Das Heimchen im Ohre.
Eine Fahrt von Frankfurt am Main nach dem Bade Homburg war ehedem wegen ihrer Bereicherung in geographischen Kenntnissen berühmt. Man kam, wie noch jetzt, von den Verlockungen des grünen Tisches leichter im Beutel zurück, aber reicher in Orientierung über unser liebes deutsches Vaterland. In den drei Stunden, die die Fahrt nach Homburg von Frankfurt am Main in Anspruch nahm, konnte man ein halbes Dutzend Dörfer passieren und vor jedem derselben einen Pfahl mit eines andern Herrn Wappen und mit eines andern Landes Zeichen sehen. Erst kam die freie Reichsstadt Frankfurt, dann sah man ein paar blühende Morgen Großherzogtum Hessen, dann einige reiche Baum-Äcker Nassau, dann einige Hütten Kurhessenland und zuletzt das Reich Homburg vor der Höhe mit seinen gehegten Rehen, seinen Ludwigs- und Elisabethenquellen und seinen hochherzigen, lange noch nicht genug gewürdigten uneigennützigen edlen Croupiers, den Herren Gebrüdern Blanc, den wahren Dynasten des Landes.
Im Sommer eine heitere Fahrt, wenn nicht im Juli die Witterung oft wandelbarer wäre als im April. Eine Fahrt nach Homburg auf Sonnenschein bestellt, und ausgeführt bei düstergrauem Himmel, der nur der Phantasie eines Wetterunkundigen für den Nachmittag die schönsten Aufklärungen versprechen konnte — das war das Werk einer Dame, die zu jenen weiblichen Charakteren gehörte, die bei einer Landpartie mit Horaz sagen: Nichts kann sie irre machen und wenn Himmel und Erde einfielen! Und der Himmel fiel in der Tat an jenem Julitage ein. Vom Taunus bis zum Melibocus hinüber hingen Wasserhosen, die um Mittag so zu sagen in allen Nähten platzten. Ein Regen ergoss sich, dessen Ströme alle Wochenblättchen der Umgegend auf vierzehn Tage mit Schauerlichkeiten befruchteten. Brücken, Dämme wurden niedergerissen, Ufer blieben Tage lang unsichtbar, Saaten und Früchte lagen niedergeworfen. Alle Schlagbäume der verschiedenen Länder, die die von der heroischen Dame aufgebotene Gesellschaft zu passieren hatte, drohten ihre Farben zu verlieren, und jeder aus ihnen herausgelangte Chausseegeldbeutelstock war im Nu so wassergefüllt, dass das bezahlte Geld sich in Strudeln und Wirbeln umdrehte.
Der Leser denkt vielleicht, ein geschlossener Wagen mit zugelegten Fenstern oder auch nur mit zugeknöpftem Seitenleder hatte den sechs Passagieren einen solchen Überblick über die Verheerungen eines Platzregens nicht gestatten können. Der Leser setzt vielleicht voraus, dass der Erzähler den berühmten Platzregen der Münchener Galerie von Bürkel vor Augen hat, dessen ländliche Sündfluten, watenden Kühe, irrenden Schafe und die von den Dächern stürzenden Gießbäche er von Öl zur Tinte abschreibt? . . . Nicht im mindesten. Dies Wetter wurde unmittelbar empfunden, unmittelbar bis auf die Haut durchlebt. Die Dame, der die Rosse und der Wagen gehörten, war eine von den Heroinen der Abhärtung. Sie fand in dieser Sündflut nur eine sanfte Erquickung der Natur. Ihr heißes Blut kühlte sich ab, je mehr die Tropfen anspritzten, je mehr ihre Wangen glühten. Sie lüftete sich wie bei Hundstagshitze, atmete wie in Jasminlauben. Sie fand in den entfesselten Elementen die süßeste Befriedigung ihrer zu den unverstandenen Seelen gehörenden Natur. Ich hätte immer diese Frau am liebsten auf einem Throne gesehen. Sie war reich, geschmackvoll, unternehmungskühn, Verächterin aller Rücksichten auf die gewöhnlichen Schwächen der Menschheit, mit fünfzig Jahren noch jung, eine geborene Semiramis, eine Katharina, die zwölf Städte hätte aus Nachmittagslaune niederreißen und hundert andre auf ein Freundeswort wieder aufbauen lassen können. Wenn eine solche königliche Amazone spricht: Zieht es Ihnen doch nicht, Doktor? Haben Sie doch nicht nass? Erkälten Sie sich doch nicht? wer könnte da als Mann seines Jahrhunderts, als souveräner Herr der Schöpfung, als Erstgeborener des Paradieses, von Rheumatismus und der Notwendigkeit eines von allen Seiten entschieden zu schließenden Wagens sprechen? Im Gegenteil! Welche angenehme Luft das! Welche erfrischende Kühle! Wie so etwas von Grund auf wohltut! Wie die Nerven sich starken und abhärten! Unvergessliche Fahrt nach Homburg! Die rechte Schulter war zwar bis auf die Haut durchnässt, aber man rief: In dem balsamischen Gewitterregen ginge ja das ganze Herz auf!
Das Opfer einer solchen gesellschaftlichen Lüge — es gibt deren größere — war endlich froh, als der Wagen über den durchweichten Kieselsand von Homburg rollte und unter dem trockenen Vorbau des Kurhauses anfuhr. Es sollte gerade ein Konzert gegeben werden von fremden Musikern. Schon erfuhr man, dass vor einem bei solchem Wetter vorauszusehenden kleinen Publikum die Musiker sich eilten, ihre Stücke abzuspielen; denn allzu lange feierte nicht gern Herrn Blancs verhängnisvolle Kugel im Roulett, das so lange als Polyhymnia im Saale walten durfte entfernt wurde. . . . Wie wir in den Saal traten, braust eben vom Orchester herab eine rauschende Musik, wunderbar widerhallend, mächtig, von Cymbeln und von Flöten anschwellend zum Posaunenton. Und von dieser ersten Sinnenwirkung auf einen durch und durch erkälteten Körper schreibt sich die Geschichte vom Heimchen im Ohre her.
Wohl dir, lieber Leser, wenn du diesen Hausbewohner bei dir nicht zu bergen hast! Wohl dir, wenn du ihn gar nicht kennst und gar über ihn lachst, über diesen ungebetenen Gast, der sich's in den inneren Gängen deines Gehörs für immer bequem machen kann und als dem Schallbecken, dem Steigbügel und dem Trommelfell nicht mehr auszutreiben ist! O dieser ewige Reiter mit den Schlägeln vor sich, dieser kleine Kesselpaukenschläger bei der Kavallerie der Gedanken! Dieser ewige, quälende Ton, der in allen Schlüsseln, aus Dur und Moll, in deinem Ohre spielen kann, bald in die hohe Octave springt wie eine Pickelflöte, bald in den tiefen Alt wie ein unheimlicher Unkenruf! Das erste Mittel ihn herauszulocken, ein rüttelnder Finger in der äußern Höhle, wurde vom Heimchen wie Kinderspott verlacht. So lockst du mich nicht mehr weg von meinem stillen Plätzchen! Der Unhold, der dort fast wie zum Scherze neckt und nur Versteckens zu spielen scheint, summt und summt und klingt und klingt. Wart, du Eindringling, du sollst stärkere Proben kennen lernen! Eine spanische Fliege wird dich fangen! Die Fliege wird angelegt, zieht und zieht und spinnt und spinnt, das Heimchen lässt sich nicht fangen. Vampyre hinters Ohr, Schröpfköpfe! All' nichts: Heimchen sitzt tief, tief in den Nerven und die Vampyre haben nur Kraft über Adern und Blut. Ein Dampfbad! Umstimmung des ganzen Körpers! Hilft Alles nichts. Die Homburger Fahrt, die Lüge männlicher Eitelkeit und die erste überraschende Erregung nach der Erkältung, die zufällig das Gehör getroffen, weicht vor keinen Wasserdämpfen und vor keiner Dusche und unter keiner Brause mehr. Das Ohr summt und summt — und summt und summt in Ewigkeit.
Es war dies Übel erst wie eine kitzelnde Fliege auf der Nase, die man haschen will und die doch nicht aufhört, uns zu necken. Man sing mit ihr ein Jagen, ein Versteckspielen an. Bist still! hieß es voll Zorn. Das Summen hörte nicht auf. O, man greift dich schon! Man rannte auf und ab, sang, griff in die Tasten eines Klaviers, trommelte mit Händen, mit Füßen — Gelt? Bist weg? Übertäubt? — Aber die Hände und Füße ermüden und der ewige Tonfluss rinnt doch und rinnt und rinnt und gießt und gießt, ein hörbarer allgemeiner Landregen, ein wie von einem künstlichen Wehr niedergleitender innerer Seelenbach. Ich will dich aber nicht hören, schnöder Ton! . . . Man nimmt Hut und Stock, rennt zum Tor hinaus ins Feld, man singt, man pfeift. Aha! Das rechte Ohr hört schon sich selbst nicht mehr — bei einem Gruße nicht, bei einer zufälligen Überraschung nicht, einem neuen Gegenstände nicht — sonst — ach! Sowie man wieder allein ist mit der stillen, gewohnten Anschauung, summt es und gießt und gießt. O so komm denn Schlaf! Komm, du rettende Nacht! Holder süßer Schlaf! Das Heimchen geht doch wohl mit zur Ruhe? Vielleicht? Gewiss? Es singe sein Wiegenlied eine Weile, hübsch andächtig, immerhin emsig, aber — auf die Länge? Nein! Das Ohr kann das keine Schlummertont nennen — man springt auf, zündet Licht an, lacht, weint vor Zorn, man liest ein Buch, man sieht in die Nacht hinaus, aber das Heimchen liest immer mit, sieht immer mit zum Fenster hinaus, wo die stillen Brunnen gehen — erst als das Auge, zu übermüdet, zu erschöpft sich endlich schließt, erst da ist der Gast still, vergessen, wie der Schlummernde sich selbst vergisst.
Das Heimchen im Ohre hat seitdem seit Jahren nun schon einen sichern stillen und festen Wächterposten in uns bezogen. Es steht Schildwacht schon seit mancher Lebenskrisis am Ohre nicht nur, sondern dicht am Herzen, es lässt gute und böse Gedanken ein, ermuntert die einen, mahnt, straft, richtet die andern, und vor dem Heimchen muss sich Alles beugen und Alles rechtfertigen. Ist man einsam, so kann man schon sagen, man wäre nun doch nicht allein. Man ist immer zu Dreien: Du, die Welt und der Dolmetscher zwischen uns Beiden, der Sänger im Ohre. Seit man ihn ruhig als Kamerad bei sich duldet, hat er sich auch seine jeweiligen Flageolettöne, die über das eigentliche Thema hinausgingen, abgewöhnt; er bleibt nun bei der Dominante, dem einen Ton, der immer gleich, Tag und Nacht derselbe ist. Dieser Ton ist nun schon wie eine einzige gerade Linie, auf der man sein Leben hinschreiben möge, wie ein untergelegtes Linienblatt des Friedens und der Ergebung. Man vergisst sich noch oft, noch oft geht's hoch hinaus in der Seele über die Linie hinweg oder auch tief hinunter in die Nacht des Zweifels an sich selbst und der Welt, aber nach einigen kurzen Augenblicken der Besinnung sagt das Heimchen im Ohre sogleich, wo die gerade Linie gezogen. Wollte man des Heimchens Gesang in Worte übertragen, so spräche es wohl vom Morgen bis Abend:
Ich singe dir die ewig rinnende Zeit! Ich singe dir, was weit, weither von einem hohen wolkenumschleierten Berge kommt, und was dahinfließt weit, weit wieder abwärts zu einem tiefen Meere der Zukunft hin. Weit? Es ist vielleicht nicht so weit, es kann unabsehbar fern, es kann auch nahe sein; aber tief ist's gewiss und auch zu einem Ziele geht's, wo plötzlich Alles schweigt, dein Denken, dein Fühlen, dein Tun und dann auch mein Mahnen und mein Singen! Wirf nun auch in den Strom deines Lebens hinein, was du noch willst; das Bett ist gemacht. Der eine Ton — die Linie — die Zeit — das Maß! Was auch dahineinfällt, es muss nun schon mit — muss mit hinunter den Strom — vorwärts, vorwärts zu dem letzten Ziele! Erwachst du jetzt schon, so bin ich dein erster Gruß, entschläfst du, bin ich dein letzter und selbst im Traume wecke ich dir Bilder des Stromes, Bilder vom Meere, Bilder von einem sanft hinuntergleitenden Nachen, der dein Leben trägt und dein beruhigtes Herz!
Wohl dir, wenn du dich selber hören kannst! Bleibe dir's wohnlich in dir! Lerne, dich bei dir selbst beherbergen und fürchte nicht Menschen, fürchte nicht Dinge — fürchte nur dich!
Frankfurt, 033 Das Buchhändlerhaus zum Wetterhahn in der Alten Mainzer Gasse
Frankfurt, 014 Die St. Leonhardskirche
Frankfurt, 029 Der Weinmarkt am Leonhardstor
Frankfurt, 043 Die Friedberger Warte mit Schlagbaum; auf der Landstraße ein vierspänniger Reisewagen
Frankfurt, 079 Das Leinwandhaus
Frankfurt, 080 Die Römerhalle für Messestände
Frankfurt, 081 Der Liebfrauenberg mit den Porzellan- und Glashändlern zu Messezeiten, dahinter die Häuser zum Paradies und Grimmvogel
Frankfurt, 089 Messe 1696
Frankfurt, 4 Abschnitt, Der ständige Handel
Frankfurt L1
Frankfurt, 001 Der ständige Handel seit 1554
Frankfurt, 049 Rückseite der Judengasse
Frankfurt, 053 Erstürmung der Judengasse am 22. August 1614. Rechts vom Tor das Haus der Priesterfamilie Cahn zur Pforte
Frankfurt, 061 Blick in die Judengasse
Frankfurt, 063 Geschäftshaus zum Landseck, Neubau des Junkers Flad von 1544
Frankfurt, 066 Der große Speicher in der Rotekreuzgasse. Neubau von 1587 des Seidenfärbers Franz de le Boöe aus Lille
Frankfurt, 067 Hoffassade des großen Speichers von 1587 nach einer Abbildung in den Baudenkmälern
Frankfurt, 068 Haus zur goldenen Waage, erbaut um 1620 von Abraham de Hamel
Frankfurt, 075 Die Häuser Fraueestein und Salzhaus am Römerberg
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