III. Optimismus und Fatalismus.

Robinson, H. Perry. The Twentieth Century American. Putnams, New York und London, 1908. — Muirhead, James F. America the Land of Contrasts. London, 1907. — Low, A. Maurice. America at home. London, igo8. — Brooks, John Graham. As others see us. NewYork, Macmillan, 1908. — Butler, Nicholas Murray. The American as he is. N. Y. Macmillan 1908. — Münsterberg, Hugo. American Traits from the point of view of a German. Boston, 1901. — Münsterberg H. The Americans. N Y., 1904.

Wir sprachen in dem vorhergehenden Kapitel von der Schaffung einer gemeinsamen Grundlage für eine öffentliche Meinung in Amerika einerseits durch die Ausbildung eines gleichförmigen Verkehrsmediums und anderseits durch das Emporwachsen eines gemeinsamen Stolzes in die Einrichtungen und Ideen des Landes, eines Stolzes, der in Gestalt eines intensiven und helltönenden Patriotismus zutage tritt. Dieser letztere muß jedoch nur als eine Phase jenes Systems von Stimmungen, Gemütszuständen und Gepflogenheiten, die wir unter dem Namen „amerikanischer Esprit“, oder kurzweg „Amerikanismus“, verstehen, angesehen werden. Man kann wirklich ernsthaft von „Amerikanismus“ sprechen, wie sehr das Wort auch von den Demagogen mißbraucht und in Verruf gebracht ist, und wie viel kindischen Chauvinismus oder unwissende Unterschätzung anderer Länder der Gebrauch dieses Wortes geborgen haben mag. Er repräsentiert außerdem die Wirkung der ungeheuren und zugleich eigenartigen Absorptions- und Nivellierkraft des Landes als Vorbereitung der Grundlagen der Republik, wie tief der Neu-Engländer seine Existenz auch bedauern und wie sehr der Weltbürger und Anglomane ihn verwerfen mag oder ihn zu entschuldigen sucht.


Sein erster und hauptsächlichster Bestandteil, das Universal-Lösungsmittel aller, ist ein starker, prächtiger Optimismus. James Fullarton Muirhead, der englische Verfasser von Baedekers „Handbook to the United States“, ein Mann, der vielleicht von allen lebenden Ausländern, sogar Bryce nicht ausgenommen, die beste Gelegenheit gehabt hat, die Einzelheiten des amerikanischen Lebens in allen Teilen des Kontinents kritisch und objektiv zu studieren, und der in seinen Betrachtungen über amerikanische Zustände nicht nur eine umfassende Kenntnis, wie sie kaum je ein Amerikaner besessen, sondern auch ein außerordentlich glückliches Ausdrucksvermögen und eine bewunderungswürdige Genauigkeit in seinen Verallgemeinerungen an den Tag gelegt hat, gibt in seinem kürzlich erschienenen Buche „The Land of Contrasts“ Seite 274, das folgende, äußerst treffende Resumé der wesentlichen organischen Bestandteile des „Amerikanismus“. „Er schließt in sich ein Gefühl unbegrenzter Ausdehnungskraft und unbeschränkten Entwicklungsvermögens; ein fast kindliches Vertrauen auf menschliche Fähigkeit und eine Furchtlosigkeit hinsichtlich der Gegenwart sowohl wie der Zukunft; eine umfassendere Verwirklichung einer menschlichen Bruderschaft, als je existiert hat; eine größere theoretische Bereitwilligkeit, eher nach dem Individuum als nach Klassen zu urteilen; eine nonchalante Gleichgültigkeit gegen Autorität und eine außerordentliche Vorliebe für Neuerungen; eine bemerkenswerte Munterkeit des Geistes und eine mannigfaltige Verschiedenheit des Interesses; vor allem jedoch eine unauslöschliche Hoffnungsfreudigkeit und einen niemals wankenden Mut.“

Wir werden sehen, daß durch alle diese Züge als der goldene Faden, der sie alle zu einem Charakter vereinigt, die Eigenschaft des Optimismus läuft. Sie beginnen mit „einem Gefühl unbegrenzter Ausdehnungskraft und unbeschränkten Entwicklungsvermögens“ und enden mit „einer unauslöschlichen Hoffnungsfreudigkeit und einem niemals wankenden Mut“. Der Amerikaner glaubt instinktiv, daß ein kolossales Stück Arbeit noch unverrichtet, ein weiter Spielraum, in dem ein schöpferischer Eifer für Besserung sich betätigen kann, vorhanden und dem Einzelwesen eine gute Gelegenheit gegeben ist, einzuspringen und sich in tüchtiger Arbeit auszuleben. Man lebt immer in der frohen Erwartung, daß das kommende Jahr besser als sein Vorgänger ausfallen werde, man berichtet Erfolge und vergißt Mißerfolge. Das Schlimmste, was einem Manne passieren kann, ist, sich vom Unglück verfolgt zu wissen; Mißerfolg ist das Abnorme und Zufällige, das Normale ist Wachstum und Verbesserung. Jede Stadt, jedes Städtchen muß wachsen und sich entwickeln; und wenn das nicht geschieht, so wird ein „Förderungskomitee“ ernannt, um die Ursachen der Stockung festzustellen, sie zu beseitigen und für den Fortschritt zu sorgen. Der Glaube an die eigene Kraft, Spekulation und Reklame treten in Aktion. Glaube schafft, es ist „eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet“. Es hat „Königreiche bezwungen, Gerechtigkeit gewirket, die Verheißung erlanget, der Löwen Rachen verstopfet“. Das Schlimmste, was ein Mann über eine Stadt sagen kann, ist, was ich einen alten „westerner“ über seine Geburtsstadt Owego, New York, äußern hörte, als er nach dreißigjährigem Aufenthalt im unternehmenden Westen sie wieder besuchte: „Sie kommt mir vor wie eine „fertige Stadt“ (it locks to me like a finished town)“.

Wir wissen, daß die Welt uns wegen unseres scheinbar törichten Optimismus auslacht, und wir wissen, sie sieht den Typus des Erzoptimisten in dem Manne, der aus einem Fenster im sechsten Stockwerke fiel, und den man, als er am zweiten Stockwerke vorbeikam, sagen hörte, „soweit ist alles in schönster Ordnung“; aber wir lassen uns nicht einschüchtern, ,Bangemachen gilt nicht!‘ Bisher hat sich Optimismus bei weitem öfter als richtig erwiesen als Pessimismus. Keine der trüben Prophezeiungen, die die Pessimisten im Hinblick auf unsere Demokratie gemacht haben, ist in Erfüllung gegangen; man denke z. B. an de Toqueville und das Fiasko seiner Voraussagungen. Und dann sehen wir auch nicht, daß die Pessimisten so viel vor sich bringen. Die Sachen, vor denen sie uns mit ihrem ewigen „lest we forget“ (man bedenke) warnen, sind am Ende gar nicht das, was wir vermieden haben sollten. Und dann schaffen sie nichts Neues, sondern versuchen nur niederzureißen. Daher haben wir nicht viel mit diesen Jeremiahs im Sinne. Wir halten sie für gute Leutchen, die es aller Wahrscheinlichkeit nach wohl meinen; aber ihre Leber ist nicht ganz in Ordnung. Wir ziehen es vor, Männern zu folgen, die wirklich etwas vollbringen und durch ihren Glauben Berge versetzen, und daher haben wir uns in unserem Geschäftsleben und in allem anderen das Motto des „boomers“ zum Text genommen: „Boost, don't knock“ (hilf schieben und nörgle nicht!).

Der Amerikaner ist viel überschwenglicher, demonstrativer als sein weniger redegewandter englischer Vetter, und seine Gesprächigkeit zusammen mit seinem patriotischen Optimismus haben ihm den Ruf eines Prahlers verschafft. Uns ist das so oft gesagt worden, und besonders treffend von Charles Dickens in seinen „American Notes“ und „Martin Chuzzlewit“, daß wir es alle jetzt wissen und das Urteil des Engländers über den Niagara wohl verstehen können, das lautet: „One thing that is up to the brag (wenigstens etwas, das nicht übertrieben ist)!“ Wir müssen zugeben, daß wir von den Superlativen „größtes Land“ und „höchstes in der Welt“ etwas zu häufig Gebrauch machen, aber wir bitten die Völker der Welt, mit uns gütig zu Gericht zu sitzen in Anbetracht dessen, daß wir uns so oft im Dienste der Wahrheit zum Gebrauch von Superlativen gezwungen sehen. Es ist ohne Zweifel wahr, daß Kipling bei Gelegenheit seines ersten Besuches in Chicago, wie er selbst erzählt, zu verstehen gegeben wurde, daß das „Palmer House“ das feinste Hotel in der feinsten Stadt auf Gottes Erdboden“ wäre, und wir fühlen uns durchaus nicht veranlaßt, Professor Lamprechts Erzählung zu widerlegen, daß ihm in Colorado, nachdem er mit allen möglichen denkbaren Superlativen regaliert worden, schließlich ein Trunk des „reinsten Wassers der Welt“ angeboten wurde.*)

Die prahlerische Selbstüberschätzung, die alle fremden Besucher in der Mitte des verflossenen Jahrhunderts als offenbar charakteristisch für uns bemerkten,**) ist, wie ich zu meinem größten Bedauern zugeben muß, auch heute noch nicht ganz verschwunden. Sie findet, wenn ich meiner Fähigkeit, die Psychologie meines eigenen Volkes auszulegen, trauen darf, ihre Erklärung in dem halbbewußten Streben, die Herabsetzung oder Herablassung, die wir, vielleicht aus zu großer nationaler Empfindlichkeit, in der Haltung unserer engHschen Blutsverwandten uns gegenüber zu bemerken glaubten, zurückzuweisen und heimzuzahlen. Wir erbten einen Widerwillen dagegen, nach englischen Normen beurteilt zu werden, als ob wir, so weit wir anders geartet sind, abtrünnige Engländer wären. Wir fühlen uns als ein besonderes Volk mit eigenen Normen und Idealen. Der englische Historiker Freeman hat sehr richtig bemerkt, daß „jeder Amerikaner einen größeren Unterschied zwischen sich und dem Engländer Britanniens fühlt, als der Engländer Britanniens zwischen sich und dem Amerikaner“. Die Engländer wissen dies jedoch gewöhnlich nicht. Jeder Amerikaner fühlt in der Gegenwart eines Engländers das Aufsteigen einer instinktiven Neigung, dessen ruhiger, sich immer gleichbleibender Selbstgewißheit mit einem Ausbruch von Anmaßung zu begegnen. Dieses instinktive Gefühl ist sicherlich für einen großen Teil der uns nachgesagten Empfindlichkeit englischer Kritik***) gegenüber verantwortlich.

Was den gegenwärtigen Stand der amerikanischen nationalen Selbstüberschätzung betrifft, so dürfen wir hoffen, daß Bryces Urteil (American Commonwealth II, S. 849) begründet ist: „Vor fünfzig Jahren stolzierten die Amerikaner in eitler Überschätzung ihrer eignen Größe und Freiheit einher und sahen mit Verachtung auf die Lehren der „ausgemergelten“ Monarchien der Alten Welt, die ihnen mit verächtlicher Gleichgültigkeit heimzahlten . . . Jetzt, wo Europa ihre Kraft bewundert, sie ihres Reichtums beneidet, sich von ihnen in nicht wenigen Dingen Rats erholt, sind sie bescheidener geworden und hören willig auf Redner und Schriftsteller, welche ein Langes und Breites über ihre Fehler und Schwächen reden. Sie fühlen sich stark genug, ihre Schwächen anzuerkennen, und sind ängstlich darauf bedacht, daß das moralische Leben der Nation seiner wachsenden Glücksumstände würdig sei.“

*) Americana, S. 68.

**) Siehe John Graham Brooks interessantes Kapitel (Kap. IV) über diesen Gegenstand in seinem kürzlich erschienenen Buche ,,As others see us“.

***) Die gegenwärtige Haltung der amerikanischen Stimmung England gegenüber ist in dem Anfangskapitel von H. Perry Robinsons Buch „The Twentieth Century American“, New York and London, 1908, mit großem Scharfsinn behandelt worden.

Eine Form dieser uns von den Ausländern zugeschriebenen Selbstüberhebung hat jedoch, obgleich sie mit den Jahren einen milderen und mäßigeren Ausdruck angenommen hat, nicht viel von ihrer ursprünglichen Kraft unter den Massen eingebüßt, und das ist die Überzeugung, daß das Land eine „besondere Mission“ zu erfüllen hat. Ein fremder Beobachter hat gesagt, wir schienen fest zu glauben, daß unsere Nation unter der Leitung einer ganz besonders für uns reservierten Vorsehung stehe, aber ich bezweifle, daß Theologie mit der Sache irgend etwas zu tun hat. Der DurchschnittsAmerikaner glaubt jedoch, daß sein Land eine besondere Aufgabe zu erfüllen hat, daß es ein Obdach ist für die Nicht-Privilegierten, die Enterbten anderer Nationen; daß es als ein reiches Feld von Entwicklungsmöglichkeiten bis zuletzt gelassen ist. Er hält es dafür bestimmt, eine neue Rasse zu schaffen, um dem Namen „Menschheit“ eine bisher unbekannte Bedeutung zu geben. Er meint, daß seine Lehre der Selbstverwaltung ein neues Evangelium ist, das den Menschenkindern ein neues Leben eröffnen soll; daß die Zukunft sein ist; daß ein besonderes Geschick seiner wartet, und daß für ihn „sich alle Dinge zum Guten kehren müssen“. Wenn dies Theologie ist, dann mag es dabei bleiben: denn es ist die Tatsache. Aber sollte es nicht Fatalismus sein? Bryce hat in seinem American Commonwealth dem Fatalismus der Menge, wie er es nennt, ein ganzes Kapitel (Kap. LXXXV) gewidmet, und obgleich er den Stoff seiner Erörterung nicht direkt mit diesem „Glauben“ an ein Geschick, unter dessen Führung sich alles zum Guten kehren soll, verbindet, so hege ich doch keinen Zweifel, daß diese Verbindung vorhanden ist und daß seine Begründung darin beruht. Er spricht nämlich von jenem „Gemütszustand“, der ,;die Menschen dazu veranlaßt, sich in den Willen der Menge zu schicken“, „dieser Neigung zum Sichfügen und Sichschicken, diesem Gefühl der Bedeutungslosigkeit der Bestrebungen des Einzelwesens, diesem Glauben, daß die Geschicke der Menschen von großen Massen gelenkt werden, deren Bewegungen man wohl studieren, aber nicht ändern kann“. Dies nennt er den Fatalismus der Menge zum deutlichen Unterschiede von der Tyrannei der Majorität. In die letztere ist ein Zwang und die Ausübung von Gewalt mit einbegriffen, während der erstere „einen Verlust an Widerstandskraft, ein verringertes Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit und der Pflicht, für seine Überzeugungen einzustehen,“ in sich schließt.

Es ist wahr, der Amerikaner nimmt den Wahrspruch der Wahlen oder irgend einen anderen klaren Ausdruck der öffentlichen Meinung ohne Klagen oder Widerstand entgegen und hat wenig Mitgefühl für den, der nicht gute Miene zum bösen Spiel machen kann. Das Spiel ist vollständig nach den Regeln gespielt worden, und wer es verloren hat, tut am besten, eine heitere Miene aufzusetzen, sich wieder einen Platz zu suchen und unter den neuen Verhältnissen zu arbeiten, bis einmal die Zeit kommt, wo die Chancen für ihn vielleicht besser stehen; aber er bleibt zu der Auffassung geneigt, daß sich alles doch noch als zu seinem Nutzen und Frommen erweisen wird, daß die Leute ja wissen, was sie wollen, und meistens die besten Absichten und vernünftiges, richtiges Gefühl haben, und ein Mensch könne doch nicht verlangen, daß ihm immer alles nach Wunsch geht. Und so ist es dann doch Optimismus, ein Glauben an das Volk, — und ein Glauben, wenn Sie wollen, an ein Geschick, das wechselt und verwirft, lenkt und umwirft, bis seine Zwecke zur Zufriedenheit aller erfüllt sind, aber nicht ein Glaube an ein Geschick, das stumpfsinnig mechanische Resultate annimmt.

Es mag ferner auch wohl wahr sein, daß im Angesicht der Millionen von Meinungen und der Millionen von Stimmen der Einzelne sich zeitweilig von der Masse mit fortgerissen und in in derselben verloren fühlt. „Es erfüllt einen,“ um noch einmal die Worte von Bryce zu zitieren, „mit einer Art Ehrfurcht, einem Gefühl persönlicher Machtlosigkeit, dem vergleichbar, welches sich unsrer bemächtigt, wenn wir die majestätischen und ewigen Kräfte der leblosen Welt betrachten .... So wächst denn aus den beiden gemischten Gefühlen, nämlich, daß die Menge die Oberhand gewinnen wird und daß die Menge, weil sie die Oberhand gewinnen wird, im Rechte sein muß, ein Mangel an Selbstvertrauen, eine Verzagtheit, eine Neigung, sich dem Haufen anzuschließen, sich in die herrschende Meinung zu schicken, Gedanken sowohl wie Handlung der allumfassenden Macht der Zahl unterzuordnen.“

Dies könnte alles der Fall sein, — und es würde auch wohl so sein, wenn die Macht, deren Gegenwart das Individuum fühlte, als hölzern, mechanisch oder fremdartig aufgefaßt würde. Wie gesagt, dies könnte die Wirkung sein, aber sie ist es nicht. Die Masse wird als freundlich und blutsverwandt angesehen. Und der Beweis hierfür ist, daß gerade dies Gefühl der Verlassenheit nicht Erschlaffung und ein Gefühl der Machtlosigkeit, sondern neue soziale Lebenskraft hervorbringt. Diese Lebenskraft zeigt sich in einem Streben nach geselligem Zusammenleben. Die amerikanische Bevölkerung arbeitet mächtig darauf hin, sich zu Gruppen, Gesellschaften, Parteien zusammenzutun. Gesellschaften existieren und werden für alle erdenklichen Zwecke und zur Behandlung aller möglichen Probleme organisiert: religiöse, philanthropische, soziale, wissenschaftliche, patriotische, für Sports- und Erziehungszwecke, und alle nehmen nach und nach nationale Gestalt an, wie z. B. The American Sunday School Union (Vereinigung der amerikanischen Sonntagsschulen), American Bible Society (Amerikanische Bibel-Gesellschaft), American Tract Society (Amerikanische Traktat-Gesellschaft), American Anti-Tuberculosis League (der amerikanische Anti-Tuberkulosis-Bund), American Electro-Therapeutic Association (Amerikanische elektrisch-therapeutische Vereinigung), American Pediatric Society (Amerikanische Gesellschaft der Kinderheilkunde), American Roentgen Ray Society (Amerikanische Röntgenstrahlen Gesellschaft), American Anti-Saloon League (Amerikanischer Bund der Temperenzler), American Climatological Association (Amerikanische klimatologische Vereinigung), American Institute of Civics (Amerikanisches Institut für die Wissenschaften von den Rechten und Pflichten der Bürger), American Pubhc Health Association, American Flag Association, Colonial Dames, Daughters of the Revolution, Grand Army of the Republic usw. Es gibt so viele davon, daß man sie schon nur noch nach ihren Anfangsbuchstaben nennt, wie z. B. W. C. T. U., Y. M. C. A., N. E. A.

Die Leidenschaft der Leute, „zu etwas zu gehören“, übertrifft alles Dagewesene und hat Männern, die es bis zum Übermaß treiben, den Namen „jiners“ (Vereinsmeier) eingetragen. Außer den Freimaurern bestehen die Odd Fellows (Orden der sonderbaren Brüder), The Knights of Pythias (die Ritter des Pythias), The Benevolent and Protective Order of Elks (der wohltuende und beschützende Orden der Elche), The Royal Arcanum (das königliche Geheimnis), The Knights of Maccabees (die Ritter der Makkabäer), The Improved Order of Heptasophs (der verbesserte Orden der Heptasophen), The Tribe of Ben Hur (der Stamm Ben Hur), The Sons of Temperance (die Söhne der Temperenz), The Good Templars (die guten Templer), The Brotherhood of American Yeomen (die Brüderschaft der amerikanischen Freisassen), The Knights of the Golden Eagle (die Ritter des goldnen Adlers), The Improved Order of Red Men (der verbesserte Orden der Rothäute) und Dutzende von anderen. Schlüssel, Orden und andere Abzeichen, mystisch in ihrem symbolischen Charakter, mit hochtönenden Namen versehen, drängen sich auf der Frontseite sonst unbedeutend und unromantisch aussehender Männer, und man wundert sich, was das alles zu bedeuten habe. Die Abzeichen und die Zugehörigkeit, die sie anzeigen, bilden ein sehr reales und ganz eigenartiges Phänomen, das seine Erklärung nur in einem eigenartigen amerikanischen Zustande findet. Die Brüderschaft (oder Gesellschaft) ist der Pseudo-Stamm, der Pseudo-Klan. Entfernt von den traditionellen gesellschaftlichen Schichtenbildungen nach einzelnen Klassen, ihrer Stammverwandten beraubt, von ihrer Familie, ihrer Heimat und den Gräbern ihrer Vorfahren getrennt, mit Wurzeln und allem aus dem Boden gerissen, einer nur hie und da unterbrochenen Wanderung preisgegeben — von Europa nach der Atlantischen Küste, von dort vielleicht nach Indiana, dann nach Iowa, dann vielleicht an die Küste des Stillen Ozeans — neuen Kombinationen von Nachbarn ausgesetzt, die ohne System und ohne Rücksicht auf Rasse, Herkunft, Traditionen oder Wohnsitz sich hier zusammengefunden haben, suchen diese Leute ein Ersatzmittel und schaffen neue künstliche, dem Klan nachgeahmte Bande.

Die außerordentliche Neigung und Fähigkeit des Volkes für politische Organisation ist viel besprochen, aber, soweit ich es beurteilen kann, immer als ein besonderer Instinkt behandelt worden, obgleich sie offenbar ein Ausfluß des Mengebewußtseins und ein Phänomen des Wiederauftauchens der Geselligkeit aus der Sintflut der Stammmischung sind, — und demnach mit eine Reaktion gegen den Fatalismus in der Richtung eines allgemein menschlichen Optimismus.

Die erstaunliche Stärke und Fortdauer einer politischen Organisation wie Tammany Hall kann nur aus der Pseudo-Klan-Idee erklärt und verstanden werden.

Sie ist erst sozial und dann politisch. Sie befriedigt das Bedürfnis des Fremden im fremden Lande. Er muß etwas haben, worauf er sich stützen kann. Die Regierung ist etwas Kaltes, Entferntes und Unfreundliches, aber gleich zur Hand und menschlich nahe genug ist die Häuptlingsgewalt des Bezirkskapitäns von Tammany Hall, der nicht allein die Stimmen sammelt, sondern auch Leichenbegängnisse besorgt und Picknicks arrangiert, und dessen Machteinfluß durch den „Distriktleiter“ bis zu dem großen „boss“ von Tammany reicht. Und wenn der auf unserer Seite ist, wer kann gegen uns sein!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterricht und Demokratie in Amerika