Unter der Gewalt des Hungers - 2. Boden

Aus: (Erdkraft, Eindrücke aus dem Osten) Vom neuen Werden in Russland
Autor: Kober, August Heinrich (1887-1954) (Psdn. Ob, Balthasar Schmitz, Tyll) Journalist, Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1922
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Hunger, Hungersnot, Hungerkatastrophe, Mitleid, Unglückliche, Sowjetrussland, Heuschreckenschwärme, Westvölker, Europa, Westeuropa, Kannibalismus, Esslust, Typhus, Nahrungsmittelvorräte, Zivilisation, Menschlichkeit, Brot, Tolstoi, Dostojewski, Turgenjeff, Industriearbeiter, Bauer, Landwirtschaft, Tafelfreuden, Boden, Rauschbedürfnis, Alkohol, Sozialrevolutionäre, Existenztrieb, Finanzströme, Spekulanten, Banken, Politiker, Korruption, Bestechlichkeit, Geselligkeit, Gutsherren, Fabrikanten, Freiheit, Solidarität, Auswanderer, Auswanderung, Einwanderer, Einwanderung, Kolonisten, Religion, Christen, Juden
Es gibt Völker, die in Augenblicken feierlichster Erregung den Boden ihrer Heimat küssen. In Europa habe ich das auf dem Balkan gesehen an Leuten, die aus der Fremde zurückkamen, in Russland an Männern, die aus Gefängnis und Verbannung heimkehrten. Diesen Menschen ist die Erde etwas Lebendiges, mit dem sie sich in jedem Augenblicke organisch verbunden wissen. Was wir Westeuropäer irgendwo in einem Himmel, jenseits dieser sichtbaren Wirklichkeit erst, suchen, das ist der gewöhnliche Kreislauf des Blutes bei jenen Menschen, die noch fest in der Erde stecken: eine große Lebensgemeinschaft alles Organischen und Anorganischen.

Aus dem Boden, aus der Erde wächst die Seele des Menschen, der über sie hinzuschreiten wähnt, in Wahrheit aber ihr nie entrinnt. Die Erde ist nicht zuerst die Trägerin unserer Nahrung. Viel tiefer, und zeitlich viel früher, bestimmt die Erde seelische und geistige Eigenart der über ihr lebenden Menschen. Wenn man einmal die Heimatplätze der Weltreligionen auf einen Globus einzeichnet, dann die Orte der großen religiösen und künstlerischen Ekstasen, so wird man ganz bestimmte geologische Merkmale wiederfinden. Die Hochgebirgsmassierungen, die ausgefressenen Läufe der Riesenströme, Wälder, Steppen und Meere haben jeweilig besondere Rassen hervorgebracht, gewaltige Naturformationen haben die Wanderungen und Siedlungen der Menschen bestimmt, die Schicksale der Völker mussten durch den Stein wachsen. Jeder Nation kann man ihre geologischen Grundlagen ablesen. Es gibt eine mystische Morphologie.

Wenn ich von russischem Boden schreibe, dann denke ich dabei sofort immer an jene ungeheure Weite, die Russlands Erde als unendlich erscheinen lässt. Auf diesem Boden steht der Russe als Ackerer. Aber, noch bevor er die Hand an den Pflug legt, bevor er an Korn und Brot denkt, spürt der russische Bauer seine Erde in einem ganz eigenen Sinne. Sehr wenig Menschen in Deutschland werden sich erinnern, je in einer Ebene gestanden zu haben, die durch den Zusammenfall von Himmel und Erde am Horizont zu einer eigenen Welt gleichsam abgeschlossen wurde. Der Russe in seiner Landschaft — bei deren Leere, freien und offenen Weite die Himmelswölbung mächtiger scheint denn irgendwo — sieht und spürt nur immer: Russland. Das Stückchen Bodens, das dieser Tagelöhner heute zu beackern hat und das alle seine Arbeitskraft vom Morgen bis zum Abend fesselt, ist vielleicht nur ein paar Quadratmeter groß. Aber der Mann braucht nur aufzublicken, und er weiß sofort wieder um die Unendlichkeit seiner Heimat. Was der Himmel einschließt, Steppen, Wälder, Dörfer, Städte, das alles ist Russland. Überall, wo der Russe die Augen aufschlägt, hat er das gleiche Bild, immer hat er das weiteste Blickfeld, immer geht das so weiter bis ans Ende der Welt, und immer wieder und immer noch ist das: Russland.

Der Mensch der Steppe — und das ist der Russe — hat also, der Unbegrenztheit seines Blickfeldes zufolge, ein Bodengefühl, das mächtig in die Breite strebt. Dabei von Nationalgefühl zu reden könnte missverständlich sein; aber als ungemein weitfassendes Solidaritätsempfinden, als weitschwingende Sympathie kann man jene russische Eigenheit wohl bezeichnen. Hierher stammt der oft wahllos um sich fassende Optimismus des Russen, sein kindhaftes Vertrauen, sein unbekümmertes Umherschweifen über die ganze Erscheinungswelt hin. Hierher auch die Unbegrenztheit und Maßlosigkeit alles russischen Denkens und Fühlens, Der Russe ist grundsätzlich Sozialist, der Bolschewismus ist der im unendlichen Blickfelde Russlands hypertrophierte westeuropäische Sozialismus.

Wenn wir zurückdenken an jene Tiefenwirkung des russischen Bodengefühls, das den Einzelnen mit seinem Blute, mit seinen Säften an die Erde band, und neben diese Vertikale nochmals die eben beobachtete Horizontale der Sympathie ins Weite stellen, dann kommen wir wieder auf jene seltsame Kreuzung von Individualismus und Massengefühl, die uns im ersten Kapitel schon als spezifisch russisch beschäftigte. — Praktisch ist das Agrarproblem der immer wiederholte Ausgleich zwischen der individuellen Arbeit eines Einzelnen und den Bedürfnissen der nationalen Gesamtheit. Das ganze soziale Getriebe, das man abkürzend als die Wechselwirkungen zwischen Stadt und Land bezeichnen kann, steckt schon in dem Begriff der landwirtschaftlichen Maschine und in dem Begriff der Eisenbahnverbindungen von der Stadt zum Dürfe. Man weiß, dass es in Russland seit je an beidem gefehlt hat, die Eisenbahn war dort, im Vergleiche mit Westeuropa, ebenso selten wie das moderne landwirtschaftliche Betriebsmittel. Man kann dies nicht einfach mechanisch-äußerlich erklären. Vielmehr ist Osteuropa das Land, in dem der Siegeslauf der modernen Maschine, vorläufig wenigstens, endete. Auch der russische Fabrikarbeiter — wovon noch weiterhin gehandelt werden wird — ist nicht Maschine in unserem Sinne, sondern im Grunde, ähnlich wie die alten Schleifer in Solingen, selbstständiger Handarbeiter. Die Maschine, deren Zweck und Sinn eine Arbeitsteilung, eine Arbeitsgemeinschaft ist, trifft in Russland — wahrscheinlich auch in Asien — eine Art des Arbeitens an, die jene Forderungen schon erfüllt. Der russische Mensch ist Maschine, d.h. Teilerscheinung, Mittelglied nur einer höheren Arbeitsleistung — das wird man ohne weiteres zugeben angesichts des Gutsarbeiters, den der Inspektor zur Arbeit anprügelt, der seinerseits wieder die Peitsche des Gebieters fürchtet, wenn das Tagespensum nicht erledigt ist. Was man als Eigensinn und Härte des besten Bauern in Russland, des deutschen Siedlers an der Wolga kennt, ist genau dasselbe. Alle scheinen in diesem Russland unter einem Zwange zu arbeiten. Die Kleinen sehen ihn in ihrem Herren, die Bauern wittern ihn in irgendwelchen Gouvernementsukasen, die Großen durchschnuppern die Hofluft nach Gnade oder Ungnade. Es ist klar, dass dies Arbeiten unter Hochdruck, geübt durch Generationen hindurch, eine ängstliche Beschränkung auf einen kleinen Bereich sorgsam beobachteter persönlicher Arbeitspflichten heranzüchtete. Zwangsmäßig ergab sich damit, was in Deutschland Martin Luther von der Kirchenmoral her gewinnen wollte: die religiöse Verpflichtung auf den Werktag, Der russische Tagelöhner, mit seinem ganzen Leben auf ein paar Quadratmeter Erde gezwungen, betrachtet diese als seine Welt; hier verläuft sein Schicksal, und alles, was uns Westeuropäern Länder und Kontinente sagen, was wir ihnen zu sagen haben, das spielt sich zwischen dem russischen Tagelöhner und seiner engen Scholle ab. Dieser Russe allein darf von der Erde als von seiner Mutter sprechen, er ist der wahre Deuter ihrer Geheimnisse, er liebt und verehrt den Boden, mit einer Andacht, die wir nicht mehr kennen. Hebt er beim Pflügen den Kopf empor, dann sieht er, wohin auch immer blickend, russischen Boden, er weiß: überall pflügen Russen wie er; durch die Ackerkrume, durch den Boden fließt eine russische Religiosität, die alle Kirchen überdauert, fließt ein Gemeinschaftsgefühl, das vor allem Sozialismus war.

Man erzählt heute oft in Westeuropa, den unfreien Russen, den eben beschriebenen Tagelöhner gebe es nicht mehr. Wenn man in Russland mit roten Soldaten spricht, entlaufene Ackerknechte herumtoben sieht, in Bauernkommunen ehemalige Petersburger Munitionsarbeiter über die neue Agrarwirtschaft reden hört, dann kann man wohl zunächst den Eindruck haben, in Russland lebe ein neuer Mensch, der einfach alle Fesseln und Hemmungen des alten Regimes abgeworfen habe. Allmählich aber schält sich ein anderes Bild heraus. Man findet überall ein starkes Nationalgefühl, man findet, — nicht so allgemein, aber doch ungemein weit verbreitet — die Verpflichtung auf eine soziale Gemeinschaft und dementsprechend, die Anerkennung eines bestimmten Pflichtenkreises für den Einzelnen. Allerdings wirken alle diese Leute — von den bolschewistischen Bürobeamten angefangen bis zu dem General im Kriegsgebiet der Ukraine — durchaus nicht irgendwie bürokratisch, sondern frei, oft erfrischend leger, individualistisch. Mit anderen Worten: Der Bolschewismus hat jene beiden russischen Eigenschaften, die ich als vertikales und horizontales Bodengefühl kennzeichnete, erhalten. Er hat sie verstärkt dadurch, dass er die äußerlichen Schreckmittel eines prügelnden Behördenpopanzes zum alten Eisen warf, das Sympathiegefühl in die Breite aller Russen über die niedergelegten Schranken noch freier strömen lässt, die Sesshaftigkeit des Einzelnen auf seiner Pflicht noch stärker betont. Mag die Verpflichtung des einzelnen Russen heute nur auf soziale Schlagworte lauten, sie ist die konsequente Fortbildung jenes religiösen, bodenständigen Kommunismus. Wenn der Bolschewismus dem Agrarproblem seine besondere Aufmerksamkeit zuwenden musste, wenn der russische Boden auch dies von Menschen erbaute System zu sich herabzog, und wenn sich dabei der Bolschewismus, mit seiner Verwurzelung in tiefsten erdhaften Trieben und mit seinem maßlosen Drange in unendliche Breiten, als dem russischen Boden entstammend erwies, dann hat er die Entwicklung Russlands vorwärtsgestoßen.

Was auch immer für Menschen arbeitend auf die russische Scholle zurückkehren werden, sie werden dem Herzen der Erde am nächsten wohnen. Sie werden den Boden mit einer ekstatischen Inbrunst lieben. Irgend ein deutscher Romantiker hat sich einmal gewünscht, er könne in die Erde hineinkriechen, ihrer Urkraft zu. Diese Sehnsucht entsprang dem Ekel vor einem erkältenden Intellektualismus. Was allein ist geblieben, ewig unerschütterlich und unveränderlich, in dem großen Hexensabbath Russlands? Der Boden. Als ich 1921 nach Russland hineinkam, hatte ich überall — beispielsweise auch in der Ukraine — den Eindruck, der Boden sei ausgedörrt, vertrocknet, ausgepowert. Sengende Hitze, Sandstürme, Insektenschwärme und Raubbanden haben die Grasdecke weggeräumt, die großen Flüsse waren zu arm an Wasser, um die Trockenheit zu überschwemmen. Man muss sich die russische Hungerkatastrophe nicht so vorstellen, als seien einzelne Gebiete durch eine plötzliche Missernte aus dem Wirtschaftsgetriebe ausgeschaltet worden. Das wäre zu mechanisch gedacht. Vielmehr ist allmählich durch den Krieg, mehr aber dann noch durch die Absperrung Russlands von Europa, mit dem Abbau jedes Gewerbebetriebes der Ackerboden versandet und verkrustet. Die ganze russische Agrarwirtschaft — Zahlen darüber gebe ich im nächsten Kapitel — sieht so aus wie bei uns im Kriege das Kleinbürgertum, das mit ganz unzulänglichen Mitteln einen Wirtschaftsbetrieb aufrechtzuerhalten suchte. In Russland fehlen Geräte, Reparaturwerkstätten, Vieh, Düngemittel, Saatgut, Dieser Mangel an Mitteln zur Fruchtbarerhaltung des Bodens hat die russische Landwirtschaft lahmgelegt. Es ist nicht wahr, dass soziale Wandlungen in der Landarbeiterschaft oder gar im Bauernstande jenen Niedergang verursacht haben. Der Zug nach dem platten Lande ist heute in Russland sehr stark. Die Zahl jener Tagelöhner, die in die Großstädte gezogen sind, wird sicherlich übertroffen von der jener Industriearbeiter, die nach dem Lande hinauswollen. Ein Zug nach dem getreidereichen Süden Russlands ist unverkennbar. Von 1918 — 1920 verminderte sich die Zahl der Arbeiter im Norden um 15%, im Zentrum um 41%, stieg gleichzeitig im Wolgabezirk um 23%. Fast alle ehemaligen Freibauern, die ich in Russland fern von ihrer Scholle traf, hatten nur den einen Wunsch, ihren Acker wieder bestellen zu können, gleichgültig schließlich, unter welchen politisch-sozialen Verhältnissen. Zweifellos wird die Mehrzahl der früheren landwirtschaftlichen Arbeiter dem Ackerbau wieder zur Verfügung stehen, sobald er in normale Bahnen kommt. Auch die jungen Moskauer und Petersburger Bolschewisten, die sich zu Bauernkommunen zusammenschließen (in der Ukraine hat man jetzt unter Petljuras Schutz Tausende dieser Siedler totgeschlagen), und die Veteranen der Roten Armee führen der Agrarwirtschaft neue Kräfte zu.

Während der großen Pause also, die das Agrarleben Russlands machen muss, hat der brachliegende Boden mit geheimnisvoller Macht durch alle Schichten der Bevölkerung gewirkt. Mehr Menschen denn je sind heute in Russland stadtflüchtig, landfreudig, suchen aus der allgemeinen Unsicherheit heraus nach dem einzig Sicheren, dem Boden. Jene, die zur Zeit an der Bearbeitung ihrer alten Scholle gehindert sind, werden mit stärkerer Inbrunst noch und freudigeren Kräften einst zu ihm zurückkehren. Durch die Nachricht von der Hungersnot in Südrussland wurde auch dem letzten, dem Ackerlande am fernsten wohnenden Russen noch die Macht des Bodens ins Gehirn gehämmert. Der Boden schreit plötzlich, seine Ohnmacht zu gebären, in die Ohren aller die mit seinem Wachstum seit Generationen rechnen. Das ist der Schrei Pans, einer schreckenden Ackergottheit. Der Landmann, der in dem Boden steckt, seinen Säftekreislauf versiegen spürt, gegen hohlen trockenen Stein klopft, wo zuvor Blüte und Frucht sich lockerten, weiß: dies ist etwas, das schicksalhaft mein eigenes Sein trifft, es ist ein kosmischer Vorgang.

Wenn man sich das Gebiet des russischen Hungers graphisch darstellen will, so schlage man über die größte nördliche Breite des Kaspischen Meeres (Astrachan — Alexandrowsk) ein Oval mit den Peripheriepunkten Sarepta — Zarizyn — Nishnij-Nowgorod — Wjatka — Perm — Jekatarinburg — Orsk. Das ganze Gebiet fast ist Grasland, im Nordwesten an das Sarmatische Tiefland schneidend (Wald- und Kulturland), im Südosten an die Kirgisensteppe. Dies ist das größte Hungergebiet. Ein kleineres umfasst die Krim und einen sich darüber erhebenden Halbkreis, bestimmbar durch die Punkte Odessa — Jekaterinoslaw — Taganrog. Dies ist das Grasland der pontischen Steppe. Zwischen den beiden Hungergebieten, auf dem mittelrussischen Plateau und im Tiefland des Dnjepr hat sich die neuere Geschichte Russlands abgespielt. Man erinnert sich daran bei der Aufzählung der hier liegenden Städte: Twer, Orel, Kaluga, Tula, Wladimir, Moskau, Smolensk, Woronesch, Kursk, Pinsk, Kiew, Tschernigow, Poltawa, Charkow. Die Hungergebiete dagegen sind Eroberungen der Russen aus dem 12. Jahrhundert, das westliche deckt sich mit den Wohnsitzen der Petschenegen, im östlichen saßen die Chasaren. Diese beiden mächtigen Reiterstämme, asiatischer Herkunft, ausgezeichnet durch eine kräftige staatliche und militärische Organisation, waren halbansässige Nomaden. Die Chasaren bezeichnen die Einfallspforte nach Asien, die Petschenegen die nach Konstantinopel. Ihre Gebiete sind die großen Kampfplätze der Russen um eine weltpolitische Stellung, über die Chasarenbrücke zwischen Pontischem Meer und Kaspischem Meer kam der ununterbrochene Zustrom aus Asien. Der russische Hunger verläuft also heute in zwei Zonen, die das eigentliche Gebiet der russischen Kultur flankieren, und zwar als Schlachtfelder der Kämpfe um die Erringung und Sicherung jener Kultur. Wir haben hier zwei große Abflussstraßen vor uns, und, ohne zunächst noch auf die Geologie dieser Abflussstraßen einzugehen, können wir schon aus ihrer Geschichte ablesen, dass Wanderungen und Mischbevölkerungen eine wirkliche Bodenkultur in diesen Teilen Russlands nicht aufkommen ließen. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gehört Südrussland, so nenne ich das ganze Hungergebiet von heute, den viehtreibenden Nomaden, die den Ackerbauer nur ungern neben sich dulden. Das war das Reich der Kipczak-Tataren, die hier als Perekopsche Horde, Goldene Horde, Tagaische und Blaue ununterbrochen zwischen den südlichen Flüssen Kriege führten, mit einem entsetzlichen Raubsystem sechszehnfacher Steuern wüteten, 1353 die Pest nach Europa bringen, und 1240 schon mit der Eroberung Kiews das ackerbauende Slawentum im Süden besiegt hatten, Nowgorod und Moskau haben Kiew abgelöst, das Schwergewicht des normannisch-russischen Großfürstentums liegt im Norden. Seltsamerweise aber geht die Tatarenherrschaft in Südrussland zurück, je mehr der slawische Widerstand nachlässt. Man weiß nicht, weshalb die Dschingiskhan und Tamerlan mitten aus ihren Siegen heraus auf halbem Wege jedesmal umkehrten. Diese gewaltigen Horden — der Ausdruck passt nicht recht angesichts ihrer sehr kultivierten Verfassung — waren ja immer nur Ausläufer einer noch viel mächtigeren Zentralgewalt in Asien. Die Winke, die von dort her nach Europa ergingen, haben etwas geheimnisvoll Erschreckendes. Vielleicht wurde der große Gegensatz zwischen Nomaden und Ackerbauer in jenen Jahrhunderten auf dem ganzen breiten Gürtel vom Tibet(Nomaden) — China (Ackerbau) — Südostrussland ausgetragen. Wir können feststellen, dass sich in Südostrussland, zeitweise in ganz Südrussland die ackerbauenden Slaven, ursprünglich zwischen finnischen Jägervölkern des Nordens und skythischen Hirten des Südens am Südabhange des Wadaizuges eingeklemmt, mit den asiatischen Nomaden durchdringen. Die Mission des nordischen Großrussland war es, die Bewegung in jenen Gegenden zu hemmen und das Mongolentum dort zu vernichten.

Alle jene Versuche der Zwangsansiedlung, der Kolonisierung durch Fremde (von Iwan dem Schrecklichen bis auf Alexander I.), die Massenversetzungen, der großartige Plan Alexanders, das ganze Heer anzusiedeln — alles das sind Etappen eines einzigen großen Unternehmens. Als Ganzes ist es misslungen. Der Süden blieb stets der Schlupfort unzähliger flüchtiger Bauern, ,,Läuflinge" genannt, 1775 bringt der Aufstand Pugatschews hier eine Wiederholung der Tatareneinfälle, die Ansiedlung des Heeres kommt nicht zustande, alle großen Epidemien und Hungersnöte haben in Südrussland seit je ihren Ursprung gehabt. Was in jahrhundertelanger Arbeit hier erreicht wurde, waren in die allgemeine Bewegung eingestreute Ackerinseln. Die Bewegung selber blieb. Ob ein Leibeigener sich vom Herren einen „Pass" geben ließ, um freizügig zu werden, oder ob Kaiser Paul von Südrussland über China nach Indien ziehen wollte, ob Jermolow 1817 seine groteske Gesandtschaft nach Persien führte, — im Grunde ist das immer die gleiche, tief ins Blut eingedrungene Tendenz des Nomaden seiner Stammheimat zu. Ein genius loci, eine versteinte Massenpsychose. Dieselbe Tendenz wirkt sich nach Westen aus in den Zügen am Schwarzen Meer, in der Form von Expansion und Kolonisation scheinbar: Türkenkriege, Katharinas ,,Dacien", ihr griechischer Vasallenstaat, Alexanders Kampf um das Schwarze Meer.

Die beiden Hungergebiete von heute sind also ihrer Bevölkerungsgeschichte nach für Massenwanderungen prädisponiert. Wie verlaufen heute diese Züge? Im Ostgebiet ziehen die Massen südwärts dem Laufe von Wolga, Don und Ural nach; im Westgebiet drängt die Bewegung stromaufwärts an Dnjestr, Bug, Dnjepr entlang auf Kiew zu. Mit anderen Worten: die beiden großen Wanderstraßen zu Seiten des mittelrussischen Plateaus beleben sich wieder. Da es nun nicht nur darauf ankommt, in welcher Richtung entsetzte Hungernde fliehen, da vielmehr Kranke und Kinder in die Städte jenes ungefährdeten Mittelgebietes gerettet werden, da von dort aus Hilfslinien in die Hungergebiete immer zahlreicher auszustrahlen beginnen, kann man sagen: das politisch und kulturell heute am wichtigsten scheinende Mittelrussland rückt in den Brennpunkt der Hungerkatastrophe. Rein geographisch betrachtet erweist sich also der russische Hunger schon als ein zentralrussisches Problem, als eine gesamteuropäische Angelegenheit. Das Hungergebiet, Südrussland, ist immer die Heimat jener Massen gewesen, die für das andere, wirkliche, glückliche Russland im Norden gestorben sind. Dies Tatarenland, in dem der Schollenzwang am lockersten war, Wandertrieb und Weitengefühl vorherrschten, diese große Zufahrtsstraße für Massen, Waren und Kräfte ins eigentliche Russland hinein, dies Land der Vermittlung, Vorbereitung, Schulung und des Kampfes, dessen Eigenwerte nie fest sesshafte Menschen friedlich genossen, erhält jetzt wieder einen entscheidenden Einfluss auf Zentralrussland. Es wird jetzt, unweigerlich, wieder Nomadensteppe. Irgend eine Periodizität scheint dem geschichtlichen Geschehen doch zugrunde zu liegen: Zwischen 900 und 1000 kämpft das normannisch-slawische Russland gegen den Süden, aber 1160 hat die asiatische Steppe mit der Vernichtung Kiews gesiegt; zehn Generationen später, 1300 bis 1400, tobt der Kampf gegen die Goldene Horde, 1492 wird sie zurückgedrängt, aber gerade zur Zeit Iwans III., zur Zeit des slawisch-russischen Hochgefühls, wird der Süden Wandergebiet der flüchtigen Bauernmassen, die Fedor Iwanowitsch durch die strengste Leibeigenschaft zur Sesshaftigkeit zu zwingen sucht. Aber die Steppe siegt wieder. 1700 — 1800 versucht Nordrussland abermals den Süden in seiner Bewegung zu hemmen, es sind die Siedlungen Elisabeths, Katharinas, Pauls. Aufstände und Kriege hindern das Werk; dass Russland keine Flotte erhält, bewirkte der mongolische Einschlag; die Gründung Odessas 1800 ist der größte Erfolg aller dieser Kolonisationsbemühungen, und dieser Hafen ist auch nur ein Kompromiss zwischen dem sesshaften Norden und dem wandernden Süden. Das Eigenleben des russischen Südens hat den Norden groß gemacht. Die Folge von Kiews Fall war die Verlegung des Großfürstentums nach Moskau 1328. Russland wurde ein Ostseeland, die zahlreichen Versuche einer Orientierung nach Osten (Persien, Kaukasien, Georgien) d.h. die Einbeziehung des russischen Südens glückten nicht, und Alexander I., der letzte bedeutende Herrscher, vollendete den Anschluss an Westeuropa.

Nach der oben gegebenen ,,Berechnung" — ich setze vorsichtigerweise selber das Anführungszeichen — gehört 1900 wieder dem russischen Süden. Die Hungerkatastrophe von 1921 — die Folge natürlich einer langen Agrarmisswirtschaft, Steppenelend zuletzt — ist ein bisher beispiellos heftiger Angriff gegen das westeuropäische Russland vom Süden aus. Denn der Bolschewismus selber ist diesmal Bundesgenosse. Dass dieser Bolschewismus asiatischer Tatarismus sei, haben seine Gegner oft behauptet, um seinen Terror als triebhafte Grausamkeit zu kennzeichnen. Ich selber wähle diese Bezeichnung, weil ich das Weitengefühl des Bolschewismus, seinen Angriffsmut, seinen wilden „Kampf bis aufs Messer", seinen Kosmopolitismus auf der Steppe bei dem Nomaden wiederfinde. Es öffnet sich der Ausblick nach Asien. Die Pforte nach Osten öffnet sich wieder; und zwar gerade in dem Augenblick, in dem Russland wieder in das gesamteuropäische Wirtschaftsgetriebe eintritt. Diese „gelbe Gefahr" wird nicht einfach gebannt werden dadurch, dass man Saatgut nach Russland schickt und zerstörte Gehöfte wieder aufbaut. Das Entscheidende ist, dass der Steppengeist des Südens jetzt in das Innere Russlands und — die Hauptsache! — in die nächste Generation getragen wird. Diese Tendenz ins Nomadenhafte der Steppe wird durch alle Schichten dringen, weil das vom Hunger betroffene Gebiet der Mikrokosmos Russlands überhaupt ist: Flüsse, Meer, Gebirge, Wald, Acker, Steppe, Großstädte, Häfen, für alle gewerblichen Tätigkeiten Russlands liegen hier Urbilder, und alle werden in die magischen Kreise des Hungers einbezogen. Dass von einzelnen ruhenden Zellen in diesem Chaos, von den Siedlungen auf der ,,Schwarzen Erde" her die fließenden Massen gehemmt werden, ist unmöglich. Die Morphologie jener Tatarenländer wird stärker sein.

Eine Gegenströmung von den Städten aus drängt, wie schon berichtet, auf das Land hinaus, zu dem Boden als dem einzig Festen, Bleibenden, Unverlierbaren. Zweifellos wird in dem Hungergebiet von heute bald wieder stark gesiedelt werden. Die Sowjetregierung selber wird diese Kolonisation fördern, ob es sich um kommunistische Betriebe handeln mag oder um privatwirtschaftliche. Die Verpflichtung des Einzelnen auf bestimmte Arbeitsfelder liegt in der sozialistischen Tendenz. Der Plan einer Heeresansiedlung wird eben so sicher wieder auftauchen wie der Versuch, durch fremde Mustersiedler feste Oasen zu schaffen. Über der frühesten Schicht des landflüchtigen Nomaden wird sich auch in Südrussland wieder eine Schicht Eingewurzelter erheben. Aber, wenn Tuljakow, der bedeutendste Agrarfachmann Sowjetrusslands, auf dem Moskauer Kongress im Dezember 1921 die Umstellung auf den Viehbetrieb als Rettung Russlands vom Hunger anriet, dann ist das eine Voraussage des Sieges der Nomadensteppe. Von 140 Millionen in Sowjetrussland sind nur 75 Großrussen, die anderen 65 Nichtgroßrussen halten die Grenzen locker. Die Verbindung mit den Getreideländern Turkestan und Sibirien wird ausgebaut werden, Georgien fest an Russland zu schließen bemüht man sich in Moskau jetzt stärker denn je, die antienglische Orientpolitik ruht nicht, zu der Türkei, zu Persien, Afghanistan, Indien sind innige Beziehungen hergestellt, — Russland rückt näher an Asien heran. Der Hunger schlägt eine feste Brücke hinüber, der heftige, augenblicklich noch unterirdische Kampf um Konstantinopel ist eine instinktive Abwehr Westeuropas gegen Russlands Asiatisierung. Der Bolschewismus, als Stärkung jenes oben beschriebenen horizontalen Bodengefühls ins unendlich Weite treibt gen Asien. Die vertikale Tendenz der organischen Einwurzelung in den Ackerboden stirbt dabei nicht ab. Sie ist bei den Siedlern. Und so werden wir in Südrussland vielleicht die letzte große Entscheidung zwischen einem ackerbauenden Europa und einem nomadisierenden Asien erleben.

Geologisch ist das Hungergebiet das Reich der großen südwärts fließenden Ströme. An ihren Ufern entlang gehen jetzt die Zugstraßen der Flüchtigen. Der Pontus Euxinus und das Kaspische Meer, die Aufnahmebecken aller dieser russischen Ströme, haben bisher in der Geschichte der Völker noch nie eine große Rolle gespielt. Einmal aber werden auch diese Wege nach Asien beschritten werden.

Russland 024. Das Dorf Kem (Gouvernement Archangelsk)

Russland 024. Das Dorf Kem (Gouvernement Archangelsk)

Russland 024. Fischerhütte am Weißen Meere

Russland 024. Fischerhütte am Weißen Meere

Russland 025. Das Russsische Bad (1)

Russland 025. Das Russsische Bad (1)

Russland 025. Das Russsische Bad (2)

Russland 025. Das Russsische Bad (2)

Russland 025. Haus eines reichen Bauern der nördlichen Waldregion

Russland 025. Haus eines reichen Bauern der nördlichen Waldregion

Russland 026. Altes Hoftor in Saratow

Russland 026. Altes Hoftor in Saratow

Russland 026. Wjatka, Auferstehungskirche, 17. Jahrhundert

Russland 026. Wjatka, Auferstehungskirche, 17. Jahrhundert

Russland 027. Wäscherinnen im Flusse Moskwa

Russland 027. Wäscherinnen im Flusse Moskwa

Russland 027. Wjasma, Der Kaufhof (Gostinny Dwor)

Russland 027. Wjasma, Der Kaufhof (Gostinny Dwor)

Russland 028. Pskow (Pleskau), Blick vom Flusse Welikaja auf dem Kreml

Russland 028. Pskow (Pleskau), Blick vom Flusse Welikaja auf dem Kreml

Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

Russland 029. Pskow, Paromenkirche, Links der Glockenturm (Swoniza)

Russland 029. Pskow, Paromenkirche, Links der Glockenturm (Swoniza)

Russland 030 Pskow (Pleskau), Turm an der alten Stadtmauer

Russland 030 Pskow (Pleskau), Turm an der alten Stadtmauer

Russland 030. Pskow, Blick von der Pskowa auf den Kreml

Russland 030. Pskow, Blick von der Pskowa auf den Kreml

Russland 031. Pskow (Pleskau), Blick auf den Kreml

Russland 031. Pskow (Pleskau), Blick auf den Kreml

Russland 032. Groß-Nowgorod, Die Korssunschen Türen an der Sofienkathedrale 12. Jahrhundert. Werk des Meisters Riquinus von Magdeburg

Russland 032. Groß-Nowgorod, Die Korssunschen Türen an der Sofienkathedrale 12. Jahrhundert. Werk des Meisters Riquinus von Magdeburg

Russland 033. Prozession (1)

Russland 033. Prozession (1)

Russland 033. Prozession (2)

Russland 033. Prozession (2)

Russland 034. Moskau, Basilius-Kathedrale (Erbaut 1554-1557)

Russland 034. Moskau, Basilius-Kathedrale (Erbaut 1554-1557)

Russland 035. Moskau, Basilius-Kathedrale (Erbaut 1554-1557)

Russland 035. Moskau, Basilius-Kathedrale (Erbaut 1554-1557)

Russland 036. Moskau, Das Rumjänzew-Museum (Erbaut 1787, Sammlung von Nationaltrachten und russischer Kunst)

Russland 036. Moskau, Das Rumjänzew-Museum (Erbaut 1787, Sammlung von Nationaltrachten und russischer Kunst)

Russland 037. Moskau, Das große Theater

Russland 037. Moskau, Das große Theater

Russland 037. Moskau, Die Universität (1755)

Russland 037. Moskau, Die Universität (1755)

Russland 038. Russische Großstadtstraße (1)

Russland 038. Russische Großstadtstraße (1)

Russland 038. Russische Großstadtstraße (2)

Russland 038. Russische Großstadtstraße (2)

Russland 039. Moskau, Die Twerskaja

Russland 039. Moskau, Die Twerskaja

Russland 040. Moskau, An der Kremlmauer, Blick auf das Troizkija-Tor

Russland 040. Moskau, An der Kremlmauer, Blick auf das Troizkija-Tor

Russland 040. Moskau, Die Uspenskij-Kathedrale im Kreml (Krönungskirche des Jahren 1475-79)

Russland 040. Moskau, Die Uspenskij-Kathedrale im Kreml (Krönungskirche des Jahren 1475-79)

Russland 041. Moskau, der Kreml

Russland 041. Moskau, der Kreml

Russland 042. Moskau, Die Archangelskij-Kathedrale im Kreml (Grabkirche der Moskauer Zaren, 1505-1505)

Russland 042. Moskau, Die Archangelskij-Kathedrale im Kreml (Grabkirche der Moskauer Zaren, 1505-1505)

Russland 042. Moskau, Die Blagowjeschtschenskij-Kathedrale im Kreml (Tauf- und Trauungskirche der Zaren 1482-89)

Russland 042. Moskau, Die Blagowjeschtschenskij-Kathedrale im Kreml (Tauf- und Trauungskirche der Zaren 1482-89)

Russland 043. Moskau, Das Jungfrauen-Kloster

Russland 043. Moskau, Das Jungfrauen-Kloster

Russland 044. Glockenläuten

Russland 044. Glockenläuten

Russland 044. Kirchenkuppeln (Uspenskij-Kathedrale in Rostow a. S.)

Russland 044. Kirchenkuppeln (Uspenskij-Kathedrale in Rostow a. S.)

Russland 045. Rostow am See, Inneres einer Kirche

Russland 045. Rostow am See, Inneres einer Kirche

Russland 045. Zarenpforte einer russischen Barokkirche

Russland 045. Zarenpforte einer russischen Barokkirche

Russland 046. Kleinrussin

Russland 046. Kleinrussin

Russland 047. Großrusse

Russland 047. Großrusse

Russland 048. Jaroslawl, Johanneskirche, Fenster an der Apsis

Russland 048. Jaroslawl, Johanneskirche, Fenster an der Apsis