Die Verhältnisse des Herrn von Dorsek. - Hedwig Bernolds Verlobung -1-



Oswald von Dorsek saß, die Fenster geöffnet, bei all dem geschäftigen Treiben der regen Stadt, das zu ihm herauftönte, in seiner Wohnung an der Zeit vor seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, die Feder kauend und den Blick fest und finster auf das Papier geheftet. Um ihn her lagen zerknitterte und zusammengeballte Konzepte am Boden, und ein großer Neufundländer Hund dehnte sich zwischen diesen Trümmern einer entweder beendeten oder vielleicht noch nicht einmal begonnenen Korrespondenz.


„Ist dein Herr zu Haus?“ fragte draußen eine bekannte Stimme.

Dorsek sprang auf und öffnete die Tür.

„Komm herein - ich bin allein - übrigens kommst du mir wie gerufen; ich wollte dich schon selber aufsuchen.“

„Desto besser“, sagte der Eintretende, ein Hauptmann der preußischen Besatzung, die in Frankfurt lag, indem er seine Dienstmütze abnahm und sich die Haare aus der Stirn strich, „wie geht’s, Dorsek? Ich habe dich seit einer Ewigkeit nicht gesehen.“

„Acht Tage wenigstens“, sagte der Angeredete, während er die dargebotene Hand schüttelte. „Mach’s dir bequem, ich möchte einiges mit dir besprechen.“

„Ich mit dir auch“, nickte der Offizier, „aber fang nur an. Was sind das für Zigarren?“ Er nahm die auf dem Tisch stehende Kiste in die Höhe und roch daran. „Das ist doch nicht deine alte Sorte?“

„Ich - habe einmal mit einer anderen einen Versuch gemacht“, lautete die Antwort. „Es sollen echte Havanna sein.“

„Sollen? - So!“ sagte der Offizier, indem er seine Handschuhe auf den Tisch warf und dann eine der Zigarren aussuchte, abschnitt und anzündete. Er lehnte sich dabei in die Sofaecke, schlug ein Bein über das andere und rief: „So, nun fang an; was gibt’s?“

Dorsek saß ihm noch schweigend eine Zeitlang gegenüber; es war, als ob er einen Anfang suche und nicht recht beginnen könne. Endlich sagte er. „Du weißt, Rustloh, daß ich - schon seit einiger Zeit eine Beschäftigung suche?“

„Ja“, sagte der Hauptmann, warf die Zigarre zum Fenster hinaus und nahm seine eigene Zigarrentasche heraus.

„Schmecken sie dir nicht?“

„Nein, fahr nur fort - Beschäftigung suche...“

Dorsek war dadurch jedenfalls gestört worden, denn es bedurfte einiger Zeit, ehe er den Faden wiederfand; endlich fuhr er fort: „Die Sache ist aber nicht so leicht, wie ich es mir am Anfang dachte, und verschiedene Schritte, die ich zu dem Zweck getan habe, sind vollständig erfolglos geblieben.“

„Und was hast du versucht, wenn man fragen darf?“ fragte der Hauptmann, der jetzt mit augenscheinlichem Wohlbehagen den Dampf seiner eigenen Zigarre in die Luft blies.

„Verschiedenes“, lautete die etwas gedrückte Antwort. „Als erstes versuchte ich natürlich die aufgegebene Charge wiederzubekommen. Die Antwort - der Wisch liegt da neben dir auf dem Tisch - ist ein wahres Meisterstück von Schmeichelei und Grobheit.“

„Natürlich nichts!“ sagte der Hauptmann, den bezeichneten Brief aufnehmend und flüchtig überfliegend. Im nächsten Augenblick aber warf er ihn schon wieder mit einem verächtlichen Lächeln auf den Tisch zurück. „Hab’ ich es dir nicht vorhergesagt?“

„Ja - ich tat auch nur den Schritt, um mir später keine Vorwürfe machen zu müssen, irgend etwas versäumt zu haben.“

„Weiter!“

„Ich versuchte dann eine Stellung bei einer der Legationen zu bekommen - umsonst.“

„Weiter!“

„Zu gleicher Zeit bewarb ich mich bei mehreren Buchhändlern um Übersetzungen aus dem Französischen.“

„Natürlich nichts!“

„Ich bekam gar keine Antwort.“

„Weiter!“

„Ich bin jetzt entschlossen, mich beim Telegraphen- oder Eisenbahndienst annehmen zu lassen.“

„Unsinn!“ sagte der Hauptmann und strich seine Zigarrenasche ab.

„Unsinn?“ rief Dorsek. „Gerade darin wollte ich deinen Rat hören, vielleicht deine Hilfe beanspruchen, und du fertigst mich, wo ich den festen Willen habe, ehrlich durch die Welt zu kommen, mit dem einen kurzen Wort: Unsinn ab.“

„Bist du mit allem fertig?“

„Ja.“

„Gut, dann höre auch jetzt, was ich dir zu sagen habe, denn ich war in der Zeit, die wir uns nicht gesehen haben, nicht untätig in deinem Interesse“, sagte der Hauptmann. „Du weißt, Dorsek, daß wir uns von Jugend auf kennen - Spielkameraden noch aus der Knabenzeit sind, und die paar Jahre, die ich älter bin als du, hätten eigentlich keinen großen Unterschied zwischen uns machen sollen. Dennoch war ich stets in der Situation dir zu raten, und du - zu tun, was dir trotzdem beliebte. Laß es wenigstens jetzt nicht so sein, wo dein ganzes Lebensglück auf dem Spiel steht.“

„Ich weiß, du warst immer der Ruhigere und Vernünftigere“, sagte Dorsek mit einem wehmütigen Lächeln, „und es wäre wohl oft gut für mich gewesen, wenn ich häufiger deinen Rat befolgt hätte.“

„Wenn du das wirklich einsiehst, ist es vielleicht selbst jetzt noch nicht zu spät“, sagte der Hauptmann, „also laß mich kurz sein. Ich habe unter der Hand genaue Erkundigungen über die Personen eingezogen, mit denen du auf etwas romantische Weise - wenn man die Ursache nicht genau kennt - bekannt geworden bist.“

„Du warst bei Bernolds?“ rief Dorsek rasch.

„Nein“, sagte der Hauptmann ruhig, „ich habe mich wohl gehütet. Es gibt Mittel und Wege genug, alles, was man wissen will, zu erfahren, ohne gerade an die Quelle zu gehen. Ich kann dir ihre Verhältnisse so genau schildern, als ob ich sie seit Jahren kenne, und es ist die Frage, ob du dir diese Mühe schon gegeben hast.“

„Wenn du Hedwig kenntest...“

„Würde das in der Sache selber nicht den geringsten Unterschied machen“, unterbrach ihn der Hauptmann. „Für dich aber ist es unbedingt nötig, daß du genau erfährst, wie die Sachen stehen, wenn dich etwa deine, hier sehr überflüssige, Diskretion abgehalten haben sollte, das Nähere zu erfragen. Der alte Herr Bernold, früher ein sehr reicher Kaufmann in Frankfurt, hat voriges Jahr, allerdings ohne eigenes Verschulden, Bankrott gemacht und sich wohl sehr ehrenhaft aus der Affäre gezogen, sein ganzes Vermögen aber dabei verloren. Selber schon sehr kränklich - denn die Reise nach Ems war ein letzter verzweifelter Schritt des Arztes -, erlag er den Schicksalsschlägen, die auf ihn einstürmten, und starb gleich nachher. Ein kleiner Teil des Vermögens war übrigens zweifelhaft: die Witwe hatte ihm das kleine Haus in Frankfurt zugebracht, und ihr Advokat versuchte, es für sie zu retten. Es entspann sich darüber ein langer Prozeß, der bis auf den heutigen Tag noch nicht entschieden ist.“

„Sie wird es jedenfalls erhalten“, sagte Dorsek.

„Nein“, erwiderte sein ruhiger Freund. „Ich war bei ihrem Advokaten - der zufällig auch der meine ist. Ihre Sache steht schlecht. Es hängt jetzt alles von dem Schwur eines ihrer Gläubiger ab, und der Advokat zweifelt keinen Augenblick mehr, daß der Schwur geleistet wird -“

„Und dann?“

„Hat die Witwe Bernold gar nichts“, sagte der Hauptmann, „als was ihre Tochter mit Händearbeit etwa verdienen kann; wie wenig das aber ist, könntest du wissen, wenn du mit derlei Verhältnissen nur ein klein wenig vertraut wärst. Es ist gerade genug, um ein paar Personen am Leben zu erhalten und nicht dabei zu verhungern. Die arme Frau ist übrigens so krank, daß sie den Herbst kaum erleben dürfte.“

„Dann steht Hedwig ganz allein; desto mehr Ursache für mich, sie nicht schutzlos zu lassen!“ rief Dorsek in edlem Eifer. „Ich will und kann arbeiten.“

„Du willst weder arbeiten noch kannst du es“, sagte mit unzerstörbarem Gleichmut der Hauptmann. „Höre mich ruhig an!“ rief er aber, den Arm gegen Dorsek ausstreckend, als dieser aufbrausen wollte. „Ich kenne dich besser als du dich selbst und bin überzeugt, daß du, wolltest du wirklich mit dem Kopf durch die Wand rennen, dich und das Mädchen unglücklich machen würdest. Du hast nie gearbeitet, Dorsek, so alt du bist, hast dich nie an ein regelmäßiges Leben gewöhnt und gewöhnen können, deshalb auch - der törichte Streich in deinem Leben - den Militärdienst quittiert. Solange derartige Leute Geld haben, und ich könnte dir zahlreiche Beispiele aus meinem Leben aufzählen, brauchen sie keinem Menschen Rechenschaft von sich zu geben - sind von niemandem abhängig als von ihren Leidenschaften und ihrer Langeweile. Sowie sie das nicht haben, sind sie ruiniert.“

„Und wenn ich jetzt ein ruhiges, tätiges Leben begänne...“

„Würde es keine sechs Monate dauern, denn - du spielst.“

„Ich kann es lassen“, sagte Dorsek finster.

„Wenn du es könntest, hättest du es lange getan“, erwiderte jetzt, düsteren Ernst in den Zügen, der Hauptmann. „Damals, als du den größten Teil deines Vermögens auf dem grünen Tisch in Ems geopfert hast und diesen Wahnsinn mit einer Sünde sühnen wolltest, als dich dann jenes Mädchen von einem Selbstmord abhielt, damals hast du einen heiligen Eid geleistet, nie mehr zu spielen.“

„Und den...“

„Halt!“ unterbrach ihn der Hauptmann streng. „Wo warst du gestern abend?“

„Du scheinst dich sehr viel mit mir beschäftigt zu haben“, sagte Dorsek, aber das Blut verließ dabei seine Wangen.

„Ich brauche dir nicht zu versichern, daß ich es zufällig erfahren habe“, erwiderte der Freund, in das Sofa zurücksinkend, „denn ich besuche dergleichen Orte nicht. Du bist auch Herr über deine Handlungen, und nur, weil ich es wirklich gut mit dir meine, Oswald, habe ich - diesen faulen Fleck für dich aufgedeckt. Glaube mir“, fuhr er dann wärmer fort, „du bist für jedes andere Leben als das, in dem du erzogen wurdest, verdorben, und daß das kein anderes ist, als was du führst, hat dein Vater vor Gottes Thron zu verantworten.“

„Du machst vollen Gebrauch von deinem Recht als Freund: grob zu sein“, sagte Dorsek bitter.

„Ich muß es, so weh es mir selber tut“, fuhr Rustloh fort; „denn nur dadurch kann ich glauben, dich auf die richtige Bahn zu führen, daß ich dir dein Spiegelbild vorhalte, nicht wie du es wohl gerne sehen möchtest, sondern wie es wirklich ist.“

„Und was soll ich, was kann ich tun, wenn du mir die Möglichkeit absprichst, durch Arbeit meinen Lebensunterhalt verdienen?“

„Ich würde das nicht tun“, sagte Rustloh, „hättest du nicht noch einen reichen Onkel in Amsterdam, von dem du hoffst, vielleicht einmal etwas zu erben.“

„Er hinterläßt keine Kinder...“

„Er ist zweiundfünfzig Jahre alt und kann jeden Tag noch heiraten“, sagte der Hauptmann kalt; „aber selbst auf ihn baust du. Aus Verzweiflung, mit dem starren Muß hinter sich, sind schon selbst solche durchaus zivilisierte Menschen, wie du einer bist, zur Arbeit gezwungen worden; doch mit dieser Hoffnung wirst du nun und nimmer aushalten.“

„Ich kann mich einschränken.“

„Ja“, sagte der Hauptmann mit einem unwillkürlichen Blick nach der Zigarrenkiste, „für eine Weile, aber wie lange wird es dauern. Du hast jetzt noch ein paar tausend Taler Geld, wenn ich nicht irre - hattest sie wenigstens noch gestern, und ich fürchte fast, du hast nicht gewonnen! Wie aber soll es werden, wenn die verbraucht sind? Bis dahin wirst du keinen ernsten Schritt tun, deinen Lebensunterhalt zu verdienen, und dann ist es zu spät. Jeder Tag reißt dich dann weiter in eine traurige Zukunft hinein. Du hast jetzt noch Schulden gemacht, wo du hättest bezahlen können - du wirst dann Schulden machen müssen, um zu leben, und könntest du dich je mit dem Gedanken befreunden, dich - durch die Händearbeit deiner Frau ernähren zu lassen?“

„Du schilderst meine Lage in den Farben der Hölle!“ rief Dorsek, mit verschlungenen Armen im Zimmer auf und ab gehend. „Trösten solltest du mich, wenn du mein Freund wärst, solltest mir raten und helfen, das alte Leben hinter mich zu werfen, und hast die ganze letzte Stunde weiter nichts getan, als mir auch noch mit scharfen, tödlichen Worten den letzten Trost, die letzte Hoffnung zu rauben, die mir noch geblieben war. Was denn bleibt mir übrig; was soll, was kann ich tun, mir eine Existenz zu gründen - welchen Ausweg hab’ ich noch, außer dem Selbstmord?“

„Viele hättest du“, sagte Rustloh, „wenn dir nicht der unglückliche Gedanke gekommen wäre, zu heiraten, und noch dazu ein armes Mädchen. Solange du Junggeselle warst und bleiben wolltest, hast du nie einen Vorwurf, höchstens einmal eine Warnung von meinen Lippen gehört. Ein einzelner Mann schlägt sich durchs Leben, wenn nicht gut, doch schlecht, aber er kommt durch. Wärest du aber wahnsinnig oder verblendet genug, das Schicksal dieses armen Wesens an deins zu ketten, dann müßtest du rettungslos untergehen - und sie mit dir.“

„Ich bin kein schlechter Mensch“, sagte Dorsek bewegt.

„Nein, Oswald, das bist du nicht“, erwiderte Rustloh, „aber leichtsinnig - leichtsinnig bis zu einem Grad, der - dich den größten Gefahren aussetzen könnte, es zu werden.“

„So laß mich heiraten; dann muß ich dem rastlosen Leben entsagen.“

„Gut, heirate“, sagte der Hauptmann, „aber nicht Hedwig, nicht ein Mädchen, das deine Sorgen nur vermehren, nie vermindern würde. Heirate eine reiche Frau; du bist noch jung, von stattlichem Äußeren, ein Lebemann, angenehm in Gesellschaft, gutmütig, selbst herzlich daheim - es gibt Hunderte von sogenannten guten Partien, denen du mit allen diesen Eigenschaften ein höchst willkommener Freier wärst.“

„Und das rätst du mir, nachdem du mir eben erst vorgehalten hast, ich solle mich nicht von einer Frau ernähren lassen?“

„Lieber Freund“, sagte der Hauptmann ruhig, „in der Welt nennen wir das nicht mit dem Namen, und einer solchen Frau, die in der Welt lebt und leben will und muß, bringst du auch dafür wieder schätzenswerte und ihr unumgänglich nötige Eigenschaften entgegen - einem armen Mädchen nichts. Bedenke dabei, daß du bis jetzt noch keine Fesseln kennst, daß du nie einen anderen Willen gekannt hast als deinen. Deshalb mache die Probe, ob du ihn wirklich beugen kannst, erst einmal allein, ehe du bei dem Versuch vielleicht das Wesen mit ruinierst, das dir das Liebste sein sollte auf der Welt. Was dann, wenn Hedwig je bereuen sollte, dich gerettet zu haben?“

„Rustloh!“

„Sei vernünftig, Oswald“, fuhr aber der Hauptmann fort. „jetzt ist es noch Zeit - noch bist du nicht gebunden und...“

„Es ist zu spät“, unterbrach ihn Dorsek mit fester, entschlossener Stimme. „Ihre Mutter ist kränker geworden, und um die arme Frau über das Schicksal ihrer Tochter zu beruhigen, haben wir vorgestern Abend unsere Verlobung gefeiert.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unter dem Äquator