Eine Überraschung bei Gersons in Berlin.

Ob über wogende Kornfelder hinweg oder durch die saubergekehrten Gassen stillgewordener Städte von den läutenden Sonntagsglocken die Lüfte erklingen, Sonntagsfrühe ist erquickend und anregend für Alle, auch für den Einsamen, selbst für den Trauernden. Der Arbeiter erwacht ohne den mahnenden Ruf seiner Alltagspflichten. Die Spuren des mühseligen Wochenberufs werden entfernt, das frische Quellwasser und der geöffnete Wäscheschrank schaffen neue Menschen. Sonntags frühe, ob gefeiert im Chor der Gemeinde unter rauschenden Orgeltönen oder im Blättergrün des Waldes unter zwitschernden Vogelstimmen, ob gefeiert sogar nur unter aufgeschlagenen geheimen Geschäftsbüchern und bei stillprüfender Übersicht der Wochenabschlüsse, wie sie in Sonntagsvormittagsruhe der sorgende Geschäftsmann liebt, oder gefeiert durch ein fesselndes Buch oder eine Musik, die man seinem Instrumente aus Schonung andächtiger Seelen vielleicht nicht während der Kirchenzeit entlocken wird . . . Sonntagsfrühe ist belebend und erhebend wie die Sonne selbst, in deren östlichen Strahlen für die Natur und den Menschen eine viel gewaltigere Kraft zu liegen scheint als in ihren westlichen.

Aber der Sonntagsnachmittag! Du wonnen- und qualenreichster Abschnitt des Tages der Ruhe und der Freude! Wer sie nie gefühlt hat die unendliche Leere eines einsamen Herzens, wer nie in seiner ungestillten Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft sogar von Tränen sich beschleichen ließ (die sonst nur ein armes Mädchen kennt, das alternd und alternd immer mehr ihres Loses, nie geliebt zu werden, inne wird), wer immer Freunde, immer Zerstreuungen fand, immer von Andern gesucht wurde, der kennt euch nicht, ihr Stimmungen der Wehmut, die Sonntagsnachmittage wecken können! Die Straßen sind öde und leer. Ausgeflogen über Feld und Flur ist Alles, was an Familienleben, an die Liebe oder auch nur an einen einzigen Freund sich anlehnen kann. Still, einsam Alles ringsum. Die Sonne wirft träge Schatten. Die Plätze sind menschenleer. Die Kirchen sogar mit ihrem Nachmittagsgottesdienste für ältere Dienstboten, arme Hospitalfrauen rufen nicht an ihre hohen Portale. Es ist, als ruhten sich auch ihre Werkzeuge von der vormittägigen Andacht aus. Kein Gruß eines Vorübergehenden. Nichts erblickt man als vielleicht eine alte taube Kinderfrau, die daheimgeblieben als Hüterin eines Hauses, einer Wiege; da ein paar Blumentöpfe am offenen Fenster, eine Katze, die auf einem Blumenbrett spinnend ausruht. . . . Der Sonntagsnachmittag ist die unglückseligste Zeit für junge, sehnsuchtsgeschwellte Herzen, die entweder einsam stehen oder, was noch schmerzlicher, die einst schon glücklich waren, einst schon Freundschaft und Liebe genossen, einst mit Gütern des Herzens gesegnet waren und nun entbehren, darben müssen.


Ernst Oswald, ein junger zum Staatsdienst sich vorbereitender Rechtskundiger, empfand diese Vereinsamung eines melancholischen Sonntagsnachmittags in ihrer ganzen drückenden Schwere. Selbst die Kaffeehäuser und die Billardtische in ihnen standen öde und wie gelangweilt. Oswald, schlank und gefällig, von brauner Locke, brauner Wange, mit schwarzen Sternen in braunen Augen, schlenderte durch die Straßen der großen Stadt, die seine Heimat nicht war. Vor kurzem erst aus der Provinz gekommen, wollte er an den oberen Gerichten seine letzten Prüfungen bestehen. Empfindsamkeit suchte er von sich zu weisen, suchte sogar — im lichten Sommergewand, dann und wann mit dunkelrotem Taschentuch die heiße Stirn trocknend und den leichten Strohhut lüftend und im stillen Genuss einer Zigarre — auf den einsamen Straßen ein Behagen zu finden. Aber er täuschte sich. Die Stimmung blieb die des drückendsten Verlassenseins. Ernst Oswald gedachte der Heiterkeit, die in diesen Stunden auf dem ländlichen Besitztum seiner Älteren waltete. Er berechnete, wie um diese Stunde seine Mutter zu einer Fahrt nach einem nahegelegenen Badeorte trieb, die Schwester sich schmückte, der Vater aus seinem Nachmittagsschlafe sich erhob, selbst Apollo, der Wächter des Hauses, aus seiner Hütte sprang und Kettend die kühnsten Trampolinsprünge an der Kette zum besten gab, und wie endlich dann der Einspänner aus der Wagenschauer gezogen wurde. Er sah die Fahrt nach dem kleinen Bade durch einen Buchenwald, sah die Ankunft an der eingefriedigten Quelle, einem Stahlwasser, wo seine Schwester regelmäßig aus einem von barbeinigen Kindern dargebotenen Glase zu nippen pflegte, sah das Glas in der Sonne blinken, sah sogar die Gaspellen des Wassers in ihm aufwirbeln . . . ach so deutlich stand die Ferne vor ihm! Und ihn, ihn umfing die ödeste Öde, die es innerhalb der Zivilisation nur geben kann, der Sonntagsnachmittag einer großen Stadt.

Oswald hatte einen Freund, Scharfeneck, einige Jahre ins Leben und auch in der gemeinsamen Laufbahn ihm voran. Mit Scharfeneck verflogen ihm sonst die Stunden, auch die zwecklosesten. Der geistreiche, treffend urteilende, frühgereifte Genosse war verreist, war eben in jenem kleinen Bade, das seine Älteren, seine Schwester um diese Stunde besuchten. Scharfeneck war der Sohn eines reichen Grundbesitzers, dem die kleine eingefriedigte Quelle und das zu ihr gehörende ländliche Kurhaus gehörten. . . . An wen nun sollte sich Oswald halten? An sich selbst? Ach! Der redlichste Fleiß und die eifrigste Selbstbeschäftigung hat ja Augenblicke, wo sogar große Denker sagten: Ich fühle mich glücklich, jetzt ganz dumm, aber auch nur ganz dumm zu sein! Nur die systematischen Egoisten genügen sich immer. Oswald war kein Egoist, weder systematisch, noch aus Instinkt. Mit pochendem, hingegebenem Herzen hatte er jüngst drei Empfehlungsbriefe aus der Heimat an einflussreiche Adressen der großen Stadt abgegeben. Mit welchen frohen Erwartungen hatte er die Straßennummern sich aufgesucht, auf welche das dicke Adressbuch der Stadt ihn für seine Empfehlungen verwies! Wie reich, wie wohlgeborgen war er sich vorgekommen, wenn er sich dachte: Dieser Geheime Obertribunalrat Wallhard war der Jugendgenosse deines Vaters, mit dem er in den Befreiungskriegen unter denselben eichenlaubbekränzten Fahnen stand! Dieser reiche Handelsherr, ein Millionär, Finanzagent Strack, war ihm von dem Kaufmanne Neubert, einem Geschäftsfreunde seines Vaters, der ihn empfohlen, als ein wohlwollender, entgegenkommender Mann, sein Haus als ein Tempel der Gastfreundschaft bezeichnet worden! Endlich war die dritte Adresse geradezu eine solche gewesen, wie wenn die verwitwete Frau Justizkanzleidirektorin von Wolmany seine eigene Mutter hätte werden müssen! Dieser Empfehlungsbrief war sogar von dem Geistlichen seines Heimatortes gekommen. Und was war das Ergebnis aller dieser geträumten glänzenden Anknüpfungen gewesen? Der Geheime Obertribunalrat war ein grämlicher Hagestolz, der auf den kostbaren Teppichen seiner einsamen und stillgelegenen Wohnung zwei Hunde lieber zu dulden schien als einen Menschen. Er hatte an sich ganz freundlich nach dem Vater, der die militärische Laufbahn fortgesetzt und sich mit dem Range eines Hauptmanns auf die Bewirtschaftung eines alten Erbgutes zurückgezogen hatte, gefragt, hatte sich über die Flucht der Zeiten gewundert, dem Sohne eines alten Waffengefährten die Hand geschüttelt und ihm für seine Laufbahn feierlich jedes Glück gewünscht mit der an sich wahren und ohne Zweifel treffenden Bemerkung: Jede geregelte Zukunft hätte der Mensch in seiner eigenen Hand und gegen das Außerordentliche gäbe es eben keinen anderen Vorbau als die Stählung der eigenen sittlichen Kraft und ein lebendiges Gottvertrauen! Der fromme Obertribunalrat bot auch Oswalden die Mitbenutzung seines Stuhles in einer Kirche an. Der Finanzagent, der reiche Herr Strack, schrieb sich Namen und Wohnung des Empfohlenen mit großer Genauigkeit auf und ließ etwas von seinen Winterbällen fallen, worauf ihm jedoch die Geschäfte schon so wieder auf die Finger brannten, dass Oswald wegen der übelgew?hlten Stunde um Entschuldigung bat. Endlich die dritte Adresse, Frau von Wolmany, die Witwe eines Justizkanzleidirektors, war nicht einmal anwesend. Mit frühestem Lenze pflegte diese Dame auf ihre Güter zu gehen. . . . Was hatte also Oswald von allen seinen erträumten Beziehungen? Herbe Verletzungen eines jungen, zur Schwärmerei geneigten Herzens. Er wanderte an den prächtigen drei Häusern, die er vor Wochen mit so frohen Hoffnungen betreten hatte, an diesem Sonntag mit dem Gefühl vorüber: Wie ist die Welt so anders, als man sie sich ausmalt! Und diese Häuser waren heute erst recht stumm und still. Und das der verreisten Witwe war noch nicht einmal so öde als das des frommen Obertribunalrates, der so freundlich gewesen war, ihm die Mitbenutzung seines Kirchenstuhles anzubieten, worin doch vielleicht, wie Scharfeneck bemerkte, des Mannes Absicht, Oswalds Karriere zu befördern, wohlwollend und zeitgemäß ausgesprochen lag.

Schon war Oswald einer der vielen Vorstädte eines Ortes, der ihm heute recht die ein Gefängnis erschien, näher gekommen, als ihm Plötzlich ein Wort des Vaters einfiel, das dieser ihm beim Scheiden gesprochen. Lieber Ernst, hatte der noch rüstige Greis zu seinem einzigen Sohne, dem Sprossen einer zweiten Ehe, nachdem die erste kinderlos geblieben, gesagt, lieber Ernst, ich habe Unrecht getan, dich nur auf den kleinen Universitäten der Provinz studieren zu lassen. Franz, der Sohn unseres Nachbarn — er meinte Scharfeneck — kennt das Leben besser. Er besuchte die Schulen großer Städte. Doch, denk' ich, wird dein reines und immer auf das Gute und Edle gerichtet gewesenes Bestreben sich schon zurechtfinden. Die Empfehlungsbriefe von mir, von unserm guten Neubert und von deinem Seelsorger, dem braven Dämmer, werden dir treffliche Dienste tun. Sie werden dich in die große Welt einführen, die so schwer zugänglich, aber für deinen Beruf fast unentbehrlich ist. Lassen dir deine Studien, deine Prüfungsarbeiten und die vielen Zerstreuungen, die ohne Zweifel die Folge dieser Empfehlungen sein werden, einmal eines Tages Zeit genug, um einen verlorenen Augenblick nicht allzu sehr zu bereuen, so sieh dich doch einmal irgendwo um, ob du nicht einen alten Invaliden, Namens Waldmann, vor den Toren der großen Stadt entdecken kannst. Der alte Knabe war mein Unteroffizier, als ich mit der damaligen Jugend dem Rufe des Vaterlandes folgte. Ich überholte ihn und wurde bald sein Lieutenant, sein Kapitän, indessen er es mühsam nur bis zum Quartierschreiber brachte — denn eben das Schreiben war seine schwächste Seite. Als ich aber vor Jahren zum letzten male in der Hauptstadt war, besucht' ich die treue, ehrliche Seele wieder und fand ihn wohlgeborgen bei seinem Sohne, der ein junger rüstiger unternehmender Mann schien und sich als Gärtner in einer der Vorstädte niedergelassen hatte. Hast du Zeit, so such' einmal meinen alten Waldmann auf, wenn er noch lebt, grüß' ihn von mir und sag' ihm, dass du mein Sohn bist!

Dies Wort des Vaters kam in Ernst Oswalds lebendigste Erinnerung, als sich die Häuser immer mehr vereinzelten, lange hölzerne von Wind und Wetter geschwärzte Plankenzäune sie verbanden und hier und da durch einzelne Gitter freundliche Gärten dem Anblick sich darboten mit gefälligen, meist von wildem Wein umrankten Wohnungen, die die Überschrift „Kunstgärtnerei" trugen. Oswald entsann sich des Namens Waldmann sehr wohl, erkundigte sich bei einer dieser Gärtnereien nach einem Geschäfte solchen Namens, erhielt den Bescheid, dass ein derartiges, und sogar in der Nähe, bestünde und lichtete seinen schon ermüdeten Fuß nach der bezeichneten Straße hin. Er erreichte den Zaun, auf den man ihn aus der Ferne schon verwies. Das Haus musste im Garten liegen. An einer mit neuen Planken ausgebesserten Tür und dicht unter der laufenden Nummer der einsamen Gasse fand er demnach die vierte Adresse seiner Empfehlungen. Sie hieß: „Wilhelm Waldmann, Kunstgärtnerei."

Der erste Anblick, der sich beim Öffnen der unverschlossenen Tür dem Sonntagsnachmittagsgaste darbot, war ein freundlicher. Der Hof des Häuschens war mit dem Garten verbunden und dieser selbst dehnte sich mit Gemüse-, Blumen- und Obstanlagen in ziemlicher Entfernung aus. Kinder verwiesen den Gast an den noch lebenden Großvater, der an der dem Garten zugewandten Seite des Hauses auf einer Bank saß und ein kurzes Pfeifchen schmauchte. Auch der Sohn, selbst schon gealtert, war bald in der Nähe und die Freude, den Sprossen des Hauptmanns Oswald zu begrüßen, schien nicht gering. Eine Mutter fehlte dem Hause, sie war seit einigen Jahren tot; von den zahlreichen Kindern aber waren schon einige erwachsen und wie es schien verständig genug, um die Pflichten einer Mutter an ihre eigenen helfenden Hände zu verteilen. Die Zahl der Kinder, eigenes und Nachbarvolk, war endlos. Immer wieder kam noch ein anderer mehr oder minder sonntäglich erhaltener vorstädtischer kleiner Weltbürger aus einem Heck oder über einen Baum oder über eine niedrige Zwischenmauer gesprungen. Und zuletzt war das Angenehmste — vielerlei junger Mädchenflor, der sich neugierig genug um Oswald versammelte. Die meisten davon schienen Nachbarinnen. Auch einige Männer, die wohl Freunde der erwachsenen Sohne oder Gehilfen des Vaters waren, auch städtische Gestalten fehlten nicht. Es war das eine kleine belebte Welt, die Oswald, trotz der einfachen Kleiderstoffe, der befangenen Haltung und der gebräunten, nicht immer edlen Gesichtsformen, schon einen Reiz abgewann. Man nötigte Oswald sogar, zu einigen großen Schalen saurer Milch zu bleiben und bediente sich dabei mehrfach einer bedauerlichen Wendung, die jedoch als Vertröstung gespendet wurde, es wäre Schade, dass Ernestine noch nicht da wäre. Dies war die älteste Tochter und seit dem Tode der Mutter die eigentliche Lenkerin des Hauses, obgleich Brüder da waren, die wieder wohl auch über sie emporragten. Ernestine wurde jeden Augenblick erwartet und erschien auch zuletzt. Hatte Oswald schon durch die Erklärung, wie dies junge Mädchen zu dem Namen Ernestine, der seinem Vornamen entsprach, gekommen, sich gleichsam wie auf ein verwandtschaftliches Verhältnis mit ihr hingeführt sehen müssen — beim letzten Besuche des Hauptmanns hatte man seinem Sohne Ernst zu Ehren die gerade zur Welt gekommene Enkelin des alten Quartierschreibers Ernestine getauft —, so war der Eindruck des persönlichen Entgegentretens ein in der Tat überraschender. Oswald fand ein blühendes, schlankes junges Mädchen, nicht so gebräunt wie die ganze übrige weibliche Genossenschaft, ein Mädchen, zwar in bescheidener Tracht und einer dem Kreise, in dem es sich hier bewegte, wie es schien entsprechenden Bildung; doch lag ein so angenehmes Lächeln in den von der Überraschung und Verlegenheit geröteten Zügen des regelmäßigen Antlitzes, es war eine so wohltuende Art, wie Ernestine den Hut in ein Stacket von Weinlaub steckte, ein leichtes Tuch, das sie sich abnahm, kurzweg über einen Heckenbusch warf, dass Oswald augenblicklich sich gefesselt fühlen musste. Er nannte Ernestinen scherzend seine Namensschwester. Wenn sie darauf erwidern wollte, gestalteten sich ihre Antworten zwar zu keinem zusammenhängenden und treffenden Sinne, — wie lange währt es nicht auch bei jungen Bildungsüberfütterten, bis sich ihnen, Mädchen oder Jünglingen gegenüber, trotz alles Wissens und Könnens ein vernünftiger Satz mit einem tüchtigen Abgemacht, Punktum! rundet! — aber ihr Verkehr mit der übrigen Genossenschaft war so unbefangen, dass Oswald aus ihm schon einen lebhaften Geist und ein rasches Urteil entnehmen musste. Ernestine Waldmann hatte schweres, dichtes, goldblondes, in Flechten gebundenes und den ovalen Kopf rings umschließendes Haar, dunkle große blaue Augen, die frischeste Haut, einen schlanken, in den Hüften sich scharf abzeichnenden Wuchs und einen Mund, der bei dem wohlwollenden Lächeln, das ihn umspielte, zwei Reihen der schönsten Zähne zeigte. Und Oswald scherzte nur deshalb so viel mit dem kleinen Kindervolk, um sich an dem Zauber dieser schönen Zähne zu weiden, wenn Ernestinens leises und allmähliches Lächeln ihre Lippen in die Mundwinkel zurückdrängte. Anmut ist allen Männern mehr weich als Schönheit, und Ernestine wäre sogar eine Schönheit gewesen, wenn sie sich ihren Teint auf einige Wochen von der Salonluft eines Teezirkels hätte bleichen lassen können.

Oswald schied von der Laube, in der er unter nicht gerade armen, aber, wie es schien, doch nicht im Überfluss lebenden Menschen vortreffliche saure Milch mit mürbem Schwarzbrot gespeist hatte, ziemlich spät. Er kam, da er den Kindern etwas schenken wollte, schon den folgenden Tag wieder; dann auch ohne Geschenk schon wieder am Mittwoch; darauf bezwang er sich, drei Tage auszubleiben, aber am Sonntag fehlte er gewiss nicht und es währte nicht vierzehn Tage, so wanderte er schon fast jeden Abend in die Gartenstraße, saß jeden Abend unter den Kindern eines Gärtners und den Enkeln eines armen Soldaten in einer Geißblattlaube und Ernestine fragte nicht einmal, wie das möglich wäre. Niemand fragte. Diese abendliche Wanderung war ihm Bedürfnis, den Anderen Gewohnheit geworden. Die Wirkung seines vierten ungeschriebenen Empfehlungsbriefes war eine vollendete Tatsache und wenn es nach dem Erwarten seines Vaters gegangen wäre, so hätte sein Sohn Ernst gerade mit diesem Eifer, mit dieser Hingebung an den Diners des Obertribunalrats, an den Soireen des Finanzagenten und den anderweitigen, noch unbekannten Erholungen der noch immer auf ihren Gütern befindlichen Frau von Wolmany teilnehmen sollen. Einmal war Oswald in der Tat beim Finanzagenten Strack zu Tisch geladen gewesen, fand eine große Gesellschaft, aß vortrefflich, entfernte sich aber zeitig, um noch nach seiner Gartenstraße zu kommen. Es war Sonntag; rat- und tatenlose Sonntagsnachmittage kannte er nicht mehr. Die Vorstadt hatte ihn ganz erobert.

Vor seinem Freunde Scharfeneck, der inzwischen zurückgekehrt war, hielt Oswald diese enge Beziehung zu einer armen Gärtnersfamilie denn doch geheim. Er konnte dem Freunde zwar nicht ganz ableugnen, dass ihn in der Vorstadt eine mit seinem allen Vater bekannte Familie fesselte; er gestand auch dem sarkastischen Lächeln des Freundes zu, dass sich im Schoß derselben allerlei blühende junge Welt befände, dass man scherze, tändle, lache; aber ein ihn bindendes Verhältnis konnte er um so mehr in Abrede stellen, als in der Tat ein solches mit Ernestine Waldmann nicht bestand. Ernst Oswald war zweiundzwanzig Jahre. Es ist dies ein Alter, wo die Sehnsucht nach Liebe im Gemüt der Jugend ebenso lebendig, wie die Verehrung der Frauennatur eine fast andächtige ist. Kein Jüngling liebt in diesen Jahren mit der stürmischen Ungeduld des Mannes, der nur erobern, nur besitzen will. Der Jüngling würde seine Liebe zu entweihen glauben, wenn er sich das schöne Bild seiner Verehrung zu bald zerstörte. Er sieht die Rose blühen, atmet ihren Duft und betet sie an. Tugend und Besonnenheit in einem Mädchen weiß eine solche Hingebung Jahre lang an sich zu fesseln, ja in Schach zu halten, ohne dass jenes entscheidende Wort fällt, das oft so gefahrvoll und in mancher Lage, wie hier, vielleicht unmöglich ist. Oswald lebte in jenem Kreise wie unter den Seinen. Er liebte, aber eine Erklärung war nicht gegeben. Sie stand vielleicht demnächst bevor, am wenigsten aber deshalb, weil sie etwa verlangt wurde.

Mitten in diesen zweifelhaften Zuständen sagte eines Tages Scharfeneck, als dieser mit seinem Freunde von ihrem gemeinschaftlichen Mahle heimkehrte, wie beiläufig zu Oswald: Bester Freund, deine dritte Adresse ist angekommen! — Frau von Wolmany? — Frau von Wolmany; eine Witwe, von der ich zu meinem Erstaunen gehört habe, dass sie jung, reizend, hochgebildet und reich sein soll. — Oswald bestätigte, was auch er inzwischen in Erfahrung gebracht, dass Frau von Wolmany einst einen bejahrten Gatten genommen hatte, früh Witwe wurde und mit Herrn Dämmer, dem Pfarrer seines Ortes, in freundlichem Zusammenhange stand. Sie war von ihm erzogen worden und stand mit ihm noch in Briefwechsel.

Oswald erklärte, er hätte keine Neigung, diesen Empfehlungsbrief abzugeben. Warum nicht? fragte Scharfeneck. Die Antwort, die er erhielt, war unbestimmt. Oswald wich einem klaren Geständnis aus, sagte, auf eine junge, vornehme Weltdame war' er nicht im mindesten vorbereitet, sprach von der Umständlichkeit solcher Besuche, den „moralischen Kosten", in die man sich zu setzen hätte, erklärte alle diese Beziehungen mit der großen Welt für lügnerisch, eitel, nichtig und fühlte die geringen Ergebnisse seiner beiden andern Briefe an, um zu beweisen, dass er Recht täte, auf diesen dritten nicht mehr zurückzukommen.

Scharfeneck schwieg eine Weile. Dann forderte er den Freund auf, mit ihm seine nahegelegene Wohnung zu betreten. Unterwegs schien er von dem Gegenstände abgekommen. Doch in seinem Zimmer angelangt, nahm er ihn wieder auf. Die Fenster vor der Herbstluft schließend, eine Kiste Zigarren vor Oswald öffnend, das Streichfeuerzeug ihm hinschiebend, sagte er wie in leichter, abgebrochener Anmerkung: Der Finanzagent wird dich schwerlich wieder einladen. — Wie so? fragte Oswald. — Ich habe gehört, alter Freund . . . Scharfeneck stockte, Oswald musste lange drängen, bis er fortfuhr. Scharfeneck tat es mit den Worten: Ich habe gehört, alter Freund, dass dich Herrn Stracks Familie kürzlich komplett ausgelacht hat. — Oswald stutzte. Er dachte an das bestandene Sonntagsdiner und besann sich, was ihm dabei konnte widerfahren sein. Scharfeneck erzählte aber einen ganz andern Fall. Man hatte, sagte er, in jenem Hause kürzlich eine Spazierfahrt beschlossen und machte sie in eine entlegene Waldgegend an dem oberen Ufer unseres Stromes hin . . . Dort im Sande langsamer fahrend, entdeckt man eine lautschreiende, lachende, lärmende Gesellschaft unter den breiten Ästen der herrlichen Eichen und Buchen, die daselbst beisammen stehen. Man kommt näher und findet ein Durcheinander von jüngeren und altern Leuten, in Hemdsärmeln, teils sich lagernd und schmausend, teils in dem idyllischen Spiele, das man Blindekuh nennt, con amore begriffen. Die Leute schienen dem Handwerkerstände anzugehören. Mein Berichterstatter, unser Kollege Dankmar Wildungen, der die Ehre hatte, die Partie des Finanzagenten und dessen Damen zu begleiten, erkannte sogar aus seiner Kriminalpraxis einige zweideutige, ihm schon unter verschiedenen Umständen vorgekommene Physiognomien, aber die merkwürdigste Figur von Wen war doch ein junger Elegant, der mit verbundenen Augen im Haschespiel hin und her tastete und eben einige junge, allerliebste Mädchen jagte, Mädchen, die allerdings charmanter sein mochten als Manche, die ihr Lebensziel darin finden, Chopin und Schulhoff vom Blatt zu spielen . . .

Oswald sprang auf. Die Glut der Scham färbte seine Wangen, Der Gedanke, bei dieser kürzlich in den Wald unternommenen Landpartie der ganzen zusammengerafften Vorstadtbekanntschaft beobachtet, erkannt, lächerlich gefunden zu sein, lächerlich gefunden von dem weiblichen Theile einer ihm bekannten gebildeten Familie, . . . machte ihn sprachlos. Sein Stolz, durch diese Erzählung zu sehr gedemütigt, konnte sich kaum sammeln.

Scharfeneck schwieg eine Weile. Es schien seine Absicht zu sein, den Stachel gründlich wirken zu lassen. Er zog ihn nicht heraus, bohrte ihn im Gegenteil nur noch tiefer ein, indem er die Berechtigung der Finanzagententöchter, so satirisch, wie sie getan, den ganzen Tag über den Anblick des Blindekuhspielers zu lachen, mit allerlei Scherzen bestritt. Die Wirkung blieb bei Oswald dieselbe. Er war vernichtet, beantwortete keine einzige der Fragen, die Scharfeneck über die jungen Mädchen an ihn richtete, besonders eine, die Malvina hieß, an Reiz sogar Ernestinen überstrahlte und eine, wie er jetzt erst erfuhr, bewunderte Schönheit der ganzen jungen Stabt-Gentry war. Endlich aber reichte Scharfeneck dem Freunde die Hand und sagte:

Mein teurer Freund! Schließ Frieden mit deinem Stolz und fast' einen männlichen Entschluss! Diese kleine Welt ist deiner nicht würdig. Du Haft dich in sie geflüchtet, um nicht mehr den schmerzlichen Druck des Verlassenseins zu fühlen! Du sehnst dich nach Liebe, Hingebung, gemütvoller Anlehnung. Ich kenne dein gutes, weiches Herz. Aber sei aufrichtig und geh' einen Schritt weiter! Was wir Gemüt nennen, ist es denn nicht so oft nur unsere Mutlosigkeit, ja geradezu unsere Trägheit? Die ganze deutsche Nation beschönigt ihre Mutlosigkeit und ihre Trägheit mit diesem blumengeschmückten Aushängeschilde des Gemüts. Du gibst dich den nächsten und zufälligsten Umständen hin, weil du nicht wagen willst, dir andere zu erobern. Diese große Welt, die dir bis jetzt nur verschlossene Türen und den Rücken gezeigt hat, will erobert, gewonnen, von der Hand eines kräftigen, markvollen Ringers gebändigt sein. Du fürchtest diesen Kampf vielleicht nicht aus Trägheit, ich denke, du kennst ihn nur nicht. Du glaubst, die hingeworfene Verurteilung dieser großen Welt als einer nur herzlosen, kalten, egoistischen Sphäre genüge vollkommen, sie dir wertlos zu machen. Und was ist die Folge dieser Verachtung? Du setzest in deinem Wert dich selbst herab. Ich kenne vollkommen den Reiz dieser kleinen Welt, wo uns Alles mit offenen Armen entgegenkommt, ja durch unsere Herablassung sich geehrt fühlt. Aber selbst an dem stolzen Egmont unsers Goethe hab' ich doch nie leiden mögen, dass der Dichter uns die ritterliche Gestalt eines Helden, der sein Haupt für die Freiheit seines Volkes auf den Block legen musste, in einer, allen geschichtlichen Erinnerungen unverantwortlich widersprechenden Art, zum galanten Kavallerieleutnant, zum tändelnden nächtlichen Buhlen eines Bürgermädchens macht, die mit dem goldenen Schnur- und Litzenwerk seines spanischen Kostüms tändelt. Es hat einen wohltuenden Reiz, ein gutes Mädchen zu kennen, das, wenn uns ein Knopf am Rocke losgegangen ist, ihr Nähtischchen öffnet und ihn im Handumwenden wieder annäht; allein sich so mit seinem ganzen Wert, mit seiner ganzen Zukunft an eine Idylle und an einen solchen Knopf mit annähen zu lassen, das kann nur ein Brackenburg tun, der mir immer wie ein weichmütiger, neu etablierter junger Tischlermeister erschienen ist, trotzdem dass er von Brutus spricht und auf der Schule lateinische Exerzitien gemacht haben will. Teurer Freund! Aufwärts den Blick! Immer emporgeschaut zur Höhe eines großen Zieles! Und wäre der Weg hinauf voll schwindelnder Klippen oder regenglatter Wege, müsste die Hand auch an knorrigen, dornendurchzogenen Ästen von wirrem Strauchwerk sich festhalten, um nur einen elften Vorsprung zu gewinnen, beklemmte die Brust auch die Angst um die fast unmögliche Rückkehr oder die Anstrengung des Steigens oder die Furcht vor einem verfehlten Wege oder vor bösen Geistern gar, die uns im Spuklichte des Mondes, wenn uns die Nacht überrascht, ein verzerrtes Antlitz zeigen und uns in Abgründe locken wollen, aushalten muss man und nur emporschauen in die Höhe, zu den Wollen, zu den Steinen! Was hinter uns ist, das zeuge erst für uns, während wir schon wieder weiterklimmen. Du vollends, Oswald, bist eine Natur, die sich leine Ruhe gönnen darf, die den Mut besitzen muss, mit Irrtümern zu brechen, selbst wenn sie dir wie deine Lieblingswahrheiten aussehen. Ich sage nicht, dass du den Tribunalrat hattest zwingen müssen, dir eine Stelle in seinem Testamente statt einen Stuhl in der Kirche anzuweisen, aber ich sage, dass ein Mann wie du, jung, gefällig, nicht ohne Mittel, jedenfalls nicht ohne die Mittel des Geistes, den Finanzagenten hätte zwingen müssen, eine Heirat mit einer von seinen, wie ich höre liebenswürdigen und gebildeten Töchtern zu bewilligen. Und ich wäre auch nicht einmal für einen solchen frühen Abschluss. Jeden Hahn, der dich eben an irgend ein Ufer gebracht hat, sollst du noch hinter dir wegstoßen. Die Welt nennt das Egoismus. Der Egoismus aber, der in kleinen Erfolgen Befriedigung findet, der sich genügt, im Unbedeutenden ein Herrscher zu sein, der ist viel größer und verwerflicher. Überlege dir, was du, um dich als Mann zu retten, in diesem Falle zu tun hast! Oswald dankte dem Freunde von ganzem Herzen. Er erklärte, sein Entschluss bedürfe keiner weiteren Erörterung; er würde die Vorstadt nie wieder besuchen; es verstünde sich von selbst, dass er sich von einer Neigung losrisse, die nur eine gemütliche Schwäche gewesen wäre. Überdies versprach er, bei der jungen Witwe den dritten Brief abzugeben und, im Fall er freundliche Aufnahme fände, auch den Freund daselbst einzufühlen. Beide schieden voll Übereinstimmung und neu befestigter Herzlichkeit. Um sich zu zerstreuen, die brennenden Wunden seines Stolzes und doch auch einen schon sich meldenden leisen Schmerz des Entsagens so traulich gewesener Gewohnheiten zu betäuben, ging Ernst Oswald dem Gewühl der inneren Stadt zu. Was sonst selten geschah: er blieb bei manchem Schaufenster stehen, betrachtete glänzende Läden, sah auf manche Erscheinung des öffentlichen Lebens, die ihn sonst gleichgültig gelassen hatte. Oswald bekämpfte sich eben. Er suchte sich durch die Welt schon zu bezwingen. Wie er sich so durch die engen Durchgänge an den ersten Modemagazinen der Stadt vorbei einem kleinen freien Platze zuwandte, bemerkte er daselbst, dicht vor einem Modemagazin von europäischer Berühmtheit, aus einem vornehmen herrschaftlichen Wagen zwei Damen steigen, von denen die eine eine so außerordentliche Ähnlichkeit mit Ernestine Waldmann hatte, dass er auf den ersten Anblick hätte schwören mögen, sie wäre es selbst. Seines Irrtums gewiss, ging er weiter, verlor sich, mit Schmerz der notwendigen Trennung gedenkend, in andere Straßen; die Ähnlichkeit der Dame mit Ernestine Waldmann war auffallend, aber doch nur eine Ähnlichkeit gewesen. Jetzt sah er, wie schön Ernestine war, wie gefällig sie hätte erscheinen können, wenn sie nicht arm und ohne Bildung gewesen wäre. Der Zufall führte ihn aber an die Stelle des ersten Anblicks zurück und unter mehren herrschaftlichen Wagen, die inzwischen vor dem großen Magazine sich hinzugefunden hatten, hielt noch dasselbe leichte elegante Gespann von vorhin. Oswald blickte, mehr wie um seine drückenden Empfindungen loszuwerden, als aus sicherer Erwartung, durch die Spiegelscheiben des berühmten Magazins. Es war voller Menschen. Die Ausdehnung dieser Räume hinderte, sie ganz zu übersehen. Den in glänzender Livree harrenden Bedienten der Equipage zu fragen, wem sie gehöre und welche Dame so sehr Ernestinen gleichen könnte, würde ihm eine Torheit erschienen sein, um so mehr, als mit diesem Bedienten Jemand sprach, den er kennen musste: ein gewöhnlicher Mann in einem weißen Hute, den er schon öfters in den Kreisen der Vorstadt getroffen hatte und der ihm sogleich eingefallen war, als er vorhin von Scharfeneck hatte hören müssen, Dankmar Wildungen hätte bei jener Partie Physiognomien erblickt, die der Kriminalpflege nicht unbekannt wären. Oswald besann sich, dass dieser immer mit weißem Hute gehende kleine gedrückte, etwa in den Dreißigern zählende Mann mit sonderbarer Vertraulichkeit von diesen geringen Menschen gewöhnlich Lude Wächter genannt wurde. Es war Oswald doch, als er diesen Mann sah und vielleicht nun doch Ernestinen wirklich in der Nähe vermuten konnte, als schnürte ihm etwas den Atem zu. Er konnte nicht reden, nicht fragen; er unterdrückte mit Gewalt den Glauben, wirklich Ernestinen gesehen zu haben. Darauf entfernte er sich. Kaum war er aber einige hundert Schritte weiter gegangen, als er, sich umwendend, dieselbe Equipage erblickte, die rasselnd auf dem Straßenpflaster hinter ihm herflog. Die Damen fehlten nicht. Die eine saß ihm abgewandt und konnte nicht erkannt weiden, die andere war in der Tat Ernestine. Dass sie es war, bestätigte ihm nicht nur ihr Erröten, ihr erschreckendes Zurücklehnen, sondern ihr halber und doch ausdrücklicher Gruß. Oswald musste an die Tür eines Hauses treten, um sich zu halten, um sich zu sammeln. Es war ihm, was er da sah, wie eine Traumerscheinung. Ernestine Waldmann in einem glänzenden Wagen, mit kostbaren Kleidern, wie er sie nie an ihr erblickt! Jede Vermutung, dass sie plötzlich in die Dienste einer vornehmen Herrschaft hätte eingetreten sein können, wurde durch diesen reichen Spitzenhut, durch einen türkischen Shawl, den sie breit auseinandergelegt selber trug, widerlegt. In Oswald tobte und raste jetzt Alles nach Aufklärung. Er eilte zurück an das große Magazin — wir dürfen es wohl nennen, es war das Gerson'sche in Berlin —, suchte an den noch haltenden Karrossen jenen Ludwig Wächter, den er jedoch nicht mehr fand, trat dann im Magazin ein, fragte nach den beiden Damen, die eben die Räume verlassen haben mussten. Seine Lippen bebten . . . Da die weitläufigen Räume überfüllt waren, musste erst dieser und jener Comptoirdiener gerufen, diese oder jene Verkäuferin befragt werden . . . Man kannte die Damen nicht. Beide hätten sich Stoffe zeigen lassen und vorläufig nur einige Kleinigkeiten gekauft. Oswald trat aus dem glänzenden Hause und verglich sich einem Wanderer, den ein Irrlicht verlockte, oder mit dem Helden eines Märchens, mit dem ein Kobold im Walde Versteckens spielt. Zuletzt musste er sich sagen: Die Gaukelbilder sind nur in dir, in deinem eigenen verschlossenen Auge! Welche Wirklichkeit lebte um dich her? Mit welchen Menschen verkehrtest du? Was hast du Alles dort draußen in der Vorstadt und unter dem Volke nicht gesehen? Wer ist Ernestine, die dir ein Mädchen der Armut schien und die jetzt in einem glänzenden Wagen wie eine Fürstin an dir vorrüberrollte?

Es lässt sich denken, dass er seinen Entschluss, für immer mit der Vorstadt zu brechen, noch um einen Tag aufschob.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unterhaltungen am häuslichen Herd. Band I.