Die Verhältnisse des Herrn von Dorsek. - Hedwig Bernolds Verlobung -2-



Der Hauptmann war aufgesprungen und sah den Freund ernst, fast erschrocken an. „Und gestern abend“, sagte er dann langsam, „konntest du wieder jene Hölle besuchen, die dich schon fast zugrunde gerichtet hat? Doch das hast du von jetzt ab mit dir selber abzumachen - weiß aber Hedwig, daß du kein Vermögen hast?“


„Ich habe ihr gesagt, daß ich auf mich und meine Kräfte angewiesen bin.“

„Und wie lange kennt ihr euch jetzt?“

„Morgen werden es zwei Monate, daß ich ihr zufällig wieder hier begegnete. Zwei Jahre sind es jetzt, seit wir uns in Ems zuerst gesehen haben.“

„Armes, junges, vertrauensvolle Ding!“ sagte der Hauptmann wehmütig. „Aber so sind die Weiber; dem Mitleid können sie nicht widerstehen, und wo sie noch dazu glauben, jemanden retten zu können, läuft ihr Herz im Sturm mit dem Verstand davon. - Das aber ändert die Sache. Hast du ihr erst dein Wort gegeben, so bist du gebunden, als ob ihr vor dem Priester gestanden hättet. Übrigens konntest du mir eine lange Predigt und dir eine unangenehme Stunde ersparen, wenn du mir das gleich von vornherein gesagt hättest. Jetzt also, Oswald, gilt es wirklich ein neues Leben für dich zu beginnen, und wo ich dir darin helfen, wo ich dir beistehen kann mit Rat und Tat, soll es an mir nicht fehlen - wenn es an dir nicht fehlt. Hast du dir irgendeinen festen Plan, nach dem du handeln willst, schon entworfen?“

„Nein - wie konnte ich“, sagte Dorsek kleinmütig. „Du hast recht, ich lebe seit meiner Jugend in einer Welt, in der ich doch trotzdem vollkommen fremd bin und das erst merke, sobald ich den Kreis verlassen will, in dem ich mich bis jetzt bewegt habe. Aber ein Kunststück wird es auch nicht sein, sich darin zurechtzufinden, sobald man nur erst einmal den Eingang dazu hat.“

„Und auf welche Weise möchtest du am liebsten den Weg betreten?“

„Mein lieber Rustloh, ich werde nicht gefragt werden“, sagte Dorsek seufzend. „Wenn es irgendwie möglich wäre, möchte ich aber eine Anstellung in einem Eisenbahnbüro bekommen. Schon viele junge Leute aus den ‚besseren Ständen‘ sind dort eingetreten und befinden sich wohl dabei; warum sollte ich mich nicht dort einarbeiten können?“

„Wenn du willst und mußt, ja! Aber du wirst darauf gefaßt sein müssen, selbst in dieser Branche von der Pike auf zu dienen.“

„Meine bisherige Stellung im bürgerlichen Leben wird doch dabei auch vielleicht einen Einfluß haben“, meinte Dorsek, „es muß den Direktoren daran liegen, anständige Leute in ihren Büros zu haben.“

„Gib dich darin keinen Hoffnungen hin“, sagte kopfschüttelnd der Hauptmann. „Anständige Leute, wie du es nennst, finden sie ebensogut in der Bürgerklasse. Dein Baron fällt ohnehin weg, und du bekommst dafür einen Beamtentitel, und gerade an solchen Stellen müssen sie hauptsächlich auf Fähigkeiten sehen. Doch wir werden ja hören, was sich tun läßt. Bei dem hiesigen Eisenbahndirektorium habe ich mehrere Bekannte, die vielleicht nicht ohne Einfluß sind; die Hauptsache aber ist, daß du am Anfang jede Stelle annimmst, die sich dir bietet, damit du nur erst einmal in jenen Kreisen Fuß faßt. Dann hast du gewonnen, und es hängt von deinem eigenen Fleiß, deiner eigenen Ausdauer ab, dich zu einer Stellung hochzuarbeiten, die deinen bisherigen Anforderungen an das Leben mehr entspricht.“

„Du wirst mir keine Stellung anbieten, in der ich mich unglücklich fühlen würde“, sagte Dorsek zögernd.

„Du wirst dich am Anfang in jeder unglücklich fühlen, die dich bindet“, entgegnete der Freund, „darauf magst du dich deshalb auch gefaßt machen. Auf keinen Fall darfst du wählerisch sein. Alles das hättest du außerdem früher bedenken müssen, und nur wenn du dein Mädchen recht von Herzen liebst, magst du das alles überwinden - dann aber auch mit leichter Mühe. Aber ich muß jetzt fort; ich habe heute Dienst“, setzte er hinzu, seine Mütze und Handschuhe ergreifend, „sei übrigens versichert, daß ich in deinem Interesse tätig sein werde.“

Dorsek stand am Fenster, den Arm auf die Brüstung gestützt, und sah gedankenlos auf das rege Treiben unter sich hinab, als seine Aufmerksamkeit auf eine gegenüber vor einem Laden haltende Equipage gelenkt wurde, die mit zwei prachtvollen Apfelschimmeln bespannt war. Ein Kutscher in Livree saß auf dem Bock, und ein gleich galonierter Diener hielt den Schlag auf, in den eben eine sehr elegant gekleidete Dame einsteigen wollte. Da fiel ihr Blick auf Dorsek, und es war fast, als ob sie einen Moment zögere - aber auch nur einen Moment, dann nahm sie ihren Platz ein, der Diener schloß den Schlag und sprang vorn auf den Bock.

„Wer ist die Dame dort unten?“ fragte Dorsek den Hauptmann rasch.

„In der Equipage mit den beiden Apfelschimmeln?“ sagte der Hauptmann erstaunt. „Kennst du die schöne Gräfin Heloise Orlaska nicht?“

„Ich habe sie nie gesehen. Seit wann ist sie hier?“

„Seit etwa zwei Monaten - vielleicht nicht ganz so lange. Ach so, seit der Zeit hast du auch dein Ideal wiedergefunden und dich deshalb nicht um die Außenwelt gekümmert. Kaum ein Jahr verheiratet, fiel ihr Gatte am Kaukasus - man sagt, von Schamyls eigener Hand -, und sie hat Frankfurt in diesem Sommer zu ihrem Aufenthalt gewählt.“

„Eine herrliche Gestalt -“

„Und so reich wie schön - aber adieu; gedulde dich noch ein paar Tage, vielleicht bringe ich dir bis dahin gute Nachricht.“

Dorsek blieb allein zurück, in der Stellung wie ihn der Freund verlassen hatte, und noch immer haftete sein Blick an der Stelle, wo die Equipage seinen Augen entschwunden war.

„Und aus diesen Kreisen scheid’ ich jetzt aus“, murmelte er finster brütend vor sich hin, „freiwillig, um vielleicht nie wieder dahin zurückzukehren. Ein neues Leben soll ich beginnen; ein Leben voll Mühe und Arbeit und Entsagung - Entsagung - das ist das richtige Wort dafür - weshalb auch nicht. Ich habe nun einmal kein Glück auf der Welt, und wie mich das Schicksal zu seinem Spielball ausersehen hat, werd’ ich auch diesem Wurf begegnen müssen. Aber hol der Teufel die Gedanken, sie helfen nichts und töten nur“, und Hut und Stock ergreifend, eilte er hinaus ins Freie.

Er hatte das Zimmer noch nicht lange verlassen, als sein Bursche hereinkam, zum Fenster hinaussah, ob er seinen Herrn noch draußen entdecken könne, und dann vor allen Dingen zum Tisch ging, um sich eine Zigarre anzuzünden. Er bediente sich ohne weiteres aus der dort stehenden Kiste, und rauchend ging er daran, das Zimmer aufzuräumen. Hier interessierten ihn jedoch vor allem die auf dem Boden umhergestreuten Papiere, denn auf dem Schreibtisch lag kein angefangener Brief mehr, und sich den Fußschemel herbeiziehend, damit er sich nicht so sehr zu bücken brauchte, glättete er die Papiere, um zu sehen, was darauf stand.

„Hm!“ brummte er dann vor sich hin. „An ein verehrliches Di-rek-to-ri-um der Thü-ring-schen Eisenbahngesellschaft - In-te-resse an Eisenbahn nehme - Wunsch in mir wach gerufen - Tätigkeit widmen - Feder gewandt - regem Eifer. - Hm, hm, hm, hm, die Sache wird immer bedenklicher. Reitpferd verkauft - der Wein aus dem Keller getrunken und keinen neuen kommen lassen, daß man wegen jeder lumpigen Flasche über die Straße muß - alte Sorte Zigarren für hundertzwanzig Gulden auch nicht mehr - rauchen jetzt für fünfunddreißig - keine einzige fidele Gesellschaft mehr mit nach Hause bringen und keine Trinkgelder. - Hm, hm - hm - hm.“ Dabei warf er das Papier fort und nahm ein anderes auf.

„An ein verehrliches Te-le-gra-phenamt zu Bainz - hm - telegraphische Depesche wahrscheinlich -, sollte ein verehrliches Telegraphenamt geneigt sein, einem gebildeten, jungen Mann Gelegenheit zu geben... Phi!“ pfiff der Bursche leise vor sich hin, „immer schlimmer, immer schlimmer -, nötigen Vorkenntnisse bald erworben - Interesse für die Sache - warmen Eifer...“ Der Bursche blies den Tabaksdampf in dicken Wolken von sich und schüttelte, während er die Papiere jetzt zusammenkramte und in den dafür bestimmten Korb schob, unaufhörlich mit dem Kopf. „Schöne Geschichte das“, brummte er dazu, „ist mir aber doch lieb, daß ich dahintergekommen bin. In ein paar Wochen ist mein Vierteljahr um; werd’ es wohl nicht mit meinen Begriffen von Ehre vereinbaren können, länger in solchen Verhältnissen zu bleiben. Sehr angenehmer Mensch, mein Herr, gutmütig und vertrauensvoll“, setzte er hinzu, während er zur Zigarrenkiste ging und noch drei Zigarren herausnahm, die er in die Tasche schob, „aber power, wie mir scheint, sehr power - Reise geht bergab und ein kleines bißchen zu schnell für die Aussichten, die ein junger Mensch wie ich im Leben hat. Muß mir die Sache noch einmal gehörig überlegen.“

Dabei räumte er noch auf, was aufzuräumen war, und nahm die Zigarrenkiste, um sie in einen Eckschrank zu stellen. Wie er damit vor einem Spiegel vorüberging, blieb er stehen, sah hinein und sagte: „Hör einmal, Louis, wie wär’s, mein Junge, wenn du einen nähmst? - Hast du Appetit?“ Sein Gesicht verzog sich bei der Frage zu einem schmunzelnden Lächeln, und wie er dazu vergnügt mit dem Kopf nickte, fuhr er fort: „Na, wenn du nichts dagegen hast, kann mir’s auch recht sein.“ Und den Schrank öffnend, in den er die Zigarren stellte, nahm er eine der dort befindlichen Karaffen mit einem Likörgläschen heraus, schenkte es voll und trank es mit augenscheinlichem Wohlbehagen aus. „Noch einen, mein Junge?“ sagte er dann, sich wieder dem Spiegel zuwendend, und da die Antwort ebenfalls positiv ausfiel, trank er ein zweites, ging dann zum Waschtisch im Kabinett, um das Glas auszuspülen, und nachdem er es mit seinem Taschentuch abgetrocknet hatte, um an dem Handtuch keinen Likörgeruch zurückzulassen, stellte er die Sachen wieder an ihren Platz, schloß den Schrank und verließ das Zimmer.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unter dem Äquator