Ein Wunder des Mittelalters.

Die Ordalien oder Gottesgerichte waren die Auskunftsmittel, zu welchen die etwas unbeholfene Justiz im Mittelalter griff, wenn sie auf keine andere Weise sich von der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten überzeugen konnte. Die Einrichtung derselben war sehr verschieden. Unter andern war es gewöhnlich, dass der Angeklagte unter mancherlei Zeremonien mit bloßen Füßen auf ein glühendes Eisen treten oder über eine Anzahl glühender Eisen hinwegschreiten oder ein solches in die bloße Hand nehmen und eine gewisse Zeit lang festhalten musste. War er unschuldig, so durfte ihm daraus kein Schaden erstehen, er musste unverletzt die Probe aushalten; denn der damalige Glaube nahm an, der Himmel müsste sich hier ins Mittel schlagen und die Unschuld auch gegen die Gesetze der Natur schützen? Merkwürdigerweise erzählt die Geschichte eine Menge solcher Fälle, in denen der Angeklagte wirklich unversehrt blieb. Die Erzählungen sind so genau, dass man an ihrer Wahrheit nicht zweifeln kann. Die bekannten Fälle betreffen gewöhnlich fürstliche oder sonst ausgezeichnete Personen, wie z. B. die Gemahlin Karls III. von Frankreich, die das Gottesgericht wirklich bestand und sich dadurch vom Verdachte der Untreue reinigte. Griff hier wirklich eine höhere Macht unmittelbar ein und hob auf einen Augenblick die Naturgesetze auf? Die neueste Zeit hat das Rätsel gelöst.

Bis auf den heutigen Tag lesen wir, wie Taschenspieler und Athleten ankündigen, sie würden glühendes Eisen in die Hand nehmen, mit bloßen Füßen darauf treten, geschmolzenes Blei in den Mund gießen u. s. w. Man glaubt zwar zu wissen, dass sie Hände oder Füße mit irgend Etwas bestreichen, aber das würde oft nicht hinreichen, sie vor Verbrennung zu schützen. Die Versuche gelingen aber. Auch darüber ist man jetzt im Klaren.


Vor etwa hundert Jahren machte ein Dr. Leidenfrost die merkwürdige Erfahrung, dass ein Tropfen Wasser, der auf heißem Metall sehr schnell verdampft, in einem glühenden eisernen Löffel nicht verdampft, nicht ins Kochen geriet, ja nicht einmal sehr heiß wird. Er drück sich nicht platt, bleibt rund, dreht sich unaufhörlich und nimmt gar nicht merklich ab. Nenn der Löffel aber kalter wird, fangt der Tropfen an zu kochen und verdampft sehr schnell, sodass er bald gänzlich verschwindet. Ist das nicht ebenso merkwürdig wie die Ordalien und die Kunststücke unserer Taschenspieler? — Leidenfrost konnte sich die Sache nicht erklären und bis auf die neuere Zeit erzählten sie die Lehrbücher der Physik als sonderbare, unerklärliche Tatsache, an deren weitere Untersuchung sich kein Physiker wagte. Endlich hat die neueste Zeit die Sache aufgeklärt und nachdem die physikalischen Lehrbücher versucht hatten, auf diese oder jene Weise eine wenigstens leidliche Deutung der Sache zu geben, hat der französische Physiker Boudigny, der sich Jahre lang damit beschäftigte, sie so weit aufs Reine gebracht, dass Jedermann ohne weitere Vorbereitung die Kunststücke jener Taschenspieler nachahmen und die Feuerproben der alten Gottesgerichte ohne Gefahr wiederholen kann.

Den Leidenfrost'schen Versuch, über den man eine wissenschaftliche Erörterung von Dr. Poleck im Deutschen Museum findet, erklärt man ungefähr, in folgender Weise: Die Wärme geht von erhitzten Körpern auf zweierlei Art in andere, kältere über, durch Mitteilung, wie wenn wir heiße Körper etwa mit der Hand berühren, und durch Strahlung, welche uns die Nähe eines heißen Ofens oft so unerträglich macht, die aber durch einen Schirm sogleich unterbrochen wird. Der Tropfen auf dem glühenden Metall umgibt sich schnell mit einer Atmosphäre von Dampf, die sich auch zwischen ihn und das Metall drängt und ihn gleichsam trägt. Damit fällt die unmittelbare Berührung und zugleich die Mitteilung der Wärme weg. Die strahlende Wärme wird aber nicht nur von den Körpern nach Art der Lichtstrahlen zurückgeworfen, wie z. B. durch den Ofenschirm, sondern sie kann auch durch die Körper hindurchgehen, ohne sie zu erhitzen. Beides mag bei dem Wassertropfen stattfinden, sodass er sich nicht so weit erhitzen kann, um ins Kochen zu kommen. Man ist über diese Erklärung keineswegs ganz einig, aber nicht weil es an Gründen fehlt, sondern vielmehr, weil man deren zu viele hat, und noch nicht weiß, welche man am meisten geltend machen soll. Boudigny brachte damit jene Taschenspielerkunststücke in Verbindung, konnte aber lange Zeit sie weder selbst zu sehen bekommen, noch Personen finden, die sie gesehen hatten. Endlich hörte er, dass ein Arbeiter in einer Eisengießerei die Hand in geschmolzenes Eisen stecken könne, ohne sich zu verbrennen. Nun gelang es ihm, mehre zu finden, die es vor seinen Augen taten. Endlich versuchte er es selbst. Es sah fürchterlich aus, erzählt er, als ich zuerst einen Finger, dann die ganze Hand in die rote, glühend flüssige Eisenmasse steckte, dann mit der Hand quer durch die ganze Masse fuhr, aber unversehrt zog ich die Hand zurück. Seitdem ist der Versuch unter den Arbeitern jener Eisenwerke zu einem gewöhnlichen Kunststücke geworden. Nur bei vollkommen trockener Hand, an der es nichts zu verdunsten gibt, könnte er misslingen. Indes wird die Hand niemals so gänzlich trocken. Man kann sie auch zu größerer Vorsicht vorher anfeuchten.

Dadurch erklären sich außer einer Menge anderer Erscheinungen auch jene Erfolge der Ordalien, sowie jene Kunststücke der Athleten, von denen sich vor mehren Jahren einer unter dem Namen des Feuerkönigs großen Zulaufes zu erfreuen hatte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterhaltungen am häuslichen Herd. Band I.
004 Glockengießer

004 Glockengießer

006 Fahrendes Volk

006 Fahrendes Volk

007 Rathausplatz

007 Rathausplatz

008 Prozession vor dem Dom

008 Prozession vor dem Dom

010 Gerichtsszene

010 Gerichtsszene

019 Ritter-Turnier

019 Ritter-Turnier

028 Alchimist

028 Alchimist

030 Waffenschmiede

030 Waffenschmiede

032 Gerichtssitzung

032 Gerichtssitzung

043 Landsknechtslager

043 Landsknechtslager

alle Kapitel sehen