I. Die öffentliche Meinung.

[b]Bryce, James. The American Commonwealth. Vol. II, pp. 247. Münsterberg, H. The Americans. Chap. VII, Public Opinion. (N. Y. 1904.)
Croly, Herbert. The Promise of American Life. (N. Y. Macmillan C. 1909.) [//b]

Der Urquell aller Macht in den Vereinigten Staaten ist die öffentliche Meinung. Die äußere Regierungsmaschine, ob sie nun darauf hinarbeitet, die öffentliche Meinung zum Ausdruck zu bringen oder sie zu zügeln, ist niemals auf eine längere Zeitdauer die Macht selbst. Die „Public Opinion“ ist eine Macht, die oft schlummert und noch öfter der bestimmten Stellungnahme ermangelt, „nicht im Fokus ist“, wie wir sagen; aber sie ist immer im Hintergrunde gegenwärtig, stets bereit, den Schlaf abzuschütteln, stets geneigt, schleunigst Gestalt und Ausdruck anzunehmen. Wenn sie erst einmal aufgerüttelt und sich ihres Zieles klar bewusst geworden ist, wagt kein Staatsmann sich ihr zu widersetzen, oder sollte er es wagen, so verschwindet er erbarmungslos unter den Rädern ihres Streitwagens. Infolgedessen ist der amerikanische Politiker unablässig bemüht, seinen ganzen Scharfsinn und seine beste Urteilskraft daran zu setzen, die Richtung, welche die öffentliche Meinung möglicherweise nehmen könnte, zu erraten und zu berechnen, und seine äußerste Geschicklichkeit und Kraft darauf zu verwenden, die politische Maschinerie der Parteien und Versammlungen zu organisieren und dementsprechend zu leiten. Zur Ausarbeitung und Einführung neuer politischer Maßnahmen haben wenige Politiker Zeit, Neigung oder Kraft. Sie sind zu sehr damit in Anspruch genommen, den Schwankungen der öffentlichen Gesinnung zu folgen, um dazu Zeit zu haben; und sie sind bei den fortwährenden Versuchen, sich diesen Schwankungen anzupassen, zu biegsam geworden, um Kraft genug zu besitzen. Man hält es in der Tat auch nicht für ihre Aufgabe oder Mission, weder als Individuen noch als Vertrauensleute einer Partei, aus sich heraus ein neues Programm zu schaffen und es, etwa nach dem Muster ihrer europäischen Vorbilder, dem Volke vorzulegen, sondern es ist eher ihre Aufgabe — um den Kontrast nur in großen Zügen zu zeigen — darzutun, daß sie, und nicht ihre Gegner, die wahren und treuen Repräsentanten des Volkswillens sind.


Das Volk macht die Politik, und die Politiker versuchen nur diese zu verstehen und ihr in passenden Worten Ausdruck zu verleihen. In Europa scheint es mir mehr der Brauch zu sein, daß die Politiker ein Parteiprogramm formulieren oder, wenn sie unter der Kontrolle der Regierung stehen, Maßnahmen vorschlagen und diese dann am Wahltage durch die Stimme des Volkes erproben. Dieser Kontrast mag vielleicht nicht überall so deutlich hervortreten, aber ein Kontrast existiert und zwar ist er erstaunlich schroff.

Es gibt in dieser Beziehung kein besseres Beispiel für den Gang der politischen Maschinerie als die Art und Weise, wie die Parteiprogramme für eine Präsidentenwahl vorbereitet werden. Das Land ist groß und seine Interessen sind so verschiedenartig, daß die größte Sorgfalt in der Abfassung jeder öffentlichen Erklärung geübt werden muss, damit der Verlust an Stimmen in einem Landesteile nicht die Zunahme in einem anderen überwiege. Wenn angängig, darf nichts in ein Programm aufgenommen werden, wodurch man möglicherweise in irgend einem Teile des Landes Stimmen verlieren könnte, aber am allerwenigsten in einem Staate, wo die Wahlstimmen unsicher sind — die Präsidentenwahl wird bekanntlich nach Staaten vorgenommen. Verspricht man sich aber von einem Punkte eine besondere Anziehungskraft auf die Wählerschaft eines sonst zweifelhaften Staates, so ist dessen Aufnahme als Zugmittel mit in das Programm wohl zu befürworten, vorausgesetzt, daß nicht ein anderer Landesteil mit anderen Interessen und Ansichten dadurch eher zurückgestoßen als angezogen wird, — denn dann täte man am besten, ihn zu unterdrücken. Die republikanische Partei kann es sich gestatten, wie z. B. in ihrem letzten Parteiprogramm, „alle Maßnahmen, die darauf hinausgehen, dem Neger nur seiner Farbe wegen das Bürgerrecht zu entziehen, als ungerecht, unamerikanisch und dem höchsten Gesetze des Landes widerstrebend zu verurteilen“ und die Nation daran zu erinnern, daß „sie mehr als fünfzig Jahre lang ein beständiger Freund des Negers gewesen ist“. Sie kann sich das gestatten, weil sie keine Chancen hat, einen Südstaat zu gewinnen: sie muss es hineinsetzen, weil die Partei der Stimmen der Schwarzen bedarf und zwar besonders in den Staaten Indiana, Ohio und Maryland. Die demokratische Partei jedoch erwähnt die Sache mit keiner Silbe, denn sie kann ihr, ohne den Norden zu sehr vor den Kopf zu stoßen, wo sie noch ziemlich zahlreiche, wenn auch versprengte Anhänger besitzt, keine Fassung geben, die die Südstaaten, auf die sie als ihre Hauptstütze rechnet, annehmen würden. Die Demokraten dagegen durften in ihrem letzten Programm gegen die Zulassung von asiatischen Einwanderern Opposition machen, denn erstens war ihre südliche Wählerschaft durch natürliche Sympathie geneigt, den Rassenkonflikt von Weiß gegen Gelb an der pazifischen Küste als verwandt mit dem eigenen von Weiß gegen Schwarz anzusehen, zweitens hatten sie in den Staaten der pazifischen Küste nichts zu verlieren und alles zu gewinnen, drittens bekämpften die Arbeitervereinigungen in allen Teilen des Landes mehr oder weniger die asiatische Immigration, als den hohen Lohnsätzen feindlich. Die Chinesensperre ist jedoch im allgemeinen in den Staaten und bei den Klassen, von denen die republikanische Partei hauptsächlich ihre Unterstützung erhält, noch nicht populär, und daher unterließ denn auch die republikanische Partei dieser Frage Erwähnung zu tun, sich darauf verlassend, daß ihre Expansions- und Flottenvermehrungs-Politik die Küstenstaaten an sie fesseln würde. Und ihre Kalkulation war richtig.

Außer diesen Fragen und dem Umstände, daß sich die Demokraten zugunsten einer Einkommensteuer und der Bürgschaft der Nation für alle Sparkassendepositen erklärten, unterschieden sich die beiden Programme nur sehr wenig, wenigstens soweit ein gewöhnlicher Beobachter die Sache beurteilen konnte. Wo sie beide dieselbe Frage berührten, waren sie augenscheinlich bemüht, das auszudrücken, was sie für die herrschende Meinung hielten, und da diese sich seit langem entwickelt und ziemlich genau festgestellt war, ist der Wortlaut der Vorlagen entweder ganz derselbe oder in hohem Grade doppelsinnig. So erklärt sich z. B. das republikanische Programm hinsichtlich der vieldebattierten Tariffrage „unzweideutig für eine Revision des Tarifs“, während das demokratische Programm sagt: „Wir sind für eine sofort vorzunehmende Revision des Tarifs durch die Herabsetzung des Einfuhrzolles.“ Man nahm damals an, und der Zusammenhang bekräftigte dies, daß die Republikaner ebenfalls eine „Herabsetzung“ beabsichtigten, und Herr Taft versprach in seinen Wahlreden eine „nachuntenzugehende Revision“ (downward revision). Während ich dies schreibe (Juli 1909), machen jedoch einige Leiter der republikanischen Partei in dem Senate geltend, daß eine Herabsetzung niemals versprochen worden sei, wogegen Präsident Taft darauf besteht, daß die allgemeine Annahme, bekräftigt durch seine eigenen Worte, eine moralische Verantwortlichkeit bilde. Derselben Ansicht ist auch das Volk, und wenn die Verantwortlichkeit nicht anerkannt und das Versprechen nicht eingelöst wird, kann man mit Sicherheit auf einen politischen Umschwung bei den Kongresswahlen vom November 1910 rechnen.

Das Weben eines Stoffes, so fein wie der, dessen die Phraseologie eines nationalen Programms benötigt, kann, wie zu erwarten steht, nicht den ungeschickten Händen einer Massenversammlung anvertraut werden, und noch viel weniger dem imposanten „Programmkomitee“. Diese Arbeit ist einem Manne, irgend einem klugen Menschenkenner und gewandten „Wortschmied“, überlassen. Die Führer der Partei und der Hauptkandidat häufen das Material um ihn auf und geben ihm alle nur erdenklichen Ratschläge: aber bereits Tage und Wochen, bevor die Konvention sich versammelt oder sogar ein Programmkomitee ernannt worden, ist seine Arbeit vollendet; das Programm bedarf vielleicht nur einiger geringer Modifikationen in Wortlaut oder Sinn seitens des Komitees, bevor es der Konvention vorgelesen und mit Hurrahs und Trompetengeschmetter angenommen wird. Dass ein Programm durch die Annahme eines von dem Komitee eingebrachten Majoritätsberichtes in der Konvention ammendiert wird, kommt selten vor und würde allgemein als das verräterische Zeichen einer Parteiteilung angesehen werden, was im Angesicht des Gegners bei weitem schlimmer als ein fehlerhafter Ausdruck wäre. Wenn, nachdem die Campagne begonnen, die Ausreifung der öffentlichen Meinung zeigt, daß das Programm eines Verbesserungsantrages bedarf, kann der Kandidat diesen selbst in seinem Annahmeschreiben oder in seinen öffentlichen Ansprachen vertreten; und nicht allein, daß er dies kann, er tut es auch, und sein Antrag wird auch als rechtskräftig angenommen. Cleveland tat es im Jahre 1892, indem er in seinem Annahmeschreiben sozusagen das ganze Programm umschrieb. Parker tat es 1904 in seinem berühmten „Goldtelegramm“, durch das er die letzte Spur von Silberdoppelwährung (Bimetallismus) aus dem demokratischen Programm tilgte, und Taft tat es, wie wir eben gesehen haben, 1908 mit seiner „nachuntenzugehenden Revision“. Das Fazit der ganzen Sache ist, daß die öffentliche Meinung und nicht die Konvention das Programm vorbereitet und diktiert, oder wenn nicht die öffentliche Meinung, so doch wenigstens das, was die Führer jeweils dafür halten. Wo die öffentliche Meinung nicht miss zu verstehen ist, führt das Programm eine kühne Sprache: wo sie geteilt ist, Landesteil gegen Landesteil, schweigt das Programm: wo sie unreif und schwankend ist, ist das Programm doppelsinnig.

Wenn es Tatsache sein sollte, daß in den Vereinigten Staaten „öffentliche Meinung“ in einem Grade entwickelt ist, wie sonst nirgends, so ist der Grund hierfür darin zu suchen, daß sie sich leichter hat bilden können, indem sie stärker begehrt und von ihr ein umfassenderer Gebrauch gemacht wurde; und wenn es wahr ist, daß die Nation von der öffentlichen Meinung in einer Weise regiert wird, wie es in keinem anderen Lande sonst vorkommt, so hegt das vor allem daran, daß man, da diese öffentliche Meinung auch wirklich fähig ist sich auszudrücken, auf sie wartet und mit ihr rechnet. Der zweite Grund und vielleicht der gewichtigere — wenngleich es schwierig sein dürfte abzuwägen, wieviel daran Ursache oder Wirkung ist — , ist in dem lockeren Sitz unseres nicht eng anschließenden Regierungssystems zu suchen. Wir tragen unsere Regierung mehr wie eine Toga als einen Rock. Wer glaubt, daß er durch ein Studium unserer Wahlmaschinerie und Gesetzgebung, oder durch ein Herzählen der Vollmachten und Funktionen von Beamten und Legislaturen ermitteln könne, wie wir regiert werden, ist ganz entschieden auf dem Holzwege. Diese Dinge, wie z. B. auch unsere Gesetze, kommen nur in Ausnahmefällen und auf verhältnismäßig seltene Ereignisse in Anwendung. Der gewöhnliche Mensch und die gewöhnliche Routine seines Lebens kommen selten damit in Berührung, Das Gesetz steht untätig beiseite, jeden Augenblick bereit, angegangen und angerufen zu werden, falls man seiner bei außergewöhnlicher Gelegenheit bedarf, aber es „gehet nicht umher wie ein brüllender Löwe, und suchet, welchen es verschlinge“: es wartet, bis es gerufen wird. Es kann nicht den Anspruch erheben, daß es ein vollständiges und genaues Bild der Verhältnisse des Gemeindelebens darstellt : es ist ein Produkt von einzelnen Ereignissen, nicht ein Abguss vom Leben. So repräsentiert ebenfalls der verhältnismäßig kleine Apparat unserer sichtbaren Regierung — aufgebaut und gesammelt mit dem Prinzip im Herzen und vor Augen, daß die beste Regierung diejenige ist, die am wenigsten regiert — nicht einmal annähernd die Maschinerie, durch die das amerikanische Volk wirklich regiert wird, — the plain people at plain times and in plain places (das gewöhnliche Volk zu gewöhnlichen Zeiten und an gewöhnlichen Orten). Wer das kennen lernen will, muss Verfassungen und Kongresse hinter sich lassen und zu den Konventionen und Vorversammlungen, den Parteiorganisationen und „bosses“ (Cliquenführern) gehen und dann noch viel weiter; da kann er die Mittel und Anlässe studieren, durch welche die öffentliche Meinung sich bildet und zum Ausdruck kommt: denn in ihr liegt nicht nur die Quelle der Triebkraft für alle Formen der Einrichtungs-Maschinerie, sondern auch der Mechanismus, der, wenngleich unsichtbar, das tägliche Leben reguliert von neunhundertneunundneunzig Menschen aus einem Tausend und das Richtscheit liefert für neunhundertneunundneunzig Taten aus einem Tausend, der die Lebensfragen löst und schlichtet und ihnen den gebührenden Platz anweist.

Eine eingehende Behandlung der „public opinion“, dieses dominierenden Faktors im amerikanischen Leben, muss folgende Punkte berühren:

1. was darunter zu verstehen ist;
2. auf welcher allgemeinen Grundlage sie sich aufbaut;
3. auf welche Weise sie Gestalt annimmt oder geschaffen wird;
4. welches die Organe sind, durch die sie vorbereitet wird und zum Ausdruck kommt.

Bryce in seinem Buche „American Commonwealth“ widmet ihr 12 Kapitel, d. h. den 12. Teil des ganzen Werkes, und diese Kapitel umfassen, wenn ich mich nicht irre, die treffendsten und tiefsinnigsten Beobachtungen seines so bemerkenswerten und bewunderungswürdigen Buches. Welchen Platz er der „public opinion“ in einer Geschichte der amerikanischen Republik zuweist, mag man aus den Worten seiner Einleitung (Vol. I, p. 6) ersehen: „Sie steht über den Parteien, indem sie kühler und liberaler ist als diese; sie flößt Parteiführern Ehrfurcht ein und hält Partei-Organisationen in Schach. Niemand wagt sich ihr offen zu widersetzen. Sie bestimmt die Richtung und den Charakter der nationalen Politik. Sie ist das Produkt einer größeren Anzahl von Meinungen als in irgend einem anderen Lande, und ein unumschränkterer Herrscher. Sie ist der Mittelpunkt der ganzen amerikanischen Verfassungsform. Sie zu beschreiben, d. h. die leitenden politischen Ideen, Gepflogenheiten und Tendenzen des amerikanischen Volkes zu skizzieren und zu zeigen, wie dieselben in Handlungen zum Ausdruck kommen, ist der schwierigste und zugleich wichtigste Teil meiner Aufgabe“.

Und wenn man fragt, mit welchem Erfolge Bryce diese schwierige Aufgabe durchgeführt hat, so wird ein Amerikaner auf eine solche Frage nach seiner Meinung wahrscheinlich in erster Linie antworten, daß offensichtlich hier die Sache vom englischen Standpunkte und auch für englisches Verständnis dargestellt ist. Der englische Leser wird nirgends zu groben Irrtümern und Missverständnissen verleitet werden. Der deutsche Leser, an eine feiner organisierte und akkuratere Regierungsform gewöhnt, könnte jedoch leicht dazu kommen, die Herrschaft der öffentlichen Meinung als ein Gemisch von Anarchie und Tyrannei auszulegen. Der in dem Buche von Bryce benutzte Stoff erstreckt sich über ein so weites Gebiet, tritt uns in so mannigfaltigen Gestalten und Formen entgegen und ist in einem so hohen Grade unfassbar und ausweichend, daß einer, der in der Mitte all dieser Vorgänge lebt, sich kaum enthalten kann, das emphatische Gewicht, das auf diese oder jene einzelne Tatsache gelegt wird, als übertrieben zurückzuweisen, aber keiner kann leugnen, daß der Autor mit seltener Feinfühligkeit und Sympathie den amerikanischen Gesichtspunkt erfasst hat.

Erstens: was wir unter „public opinion“ verstehen! Sie ist sicherlich nicht die siegreiche Meinung, die Meinung der Majorität, noch ist sie ein Kompromiss zwischen sich widersprechenden Meinungen, wodurch man sich mit Vermeidung von starken Extremen ein zwischen beiden Parteien die Mitte haltendes Operationsfeld für ein gemeinsames Vorgehen schafft: noch ist sie eine Resultante von nach verschiedenen Richtungen hin wirkenden Kräften, noch irgend welche andere Kombination von individuellen Meinungen. Sie ist weder wissenschaftlich messbar noch mathematisch durch Addieren, Subtrahieren oder im Durchschnitt bestimmbar. Sie ist kein Produkt der Überlegung, noch ist sie aus Ansichten zusammengesetzt, die von Individuen für sich ausgedacht sind, obgleich ihr Gestaltungsprozess zuweilen durch die öffentliche Erklärung eines, der gedacht oder geplant hat, beschleunigt wird. Sie wird produziert vom Rückenmark und hat sich darin eher festgesetzt als im Gehirn. Sie entsteht unbewusst in dem Einzelmenschen oder durch gemeinsamen Stimulus in vielen Individuen, wie die Ozeangezeiten unter dem Strandsande, oder sie verbreitet sich unzerlegt von einem ganzen Individuum zum andern, wie ein Waldbrand von Baum zu Baum. Es ist jedoch das Brennbare im Baum, das die Verbreitung des Feuers möglich macht. So entsteht die öffentliche Meinung aus einem vorher kultivierten Boden. Früheste Erziehung, alte Sympathien und Antipathien, eingefleischte Vorurteile, vage, kaum bemerkbare Neigungen, alte Angewohnheiten, alle vereinigen sich, die Flammen zu speisen, und wenn die Glut auflodert, nimmt die Meinung in dem Individuum und in seiner unter gleichen Verhältnissen lebenden Gemeinde Gestalt an, ohne den Flintstein der Erörterung oder Erwägung anzuschlagen. Sie scheint immer gegenwärtig zu sein, auf einfache und automatische Weise an die Oberfläche gebracht, ohne einen mechanischen oder logischen Prozess, sondern eher durch eine Art von Reflextätigkeit.

Ich habe häufig Gelegenheit gehabt, diese latente Substanz der öffentlichen Meinung zu erproben, wenn ich kurz vor einem nationalen Wahltage innerhalb vierzehn Tagen zweimal den Kontinent zu durchqueren hatte. Man spricht mit den Reisegefährten in dem Speisewagen und dem Rauchcoupé, trifft einen Minenspekulanten von Goldfields, zwei oder drei Handlungsreisende auf ihrem Wege nach Denver oder Kansas City, einen Schafzüchter von Laramie, ein paar Farmer, die von einer Station in Nebraska zu einer andern fahren, einen Kaufmann, der in Omaha einsteigt, plaudert hier und dort, während der Zug hält, mit Leuten an den Bahnstationen, hört das Gerede der Klubs und Hotelfoyers in Chicago und New York, trifft mit ein paar Leuten in Privathäusern zusammen, tauscht Ansichten mit einigen Freunden aus, und wenn man wieder zu Hause angelangt und aus der Konfusion all dieser verschiedenen Konversationen über die verschiedensten Themen heraus ist, dann erhält man, wenn mit der Zeit das Urteil langsam ins Gleichgewicht kommt, eine vollständig klare Überzeugung davon, wie sich die öffentliche Meinung voraussichtlich zu den schwebenden Fragen des Tages stellen wird, und diese Überzeugung wird späterhin durch die Resultate bestätigt. Individuelle Meinungen, hervorgebracht durch besondere intellektuelle Prozesse, besondere persönliche Befähigung oder spezielle Ansichten, versickern und verblassen alle mit der Zeit, und besonders alle logischen Prozesse und ihre Ergebnisse, und es bleibt übrig ein gleichartiger Stimmungsniederschlag, der uns über die Richtung, welche die öffentliche Meinung nehmen wird, Aufschluß gibt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterricht und Demokratie in Amerika