IV. Die elastische Perspektive.

Beim Aufzählen der verschiedenen Eigenschaften, welche die spezielle geistige Physiognomie des amerikanischen Volkes ausmachen, haben wir uns bis jetzt besonders mit den Zügen befaßt, die mit einem hoffnungsvollen In-die-Zukunft-Blicken zu tun haben: Selbstvertrauen und Patriotismus, Prahlerei und Überhebung, Glauben an eine eigene Mission und ein Sichschicken des Individuums in den Willen der Masse mit der Gegenwirkung einer Gruppierung innerhalb der Masse als besondere Organisation. Dies dürfte genügen.

Es bleibt jedoch ein in die Augen fallender Gemütszug übrig, ohne Frage von gleichem Ursprung wie die obenerwähnten Charakterzüge, der aber mehr auf die Einzelwesen und deren Verhältnis zueinander und weniger auf deren Haltung der Nation gegenüber geht. Ich nenne ihn aus Mangel an einer besseren Bezeichnung den Gemütszustand der biegsamen (elastischen) Perspektive. Als zu ihm gehörig können eine ganze Anzahl von Charaktereigenschaften, die man dem Amerikaner zuschreibt, aufgeführt werden; alle entspringen jedoch nach meiner Überzeugung diesem psychologischen Grunde. Derartige Eigenschaften sind die Nachsicht gegen Lockerheit, Mißbräuche und sogar Humbug; die Antipathie gegen Hölzernheit und Gemeinheit, das Wohlgefallen an Vielseitigkeit, die geduldige Nachsicht gegen menschliche Schwächen, der Mangel an Ehrfurcht und die Vorliebe für den drastischen Humor drolliger Ungereimtheiten und greller Kontraste.


Wer die täglichen Berichte über unsere sogenannte laxe und korrumpierte Verwaltung, besonders in den Städten, und über die tollen Streiche und verwegenen Manipulationen unserer politischen Kampagnen liest, wird wahrscheinlich dadurch, daß er diese Berichte nicht in enger Beziehung mit dem Volkstemperament betrachtet, zu falschen Schlüssen in bezug auf die Trefflichkeit und Güte unserer Einrichtungen gelangen. Ist doch die Herrschaft der öffentlichen Meinung ihrem Geiste, ihrer Eigenart und ihrem Erfolge nach noch in höherem Maße durch diese Gruppe von Charakter -Eigentümlichkeiten bestimmt als durch alle politischen Kunstgriffe und Verfassungen.

Wenn wir betrogen worden sind, so sehen wir die ganze Sache gutmütig von der komischen Seite an und denken bei uns, daß wir es nicht anders verdienten, und daß wir uns das nächste Mal besser vorsehen werden; und wenn wir uns in dem Endresultat einer Wahl enttäuscht finden, so trösten wir uns mit dem Gedanken, daß die Sache am Ende doch so am besten für uns ist und alles schließhch gut ablaufen wird, oder daß wir uns bis auf die nächste Gelegenheit gedulden wollen und daß ja nicht aller Tage Abend ist. Ich traf vor einigen Monaten einen sehr plebejischen Dienstmann, der am Tage vorher mit seiner Kandidatur für eine städtische Beamtenstelle schmählich durchgefallen war; er sagte mir mit vor Freude strahlendem Gesicht, daß es eine große Genugtuung für ihn sei und er sich ungeheuer geschmeichelt fühle, so viele Stimmen erhalten zu haben, aber er sähe deutlich, die Leute könnten ihn in seinem Geschäft als Dienstmann nicht entbehren. Nichts verdammt einen Politiker sicherer zum Privatleben, als über eine Niederlage zornig oder grob zu werden. Sich seines Vorteils zum Zwecke persönlicher Rachsucht zu bedienen, ist anderseits sicher, Mißbilligung und Tadel zu begegnen. Alle mathematischen Bestrafungen, die den letzten Pfennig oder den letzten Tropfen Blut fordern, sind verhaßt und verabscheut wie jedes exakte und hölzerne und pedantische Verfahren in Sachen, in denen es sich um „Fleisch und Blut“ handelt. Jede Grausamkeit, jede schimpfliche Behandlung, sogar im Falle eines Verbrechers, geht dem Amerikaner gegen die Natur. Die Schwurgerichte sind immer milde — zu milde — gegen Frauen, überhaupt gegen die schwächeren Geschöpfe. Es ist oft schwer, für Verbrecher die gebührende Strafe zu erwirken. „Wir tun besser, wenn wir den vorhandenen Zweifel zugunsten des armen Kerls auslegen“, kann man oft hören. „Er ist Mensch wie wir: wir sind alle aus Gut und Böse zusammengesetzt; man kann nicht wissen, was aus uns geworden wäre, hätten wir dieselbe Erziehung erhalten wie er; man kann nicht wissen, mit was für Augen er die Sache angesehen hat“, — derartige Gedanken entstehen im Herzen der Leute und finden Ausdruck, und nicht etwa, weil man das Unrecht gutheißt, sondern weil man die Sache von einem andern Gesichtspunkte aus betrachtet und so der menschlichen Barmherzigkeit neue Perspektiven eröffnet.

Richard de Bary spricht in dem dreizehnten Kapitel seines „Land of Promise“ mit etwas überschwenglichen Worten und ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, von der amerikanischen nationalen Religion der munteren Aufgeräumtheit und des guten Humors. Das Kapitel enthält mehr Wahrheit, als die romantische Überschwenglichkeit der Sprache den wissenschaftlichen Leser dürfte erwarten lassen; ich zitiere daraus: „Der Gott, das höchste Wesen der amerikanischen Kultur, der die geistige Tätigkeit des ganzen amerikanischen Volkes beeinflußt, ist eine Art „Zeus-Apollo“ von ewigem gutem Humor und von belebendem und heiterem Interesse an dem Leben aller Menschen.“ „Gott erscheint so gutmütig und gnädig, daß man sich dadurch stärker versucht fühlt, gegen ihn zu sündigen. Fast die ganze zur Schau getragene Bestechlichkeit Amerikas ist das direkte Resultat des zu stark und ketzerisch zum Ausdruck kommenden Gefühls, daß der gute Humor die höchste Gottheit in sich verkörpere.“

Aber man würde sich sehr irren, wenn man diesen guten Humor für eine einfältige und gedankenlose Geistesschwäche oder gar für äußerste Unbekümmertheit oder Verantwortungslosigkeit, oder für die muntere kindische Sorglosigkeit etwa der Hawaiier nähme; man muß ihn vielmehr als eine beständige Stimmung unbewußter Opposition gegen jene bindende Lebensanschauung betrachten, die nur eine Norm für relative Werte kennt, und die den Menschen veranlaßt, sich selbst und die unbedeutenden Begebenheiten seines Lebens zu ernst zu nehmen. „What difference will it make a hundred years from now?“ ist der oft wiederholte Dionysische Schrei, der mit dem plötzlichen Auftauchen einer neuen Perspektive sich hören läßt und zur Verjagung von Verdruß und Sorge auffordert. Das ist es eben, was der Dionysos im griechischen Leben vertrat, er war die Gottheit der biegsamen Perspektive.

Bryce gibt zu, daß wir nicht grade „ein ehrerbietiges Volk“ sind; die meisten nennen uns unehrerbietig. Dies kann nicht meinen, daß wir Stärke und Größe des Charakters in einem Menschen nicht bewundem, denn wir unterwerfen uns bereitwillig einem Führer; noch daß wir der Ehrfurcht vor dem Göttlichen und Ewigen ermangeln, denn das amerikanische Volk ist tief religiös; noch daß wir es an Respekt vor der edlen Tat, vor dem großen und erhabenen Ideal oder Kunstwerk fehlen lassen, denn kein Volk hat aus eigenem Antriebe und aus eigenen Mitteln größere Opfer für derartige Dinge gebracht; noch daß wir Autorität verachten, denn bei keinem hat das Gesetz, dem sie gehorchen, tiefere Wurzel geschlagen als bei uns. Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, daß wir von Würdenträgem oft in geringschätziger Weise sprechen und über die Hoheiten etwas vorlaut urteilen: es geht uns gegen den Strich, von den Toten regiert zu werden, und wir weisen ganz allgemein und mit Hitze die Idee zurück, daß eine für uns bindende Autorität ihre Sanktion von der Vergangenheit herleiten kann; wir proklamieren und zwar zu Zeiten mit lauter Stimme eine persönliche Unabhängigkeit, die fast wie Gesetzlosigkeit und Anarchie klingt. Aber all dieses muß als im hohen Maße mit unserer oben besprochenen nachsichtigen Milde und dem uns zuerkannten guten Humor in demselben psychologischen Gesichtskreise liegend verstanden und ausgelegt werden, d. h. es ist in erster Linie auf einen Effekt auf jene langweiligen Seelen abgesehen, die sich in den Schranken traditionellen Denkens haben fangen lassen und nun des Chocs einer Explosion bedürfen, um davon wieder frei zu werden, und es ist manchmal wenig mehr als eine etwas grillenhafte und launische Art und Weise, persönlicher Freiheit und der Emanzipation vom toten Buchstaben Ausdruck zu verleihen.

Die Lieblingsform des amerikanischen Witzes, die ich bereits als „eine Vorliebe für den drastischen Humor drolliger Ungereimtheiten und greller Kontraste“ charakterisiert habe, ist so augenscheinlich in derselben Form mit der Unehrerbietigkeit, der Nachsicht und der Liebe für Vielseitigkeit gegossen, daß dieses Zusammentreffen als sicherer Beweis dafür gelten kann, daß die Stimmung der biegsamen Perspektive der allumfassende Charakterzug ist. Als Beispiel für den übertreibenden Humor führen wir die Beschreibung Muirheads von der Gewalt eines Zyklons in Nebraska im westlichen Amerika an: eine Frau sah plötzhch von ihrer Gartenarbeit auf und bemerkte, „daß die Luft vollständig schwarz von ihren intimsten Freunden war“; und für die grellen Kontraste haben wir ein Beispiel in der Unterhaltung zweier Frauen: „Wer ist das denn, der solch einen Radau auf dem Entrée macht und so laut flucht?“ — „Oh, ich vermute, mein Mann ist nach Hause gekommen und ist über meinen neuen persischen Gebetsteppich gestolpert.“ Die Amerikaner haben großen Gefallen an derartigen Geschichtchen, aber die Engländer, soweit ich es beurteilen kann, nicht. Die letzteren scheinen Witze vorzuziehen, die, wie Muirhead erkannt hat, eine etwas gesetztere und syllogistischere Form haben, sowie gebührend angekündigt und etiquettiert sind. Und hierdurch ist dem wechselseitigen Verständnis der beiden Völker eine Schranke von nicht zu verachtenden Dimensionen errichtet worden.

So ist denn in dem amerikanischen Volke eine anerkannte Grundlage für die öffentliche Meinung in dem Besitze einer stark betonten gemeinsamen Lebensanschauung vorgesehen; sie tritt in einer Anzahl von Zügen zutage, die allen Leuten trotz ihres verschiedenen Herkommens und ihrer verschiedenen Aufgaben gemeinsam sind, weil sie alle aus dem vorherrschenden sanguinischen Temperament des Landes hervorgehen. Es ist ein großes Land; es hat eine große Zukunft. Die Dinge gestalten sich immer besser: das Volk hat die Absicht, das Rechte zu tun, und es wird das Rechte tun, wenn es nur weiß, wie es geschehen kann; aber vor allen Dingen hat es die Überzeugung, daß mit der Zeit schließlich doch das Recht siegen muß. Dies ist der Glaube der überwältigenden Masse, der Masse des sogenannten gewöhnlichen Volkes.

Man füge hierzu noch einige Züge der äußeren Form, die dazu dienen, den innern Geist in Betrieb zu erhalten: eine gemeinsame Sprache, gleiche Unterhaltungsgegenstände, wie sie durch das unverhältnismäßig viele Lesen von Zeitungen mit ihrem gemeinsamen Bestand von Neuigkeiten gegeben sind; gleiche Kleidung, die überall und von allen Klassen getragen wird — die Hüte und Ärmel der Frauen von Montana und Michigan dehnen sich aus und schrumpfen zusammen gleichzeitig mit denen der New Yorker Frauen; die Unstetigkeit und die Vermischung der Bevölkerung, durch die, wie der Census dargetan, mehr als ein Fünftel der im Lande Geborenen in anderen Staaten wohnen, als in denen sie geboren sind; gleiche Schulen, die einem Fünftel der Bevölkerung und darüber (in Wirklichkeit zwei Neuntel) gleiche Unterrichtsgegenstände bieten; gleiche Gebrauchsgegenstände unter einer unbeschränkten binnenländischen Handelsfreiheit, durch Schutzzölle von der ganzen übrigen Welt abgeschlossen; und schließlich gleiche Regierungsmaschinen und Verwaltungsmethoden.

Man addiere diese und zähle noch hinzu die herrschende Gewohnheit des offenen Diskutierens der öffentlichen Angelegenheiten und die allgemeine Erwartung, daß die herrschende Meinung schließlich angerufen werden wird, die Tagesfragen beizulegen, und man hat den vorbereiteten Grund und Boden, aus dem die öffentliche Meinung sich zur gewaltigen Beherrscherin der Nation erhebt. Dies setzt durchaus keine monotone Gleichförmigkeit voraus, dafür aber eine leidliche Gewißheit einer bestimmten Unterströmung hinsichtlich Richtung und Neigung der öffentlichen Meinung, dazu angetan, eine Entscheidung in einem konkreten Falle von Maßnahmen, Handlungen oder Personen herbeizuführen.

Das Zählen der in einer nationalen Wahl abgegebenen Stimmzettel ist durchaus kein Maßstab für den Umfang und die Stärke der öffenthchen Meinung, außer daß das Sichneigen der Wagschale auf diese oder jene Seite gewohnlich durch ihre Tendenz bestimmt wird. Sogar wenn die Meinung vollständig entschieden ist, ist doch nur eine Mehrheit von etwa einer Million bei vierzehn und einer halben Million Stimmen vorhanden. Im Jahre 1904 erhielt Roosevelt 7.600.000; Parker 5.000.000 Stimmen; dies aber ausnahmsweise. Fünf Millionen auf einer und sieben Millionen auf der anderen Seite sieht nicht wie eine entschiedene Äußerung der öffentlichen Meinung aus. Das Schlimme ist, daß hier der Prüfungsapparat auf alle erdenkliche Weise gestört und in Unordnung gebracht wird. Man stimmt für eine Partei in Übereinstimmung mit seinen eigenen Traditionen; zwei Männer, die dieselbe Meinung haben, stimmen für entgegengesetzte Parteien, jeder in der Erwartung, daß im allgemeinen seine Ansichten auf diese Weise verwirklicht werden können; die Programme entgegengesetzter Parteien sind eher abgefaßt, sich einer Meinung anzupassen, die man für die herrschende hält, als strittige Punkte in derselben zutage treten zu lassen; örtliche Interessen und Zustände sind von großem Gewicht; eine Frage wird in einer Gegend über alle Verhältnisse hinaus vergrößert, andere in anderen; die Fragen sind dunkel und zweideutig und die öffentliche Meinung tappt im Ungewissen. Und nun zu der Art und Weise, in der die öffentliche Meinung Gestalt annimmt! Man darf auch nicht einen Augenblick annehmen, daß dies ein Prozeß der Überlegung ist, noch daß es im Formulieren von Theorien über die Natur des Verwaltungswesens, über Menschenrechte, oder über Haushaltungskunst, Staatswissenschaft und höhere Finanz besteht. Versuche sind gemacht worden und zwar nicht ohne Erfolg, jene Formulierung durch Theorie oder quasi-Theorie zu beschleunigen, und Phrasen, die den Wahlkampf überleben, wie z. B. „ein öffentliches Amt ist ein öffentlicher Vertrauensposten“, haben nicht verfehlt dem Volke politisch denken zu helfen und es zu einer gewissen Beharrung beim Zweck anzuhalten. Die Beredsamkeit der öffentlichen Wahlkampagnen gibt sich weniger mit logischer Beweisführung und der Erteilung von Auskünften ab als mit der Erregung der Gefühle, dem Appellieren an Eindrücke, Vorurteile und Kenntnisse, die das Volk bereits besitzt, und mit dem Anspornen zu sofortigem und vereintem Handeln. Die öffentliche Meinung selbst nimmt wie die meisten der individuellen Meinungen, aus denen sie besteht, mehr wie eine Sache der Intuition als des Verstandes Gestalt an und ist ein halbbewußtes Erzeugnis vieler Erfahrungen, vieler Einflüsse und mannigfaltiger Gerüchte und Darstellungen von Tatsachen.

Ein einziger Vorfall, fast in der Natur eines Zufalls, kann dazu dienen, plötzlich eine klare und feste Richtung der öffentlichen Meinung zu enthüllen, deren Existenz kaum von denen vermutet war, deren Geschäft es eingestandenermaßen ist, auf diesem Gebiete bewandert zu sein. So enthüllte z. B. das Sinken der „Maine“ im Hafen von Habana, obgleich man heute noch nicht weiß, wie es dazu kam, daß das Volk der spanischen Mißregierung auf Cuba überdrüssig war, und obgleich unsere gewiegtesten Staatsmänner eifrig bemüht waren, dem Kriege vorzubeugen, blieben ihre Bemühungen von Anbeginn an erfolglos und wurden bald aufgegeben. Eine einzige Handlung eines Staatsmannes ist imstande, einen Sturm öffentlichen Beifalls oder Mißfallens, auf den niemand gerechnet hatte, hervorzurufen; aber sobald einmal ein solcher Wahrspruch des Volkes gefällt ist, nimmt die Maßnahme, die es vertritt, ihren Platz in der festen Fügung der Staatsregierung ein, und kein Politiker wird sich unterstehen, unberufene Ändenmgen daran vorzunehmen; — und dies nicht etwa aus Respekt vor einem voreiligen Urteil, sondern aus einer heilsamen Furcht vor der im Hintergrunde stehenden kompakten Meinung, die sich durch diese Schnelligkeit des Urteils dartut. Die augenblickliche Antwort des Präsidenten Cleveland vom Jahre 1895, Venezuela betreffend, kam für viele an beiden Seiten des atlantischen Ozeans und sogar für einige von den eigenen Amtsgenossen des Präsidenten überraschend, aber ihrem Inhalt wurde Rechnung getragen; sie hat jetzt einen gesicherten Platz in der festbegründeten Politik der Nation. Sollten einige heftige Worte darin enthalten gewesen sein, so sind sie schon längst als zufällig und nebensächlich gestrichen worden. Das Volk wollte nicht Krieg, aber seine Antwort ließ den festen Willen erkennen, soweit sein Einfluß und seine Macht reiche, darauf zu bestehen, daß die beiden Kontinente Amerikas aus dem Dazwischenliegen des Atlantischen Ozeans Nutzen ziehen sollten, und zwar insofern, als Fragen betreffs territorialer Souveränität in den Ländern westlich vom Atlantischen Ozean nicht jenen willkürlichen Machtverfügungen unterworfen sein sollten, die in den Ländern östlich desselben für rechtskräftig angesehen werden.

Was schließlich die Organe für die Vorbereitung und den Ausdruck der öffentlichen Meinung betrifft, so sind vor allem die folgenden zu erwähnen: erstens die Maschinerie der Regierung und Politik, zweitens die Presse, drittens die Kirchen und andere soziale, ethische und religiöse Organisationen, viertens die Schulen in ihrem ganzen Umfange.

In den unter „erstens“ angegebenen Organen ist das Wirken und Arbeiten der Politik und der Parteien für uns von größerer Wichtigkeit als der formale Mechanismus der Regierung: denn obwohl dieser Mechanismus dazu bestimmt ist, den Willen der Menge zu erkunden und zum Ausdruck zu bringen, paßt er sich nicht eng genug weder an sein Material noch an die Machtquelle an. Er ist nicht genügend fein und schmiegsam. Wenn wir wissen wollen, wie das amerikanische Volk heute regiert wird, müssen wir unser Hauptaugenmerk Dingen zuwenden, die nicht in Verfassungen oder Freibriefen beschrieben oder in den Gesetzen erwähnt sind.

Was Punkt zwei anbetrifft, so steuern die Tagesblätter durch ihren Bestand an Neuigkeiten zu dem Material bei, aus dem die öffentliche Meinung bereitet wird; aber ihre Leitartikel haben in den letzten Jahren viel Kraft eingebüßt, die öffentliche Meinung zu gestalten, und noch mehr, sie zu lenken, und die Versuche, sie durch „Färbung“ der Nachrichten zu beeinflussen, sind naturgemäß nur von kurzer Wirkung und veranlassen einen nur noch größeren Verlust an Einfluß. Das wird je mehr und mehr der Fall, da heute ein großer Teil der Bürgerschaft täglich mehrere Zeitungen liest, eine hebt die andere auf. Die Wochen- und Monatsschriften üben aber noch immer einen gewissen leitenden Einfluß aus.

In den sozial-religiösen Organisationen liegt noch eine sehr beträchtliche Macht, auf das Verhalten der öffentlichen Meinung, sobald es sich um die Rechte der Gesellschaft und die öffentlichen Pflichten handelt, bestimmend einzuwirken, und in besonderen Fällen, die direkt mit Fragen der Moral zu tun haben, kann von dieser Macht, die Meinung zu gestalten und zu leiten, sogar wirkungsvoller Gebrauch gemacht werden.

Das mächtigste aller Instrumente für die Schaffung des Materials zu einer herrschenden und regierenden Meinung sind aber die Einrichtungen des Unterrichtswesens. Überall ist man ernstlich darauf bedacht, in erster Linie Schulungsstätten der Bürgertugend aus ihnen zu machen; dies trifft besonders bei den öffentlichen Schulen zu. Ihr Same wird in alle Welt getragen. Ein bißchen Sauerteig, dort hineingesteckt, durchdringt in kurzer Zeit die ganze Nation. Als ein Beispiel hierfür kann man die gegenwärtige plötzlich entstandene starke Bewegung auf das Schließen der Bars ansehen, die unfehlbar die Folge einer fünfzehnjährigen Belehrung in den Schulen über die physiologischen Wirkungen alkoholischer Getränke ist. In den letzten Jahren hat sich auch der Unterricht im „politischen Verfahren und bürgerlicher Pflicht“ (Civics) an allen öffentlichen Schulen in fruchtbarster Weise entwickelt. Der neu entstandene und vielfach mit Recht an den Namen und die persönliche Wirkung von Roosevelt angeknüpfte politische Idealismus hat teilweise seinen Boden in diesem Einfluß der Schulen.

Was die höheren Institute anbelangt, so enthält Bryces Bemerkung (American Commonwealth II. S. 304) viel Wahrheit: „Die Sitze der Wissenschaft und Erziehung sind gegenwärtig sehr einflußreiche Machtzentren für den Fortschritt und das Bilden einer gesunden öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten.“ Noch zutreffender wäre dieser Satz, wenn er hieße: „ sind bei weitem die einflußreichsten Machtzentren . . .“. Die dicht über das ganze Land gesäten Kolleges und Universitäten mit ihren 300.000 Studenten, die sich aus allen Elementen der Bevölkerung ohne Klassenrücksichten rekrutieren, erziehen und begeistern die Leute, welche dazu bestimmt sind, in ihrem Lebensberuf die öffentliche Meinung zu gestalten und zu lenken, und zwar kommt es auf die Art des Berufes durchaus nicht an; die Beeinflussung geht nicht allein, ja, nicht einmal hauptsächlich, von den Spezialisten der Staatswissenschaften und der Rechte aus. Aber noch mehr als dies, die Universitäten haben Gewicht als Gemeinden: sie sind mit Fragen beschäftigt, die von höchster Bedeutung für den Staat sind; sie sind verhältnismäßig frei von selbstischen Interessen und politischen Beweggründen; sie haben einen Gesichtspunkt, der ganz ihr eigener ist und auf wissenschaftlichen Ermittelungen beruht — das Publikum hat zu diesem neuen wissenschaftlichen Richterstande Vertrauen gefaßt und geht ihn mit jedem Jahre mehr um Rat und Auskunft an; und schließlich reichen diese Gemeinden durch das feste Band der Loyalität ihrer Schüler und Graduierten hinein in alle einflußreichen Berufe, indem sie intellektuelle Ideale befestigen und sie in einer fest organisierten Gesellschaft verschanzen.

Zu einer rechten Würdigung des Einflusses der Universitäten kommt man jedoch erst, wenn man einen tieferen Blick in ihr Wesen und Wirken getan, wenn man sich wirklich klar geworden ist, was sie sind. Wir werden in den folgenden Kapiteln versuchen, ein anschauliches Bild von ihrer Bedeutung und ihrer zum Dienste der öffentlichen Meinung bestimmten Entstehung zu geben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterricht und Demokratie in Amerika