefähr — , grub dann später für die Grundmauern aus und ließ sich schließlich je nach Bedürfnis in die Höhe weiterentwickeln. Es ist daher augenscheinlich, daß wir, wenn wir folgerecht vorgehen wollen, mit dem College beginnen müssen, dem wir dann die sekundären Schulen und diesen wiederum die Universität folgen lassen können. Dies ist meine Entschuldigung nicht nur dafür, daß ich scheinbar in medias res springe und mit dem College beginne, sondern auch dafür, daß ich mich so lange bei der Geschichte eines dem Anschein nach so untergeordneten Schulinstituts aufhalte. Das College ist eine echt amerikanische Schöpfung, aus amerikanischen Zuständen hervorgegangen; es ist charakteristisch für das amerikanische System; es ist in der Hauptsache der Schöpfer der amerikanischen sekundären Schule und es ist heute noch Herz und Seele der amerikanischen Universität. Harvard stand und strebte während eines halben Jahrhunderts nach seiner Gründung allein, eine Knabenschule, spärlich unterstützt und nur von wenigen Schülern besucht. In den fünfundsechzig Jahren nach seiner ersten Entlassungsfeier (commencement) in 1642 graduierten 531 Schüler, d. h. durchschnittlich acht im Jahre. In vier verschiedenen Jahren nicht ein einziger Abiturient, 1652 und 1654 je einer. Und doch ist es eine Tatsache, daß am Ende dieses halben Jahrhunderts die Hälfte der Pastoren an den Kirchen der nördlichen Kolonien Graduierte des College waren; und die Kirchen waren zu der Zeit fast das einzige Organ für die Erhaltung des geistigen Lebens im Volke.

Von dem „General Court“ (Legislatur) hatte das College einen Geldzuschuss von etwas über £ 4000 (ca. 82.000 Mk.) erhalten, das Gehalt des Präsidenten mit eingerechnet, das zu keiner Zeit die Summe von £ 100 (ca. 2050 Mk.) überstiegen zu haben scheint. Das Eigentum des College war von Steuern befreit worden; ferner war ihm die Gerechtsame und das Einkommen der Fähre zwischen Boston und Charlestown gegeben. Drei verschiedene Landschenkungen wurden ihm ebenfalls in Aussicht gestellt, die sich alles in allem auf 3500 Morgen beliefen, von denen jedoch zwei sich niemals realisierten. Zur selben Zeit war es mit Privatschenkungen in Höhe von £ 15.000 (ca. 307.500 Mk.) bedacht worden. Hiermit war der Präzedenzfall geschaffen für eine duale Basis der Schulunterstützung, nämlich durch staatliche Konzessionen einerseits und Privatschenkungen andererseits. Diesem Verfahren ist man seitdem mehr oder weniger in der Finanzverwaltung der Colleges treu geblieben. Obgleich Harvard seit 1824 keine Geldunterstützungen mehr von dem Staate erhalten hat, hatte sich der Gebrauch schon vordem an anderen Orten in einer oder der anderen Form eingebürgert und sich seitdem in einer Weise als Tradition eingenistet, daß die Staats-Universitäten der späteren Periode den Staat als Hauptbeisteuerer zu betrachten gewohnt waren, was jedoch nicht ausschließt, daß sie heute noch Privatgeschenke willkommen heißen, die ihnen ja denn auch in einzelnen Fällen noch reichlich zugehen. Das Zusammenfließen dieser beiden Geldquellen im College-Unterstützungs-Fond scheint, um mich milde auszudrücken, keine Abneigung in den Gemütern der Amerikaner von Anbeginn bis auf den heutigen Tag erregt zu haben.

Während des 18. Jahrhunderts empfing Yale eine Gesamtunterstützung von $ 62.000 (ca. 250.000 Mk.) von dem Staate Connecticut, eine Summe, die alle seine Privatschenkungen bei weitem übertrifft. In der Mitte des 18. Jahrhunderts bezog William and Mary College in Virginia ein jährliches Einkommen von ungefähr £ 2300 (ca. 47.000 Mk.), die hauptsächlich von Steuern herrührten, die von dem Staate für das Institut reserviert worden waren. Dies war das größte Einkommen, das in dem genannten Jahrhundert von einem College bezogen wurde. Im Jahre 1776 belief sich der Gesamtbetrag des angelegten Kapitals von Harvard auf nur wenig mehr als £ 16.000 (ca. 328.000 Mk.), und das Vermögen von Yale betrug im Jahre 1840 weniger als $ 30.000 (ca. 120.500 Mk.). Im Jahre 1830 beliefen sich Yales gesamte Einnahmen auf $ 19.471 (81.778,20 Mk., den Dollar zu 4,20 Mk. gerechnet), von denen $ 11.735 (49.287 Mk.) Schulgelder waren, Thwing in seiner „Geschichte der höheren Erziehung“ hat das gesamte produktive Stammkapital aller Colleges am Beginn des 19. Jahrhunderts auf nicht ganz $ 500.000 (2.100.000 Mk.) eingeschätzt. Von Anbeginn machten es sich die Colleges zur Regel, das Unterrichtshonorar der Schulkasse zu übergeben und den Lehrern ein festes Gehalt zu bezahlen. Das Gehalt der „tutors“ (Unterlehrer) belief sich 1740 in Yale auf £ 90 (1.840 Mk.), das des Rektorats auf £ 320 (6.500 Mk.); die traurigen Geldverhältnisse (und den herabgesetzten Kurs) nicht zu vergessen. Mit der Zeit sahen sich die Colleges immer mehr und mehr auf das Schulgeld und Privatschenkungen oder das aus Privatschenkungen erwachsende Einkommen angewiesen. Die Hilfe des Staates hatte dazu beigetragen, sie ins Dasein zu rufen, aber da dies mehr oder weniger mit Ansprüchen auf ein Aufsichtsrecht oder mit anderen dergleichen Einmischungen verbunden war, fanden sie es mehr nach ihrem Geschmack und mehr im Einklang mit ihrer Unabhängigkeitsidee und ihrer Würde, sich auf die beständig zunehmende Unterstützung von selten reicher Privatleute zu verlassen. Noch richtiger läßt sich dies vielleicht folgendermaßen fassen: obgleich die Colleges gerne Staatszuschüsse annahmen und vielleicht gar um sie nachsuchten, waren sie doch entschieden abgeneigt, dem Staate und seinem Kontrollsystem so große Zugeständnisse zu machen, daß die Zuschüsse Ansprüche auf eine Einmischung hervorrufen könnten.

Dies führt uns zu einer Untersuchung des interessanten Prozesses, durch den die ersten Colleges sich Schritt für Schritt von einer die Staatsgewalt anerkennenden, ja von ihr sich kontrollieren lassenden Verwaltungsform losgemacht und den Typus der geschlossenen Korporation angenommen haben. Der U. S. Commissioner (zur Zeit Professor) Eimer E. Brown hat in seinem Artikel „The Origin of American State Universities“ (Veröffentlichungen der Universität von Californien, 1903) dieses Thema in lichtvoller Weise behandelt.

Wir haben bereits in der vorigen Vorlesung gesehen, wie Harvard durch seinen Freibrief von 1650 unter die direkte Kontrolle der Korporation, die aus dem Präsidenten, fünf „fellows“ und einem Schatzmeister bestand, gestellt wurde; daß ferner diese sich durch Wahl selbstergänzende Korporation (Cooptation) im allgemeinen dem älteren Aufsichtsrat „Overseers“ — erinnern Sie sich an die ex officio-Mitgliederschaft — untergeordnet war; daß sie in ihrer Zusammensetzung Staatsgewalt und Geistlichkeit als die beiden Elemente, die Visitationsrecht besaßen, repräsentierte, und daß sie schließlich für die Anstalt der Öffentlichkeit gegenüber die Verantwortung übernahm.

Im Jahre 1814 wurde der Aufsichtsrat auf Beschluß der Legislatur, d. h. des Parlaments des Einzelstaats, folgendermaßen zusammengesetzt: aus dem Gouverneur, dem stellvertretenden Gouverneur, dem Staatsrat, dem Senat, dem Sprecher des Repräsentantenhauses, dem Präsidenten des Colleges mit 15 Geistlichen der „freien Kirche“ (congregationalists) und 15 Laien, alle Einwohner des Staates. Die Geistlichen und Laien waren von dem größeren übrigen Teile des Ausschusses zu ernennen. Das Wichtigste an dem Beschlüsse war die Verfügung, daß er nicht eher in Kraft treten solle, als bis er sowohl von dem Aufsichtsrate als von der Korporation angenommen sei. Dieses Proviso legte die permanente Unabhängigkeit des College unter seinem Freibrief gesetzlich fest. Eine Resolution vom Jahre 1834 gab den Geistlichen aller Konfessionen Zutritt zum Ausschusse, und diese wurde im Jahre 1843 angenommen. Hierdurch wurde das College von der Verbindung mit einer speziellen religiösen Sekte befreit. Im Jahre 1851 wurden die Worte „fünfzehn Geistliche und fünfzehn Laien“ durch die Worte „dreißig Personen“ ersetzt, und die letzte Spur der ecklesiastischen Verbindung war damit verschwunden.

Yale verdankt seine Gründung einer Reaktion gegen die angeblich wachsende weltliche Gesinnung und theologische Lockerheit Harvards, und sein erster Freibrief charakterisiert die Motive seiner Gründer als „ein aufrichtiges Bestreben, die christliche Religion durch eine Folge von gelehrten und orthodoxen Männern aufrecht zu erhalten und fortzupflanzen“. Es wurde in die Hände eines sich durch Wahl selbst ergänzenden Aufsichtsrates gelegt, der aus zehn „Reverend ministers of the Gospel and inhabitants within the said colony“ zusammengesetzt war. Die üblen Erfahrungen, die die strenge Calvinistische Partei kürzlich mit dem gesetzgebenden Körper von Massachusetts gemacht, hatten die Verteidiger der Orthodoxie gegen eine Verbindung mit den Zivilbehörden eingenommen und ihnen den edlen Gedanken eingegeben, eine reine und unbefleckte „school of the prophets“ (Prophetenschule im Sinne von Samuel und Saul) zu gründen. Obgleich sie immer gern bereit waren, das Geld des Staates anzunehmen, und es bis 1754 auch erhielten, wollten sie von einer Kontrolle seinerseits nichts wissen und widersetzten sich im Jahre 1763 erfolgreich einem nachdrücklichen Versuch des Staates, sein Visitationsrecht geltend zu machen. Das Argument des Präsidenten Clap, daß der Staat nicht der Gründer sei, sondern jene Vereinigung von Geistlichen, die ihre mageren Schenkungen von Büchern als erste Dotation für die „Collegiate Schools at Saybrook“ zusammengebracht hatten, trug den Sieg davon, und die Kirche triumphierte über den Staat und die Öffentlichkeit. Die Sache war jedoch damit durchaus nicht abgetan, denn im Jahre 1792 wurden nach einer langen und erbitterten Kontroverse acht Beamte des Staates der Korporation als Mitglieder beigefügt. Dies diente dazu, die öffentlichen Beziehungen und die Verantwortlichkeit des Colleges auszudrücken in Erwartung der Zeit, wo es wie Harvard unter die Kontrolle seiner Graduierten kommen sollte, — was jetzt beinahe der Fall ist.

Princetons Freibrief machte den Gouverneur der Provinz zum ex officio Mitgliede des Aufsichtsrates. Dies war eine durch Wahl sich selbst ergänzende Körperschaft von 23 Männern, davon 12 Geistliche; alle mit Ausnahme von dreien waren Presbyterianer. Rutgers Freibrief war ähnlich, mit der Ausnahme, daß Beamte der Kolonie außer dem Gouverneur ex officio-Mitglieder des Aufsichtsrates waren. Es war besonders vorgesehen, daß der Präsident unter allen Umständen ein Mitglied der Holländisch-Reformierten Kirche sein müsse. Kings College (später Columbia) war bei seiner Gründung, wenigstens dem Äußeren nach, einem Staatsinstitut sehr ähnlich, besonders mit seinen 17 staatlichen und geistlichen Würdenträgem als ex officio Mitgliedern seines Ausschusses, obgleich sein Freibrief jeder andern Körperschaft das Recht der Visitation absprach. Wie die andern wird es jetzt von seiner eigenen Gemeinde und Wählerschaft verwaltet, wenn auch die Graduierten bis jetzt noch nicht formell und gesetzlich in dem Aufsichtsrate vertreten sind.

In dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts und dem ersten Viertel des 19., den Tagen der jungen Demokratie, machte sich im Volke eine Strömung geltend, die muffige Abgeschlossenheit des College zu stören und mehr Staatskontrolle zu verlangen, um es den Zwecken des Staates mehr anzupassen. In New Hampshire ging dies so weit, daß die Legislatur (1816) eine neue Verwaltungsform für Dartmouth College schaffen wollte, in der ein Aufsichtsrat mit der Befugnis, Beschlüsse der „trustees“ zu prüfen, zu verbessern und abzulehnen, aus gewissen Staatsbeamten ex officio und anderen von dem Gouverneur und seinen Räten erwählten Männern bestehend, vorgesehen war. Dartmouth erhob sich gegen diese „gotteslästerliche Tat“, die ganze akademische Welt stand wie vom Donner gerührt über dieses gesetzwidrige Eindringen in die geheiligten Hallen des College. Der höchste Gerichtshof von New Hampshire entschied gegen das College, aber das Obergericht der Vereinigten Staaten hob das Urteil des Staatsgerichts auf, eine Entscheidung, die, wie sich später herausstellte, eine der wichtigsten und einflußreichsten der von diesem Tribunal je getroffenen war.

Es wurde damit erklärt, daß der „Freibrief“ eines College ein Kontrakt sei, in der Auslegung, die dieses Wort in dem Paragraphen der Verfassung der Vereinigten Staaten (Art. 1, See. 10) erfährt und der da sagt, daß kein Staat ein Gesetz machen solle, das die Verpflichtungen eines Kontraktes beeinträchtige. Ein Beschluß des Staates von New Hampshire, der den „Freibrief“ ohne die Beistimmung der Korporation in so wesentlichen Punkten ändere, sei daher eine Handlung, die die Verpflichtungen des „Freibriefes“ beeinträchtige, und aus diesem Grunde verfassungswidrig. Ein ganz neuer und wohlgesicherter Status war hiermit einem College gegeben, das einen „Freibrief“ besaß, nämlich der einer geschlossenen Gesellschaft, die sich hinter ihrem „Freibrief“ wie hinter einem Wall gegen den Staat verschanzt hat.

Die oben erwähnte Entscheidung kennzeichnet die Scheidung der Wege in der Geschichte der höheren Erziehung. Es waren damals die Tage des steigenden Demokratismus und des demokratischen Eifers für „public schools“, für eine Erziehung „durch das Volk und für das Volk“. Das College, das großen öffentlichen Einfluß ausüben sollte, konnte sich unmöglich hinter seinen Mauern verschließen, wozu es verurteilt gewesen wäre, wenn man den Ausdruck „geschlossene Gesellschaft“ in dem Sinne ausgelegt hätte, wie es die Dartmouther Entscheidung getan. Indem sich diese Überzeugung im Verlaufe des Jahrhunderts in den Gemütern immer mehr festsetzte, sehen wir, wie diese geschlossenen Gesellschaften, nun sie vor Einmischung von selten der Regierung sicher sind, ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr darauf richten, das öffentliche Interesse wachzurufen. Vielen gab die Unterstützung einer Sekte eine weitere Operationsbasis, als sie bloßes lokales Interesse geben konnte. Aber dies dauerte nur kurze Zeit, denn als sich die öffentliche Meinung mehr und mehr gegen das Sektenwesen erklärte, gereichte diese Verbindung den Instituten eher zum Nachteil. Daher können wir während der letzten Jahre des vorigen Jahrhunderts eine wechselnde Tendenz bemerken, die Kontrolle der Institute ganz und gar in die Hände der Graduierten zu legen.

So viel über den älteren Typus des College. Sie gingen ihren eigenen Weg. Sie waren der Staatsaufsicht entgangen und hatten sich statt dessen zuerst unter die Aufsicht der Sekte und späterhin unter die der Graduierten gestellt. Aber den Forderungen des Publikums und der öffentlichen Meinung war damit noch nicht genügt. Diese wandte sich, als sie sah, daß die Regulierung durch den Staat fehlgeschlagen war, ohne weiteres zu Staatsgründungen mit unmittelbarer Staatskontrolle, gerade wie bei den „public schools“. Und frisch aus diesem demokratischen Instinkte entsprang ein neuer Typus, die Staatsuniversität. Auf diese kommen wir späterhin zurück. Wir wollen hier im Vorbeigehen nur andeuten, daß das Dartmouther Urteil die Scheidung der Wege bezeichnet.

Die neun vor der Revolution gegründeten Colleges sind längst der Küste des Atlantischen Ozeans stationiert und alle mit einer Ausnahme nördlich von dem Potomac. In den 17 Jahren zwischen dem Kriegsschluß und dem Ende des Jahrhunderts (1783—1800) wurden 14 neue Colleges gegründet, hauptsächlich auf dem neu erworbenen Territorium des zweiten der Küste parallel laufenden Landstreifens. Unter diesen waren Dickensen, Williams und Union. In den folgenden 30 Jahren wurden 33 gegründet, die Hälfte davon in dem dritten Landstreifen, d. h. auf der anderen Seite der Appalachen. Vier liegen in Ohio, drei in Illinois und eins in Missouri. Die Gründung von Colleges mit der Geschwindigkeit von einem per Jahr erscheint schon außerordentlich, aber in den folgenden 30 Jahren (1830—1860) stieg sie bis auf fünf per Jahr: denn 163 schossen, über das ganze Land zerstreut, empor. Der Wohlstand des Volkes gedieh und eine neue Flut von Immigranten ergoß sich weit und breit nach dem Süden und Westen des Landes, seine Bevölkerung wuchs in diesen 30 Jahren von 13 auf 31 Millionen.

Der Zeitabschnitt des Bürgerkrieges (1861—1865) bildet eine scharfe Grenzlinie in der Geschichte des amerikanischen Colleges. Die Form und der Typus des sogenannten „alten“ Colleges war damals völlig entwickelt und hatte sich überall eingebürgert. Seit hundert Jahren war keine einzige radikale Änderung in seiner Stellung, in seinen Zwecken und Zielen, kein einziger durchgehender Wechsel in seinen Methoden oder seinem Lehrplan vorgenommen worden. Es war ein deutlich gekennzeichneter Typus eines Erziehungsinstituts mit stark betonten Eigenarten, denen sich der Einzelne, so gut es eben ging, anzupassen hatte. Man wußte im allgemeinen nicht recht, was es wirklich war und welchen Zwecken es vorgeblich diente. Die Zeit nach 1865 war voll von allerhand Projekten, das alte College zu verbessern und den neuen Verhältnissen anzupassen, es zu heben und umzugestalten, und dies aus allerhand Gründen und in dem ernstlichen Bestreben, die mannigfaltigsten Theorien zu verwirklichen — Theorien, deren Ende sich jetzt noch nicht absehen läßt. Daher kommt es, daß diese Periode zwischen 1865 und der Gegenwart eher eine Zeit der Zersplitterung und Verwirrung als die eines stetigen Aufbaus ist, und daß sie uns bis jetzt noch keine Garantie gibt, was — wenn überhaupt etwas — uns von dem alten System übrig bleiben oder was die Stelle des Colleg, das einmal war, einnehmen wird.

Bevor wir von dem „old fashioned“ College Abschied nehmen, wollen wir noch einmal kurz seinen Aufbau und seine Eigenart überschauen,

1. Alle Studenten folgten im wesentlichen demselben festgelegten Studienplan, der nach 4 Jahren zu dem Baccalaurens führte. Gelegentlich war es dem Schüler im dritten Jahre erlaubt, zwischen einem wissenschaftlichen Kurse oder mehr Lateinisch zu wählen, aber im vierten Jahre wurden keine Ausnahmen gemacht; alle Schüler mußten sich an dem vorgeschriebenen Kurse in Philosophie, Ethik und Geschichte beteiligen. 200 Studenten waren im Durchschnitt registriert. Harvard zählte 1840 nur 240 in seinen Mauern. In einzelnen Fällen wurde die Erlaubnis zu einem modifizierten oder abgekürzten Kurse gegeben, in diesen Fällen wurde das Studium der Klassiker, verkürzt und das der Naturwissenschaft verlängert. Ein solcher Kursus führte zu einem niedrigeren Grade, wie z. B. dem des Ph. B., wurde jedoch im allgemeinen gewissermaßen als „entartet“ betrachtet und nur von Seelen schwächeren Kalibers angestrebt.

2. Dieser Kursus war, im ganzen genommen, derselbe in allen Colleges und hatte sich ein Jahrhundert lang mit ganz unbedeutenden Änderungen erhalten*). Im ersten (freshman) Jahr wurden verlangt : Ciceros Abhandlungen, Livius, Herodot, Thukydides, und entweder Homer oder Lysias und Isokrates; Algebra und Geometrie. Im zweiten (sophomore) Jahre: Horaz, Cicero und Demosthenes; Trigonometrie, Astronomie, Maschinenlehre; französische und englische Rhetorik. Im dritten (junior) Jahre: etwas Lateinisch oder Griechisch, Übung im Aufsatzschreiben und Diskutieren; Astronomie, Chemie, Physik und vielleicht Physiologie. Endlich im letzten und höchsten Jahre : viel Verstandes- und Moral-Philosophie, Geschichte, und eine Wahl zwischen Deutsch und Geologie oder etwas ähnlichem.

*) Siehe Snow, Louis F., der College-Lehrplan in den Vereinigten Staaten. New York, Teachers College Veröffentlichungen. 1907.

3. Das College bot, frei heraus, weiter nichts, als was wir heute sekundäre Schulung nennen. Die Vorbereitung für den Eintritt wurde in den meisten Fällen innerhalb dreier Jahre vollendet. Die Schüler traten gewöhnlich mit 16 Jahren ein und graduierten mit 20. Obgleich es viele gab, die älter waren, so waren das meistens Ausnahmefälle: junge Leute, deren Ausbildung Unterbrechungen erlitten hatte, oder die sich spät entschieden hatten. Das Alter der Schüler stand in gutem Einklang mit dem Kursus und dem deutlich betonten Hauptzweck einer allgemeinen Schulung und Bildung. In der Tat, der Kursus war dem Alter des Schülers gemäß geplant worden. Die Wirkung dieses Kursus in bezug auf Charakterbildung und praktische Lebensweisheit kann gerade jetzt durch eine Vergleichung der älteren zur Zeit im öffentlichen Leben stehenden Männer, die ihre Schulung in den alten Colleges genossen haben, mit der jüngeren Generation erprobt werden; und man muß zugestehen, daß der Vergleich, während er für die letztere einige Vorteile in bezug auf Konzentration klar erkennen läßt, doch nicht die volle Sicherheit einer absoluten Überlegenheit gibt, die wir uns in unserem gewöhnlichem Optimismus vorzuspiegeln nur zu geneigt sind.

4. Nach Beendigung des Collegekursus wurde man entweder Geschäftsmann oder Lehrer, oder man wendete sich nach einem zwei- oder dreijährigen Studium der Jurisprudenz, Medizin oder der Theologie — gewöhnlich in einer Spezialschule, aber oft auch unter Privatleitung — einem praktischen Berufe zu. Das College war daher nicht durch schwere Bürden von oben belastet.

5. Die Professoren waren gewöhnlich eher Leute von allgemeiner Bildung und feiner Lebensart als Spezialisten des Entdeckertypus und zeichneten sich mehr aus durch persönliches Ansehen und Gewalt der Rednergabe als durch die Fähigkeit, nach Seite und Paragraph zitieren zu können. Sie lehrten durch das Gewicht ihres Charakters und nicht „wie die Schriftgelehrten“. Der Präsident war ein ehrwürdiger und gelehrter Mann, würdevoll, wo nicht streng, mächtig und allumfassend, das patriarchalische Haupt, der dem Ganzen innewohnende, alles mit seinen schützenden Fittichen bedeckende Geist.

6. In dem ganzen Verhältnis des Colleges zu dem Studenten lag ein Gefühl der Verantwortlichkeit für sein moralisches Wohlergehen, und bis zu einem gewissen Grade für sein Seelenleben, obgleich Glaube und Dogma keine Hauptrolle spielten.

7. Die Colleges waren ausschließlich Schulen für junge Männer. Es gab weder „Co-education“ noch Separat-Colleges für Mädchen. Vassar-College wurde nicht vor 1865 eröffnet, und mit Ausnahme einiger westlicher Colleges wie Oberlin*) und Antioch**) war „Co-education“ nicht üblich, bis im Jahre 1870 die Universität den Frauen ihre Tore öffnete.

8. Das Zusammenleben in den Dormitorien, der Umstand, daß man denselben Unterricht mit den anderen Klassen besuchte, und daß man durch die Unveränderlichkeit des Kursus dieselben Traditionen mit den anderen Klassen teilte, alles dies zusammen mit dem gemeinsamen Interesse, das durch den interkollegialen Sport angeregt wurde, diente dazu, die Mitgliederschaft in einem College zu einem Familienbunde zu gestalten, der sich in geselliger Loyalität bekundete. Dies gab das „kleine College“, als es heranwuchs, an das große College und die Universität weiter, und hierdurch ist einerseits die eigentümliche Loyalität und Ergebenheit erklärt, mit welcher der amerikanische „Graduate“ an seinem College und sogar an seiner Universität hängt, und andererseits ist auch in gewisser Hinsicht das Verhältnis bestimmt, in dem das College zu den reichen Privatleuten steht, die ihm ihre Unterstützungen zukommen lassen.

*) Ein co-educationales College seit 1850.
**) Seit 1853.

Dies war das altmodische College der Zeit von 1700—1865. In dem nächsten Kapitel folgen wir ihm in seinem Kampf mit dem steigenden Einfluß der Universität.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterricht und Demokratie in Amerika