Kapitel 8 - Banksland - Ostwärts. – Vor der Mackenziemündung. – In des Walfischgründen. – Banksland. – Eine wilde Küste. – Walfisch in Sicht. – Ein gefährlicher Posten. – Wir geraten in eine »Schule von Walfischen«. – Rückkehr nach der Herschelinsel. – Winteranfang.

Mit rascher Fahrt fuhren wir entlang der hohen Küste mit den steilen, vorspringenden Kaps von Kay Point, King Point und Shingle Point. Keiner dieser Punkte sagte mir damals etwas, aber im Laufe der nächsten drei Jahre hat sich in meiner Erinnerung um jeden von ihnen ein Schleier von Erlebnissen und Abenteuern gewebt.

Bald trat die hohe Küste zurück, und das etwa sechzig Meilen breite Flachland im Delta des großen Mackenzieflusses trat an ihre Stelle. Wegen der vielen Barren von abgeschwemmtem Schlamm und Sand mußten wir ein gutes Stück von der Küste abhalten.


Seit Verlassen der Herschelinsel hatten wir fast kein Eis gesehen, aber nun schien das Eismeer das Versäumte nachholen zu wollen. Von allen Seiten kam es herbei. Bald waren es breite Felder von blauem Packeis, die wir in weitem Bogen umschiffen mußten, bald mußte das Schiff mühsam seinen Weg bahnen durch eine zersplitterte Masse von losen Eisstücken, die die weite Meeresfläche aussehen ließen wie den Fußboden eines Porzellanladens, in dem die Elefanten gehaust haben. Es dauerte zehn Tage, ehe endlich Kap Bathurst mit der vorgelagerten Bailly-Insel in Sicht kam.

Von einigen Eskimos, die dort hinter einer Sandbank dem Fischfang oblagen, erfuhren wir, daß nördlich von Kap Parry das Meer zurzeit völlig eisfrei sei. Das war eine willkommene Nachricht. Sogleich gingen wir wieder in See und brachen unsern Weg durch die dicken Eismassen im Osten der Insel, bis wir auf der Höhe von Kap Parry offenes Wasser antrafen.

Nun wurde endlich der Maschine die wohlverdiente Ruhe. Jedes Stückchen Leinwand wurde gesetzt; weit legte das Schiff sich über, als der steife Nordost in die Segel fuhr. Nordwärts ging die Reise von der Küste des Festlands weg, gerade nach den fernen Felsenufern von Banksland.

Aus dem Krähennest wurde jetzt scharf Ausguck gehalten, denn wir befanden uns hier schon mitten in den Walfischgründen, und der Kapitän hatte die verlockende Prämie von zwanzig Pfund Tabak ausgesetzt für den, der den ersten Walfisch sichten würde. Überall auf dem Wasser sah man das Walfischfutter schwimmen, lauter winzig kleine Quallen mit einem aus dem Wasser herausstehenden Häutchen, vermittels dessen sie wie ein Schiff vor dem Winde segeln. »Portugiesische Kriegsschiffe« nennt sie der Seemann. Oft waren sie durch die gleichmäßige Bewegung der Dünung zusammengeschwemmt. und lagen in langen Reihen auf der Meeresfläche, so wie man in den Roßbreiten des Atlantik das Seegras auf dem Meere liegen sieht. Es ist eine merkwürdige Laune der Natur, daß gerade das größte Geschöpf des Tierreichs auf das kleinste aller Lebewesen angewiesen ist.

Es war eine kalte, windige Spätsommernacht, als wir in den Gewässern von Banksland ankamen. Der Monat August neigte sich bereits seinem Ende zu. Die Uhr der Mitternachtsonne war abgelaufen, und wir genossen schon einige Stunden der Dunkelheit. Genießen sagte ich! Wer an eine regelmäßige Folge von Licht und Dunkelheit gewöhnt ist, empfindet es auf die Dauer als eine Plage, zu jeder Tag- und Nachtzeit das Licht des hellen Tages um sich zu haben.

Vor uns lag die Küste von Banksland. Scharf hob sie sich ab von dem blutigroten Streifen am nördlichen Horizont. Überaus imposant war sie anzusehen, eine schwarze, unförmige Masse, gleich einer gewaltigen Tatze, mit der sich die unbekannte Wildnis selber am Rande der Menschenwohnungen eingegraben hat. Ich weiß nicht, ob es nur der Nimbus des Fernen und Unbekannten gewesen ist, der die Phantasie anregte, aber noch jedesmal, wenn ich jenes Land von neuem zu Gesicht bekommen habe, hat es den gleichen, gewaltigen Eindruck auf mich gemacht. Wenn man diese Küste von Kap Parry aus ansegelt, so bekommt man zuerst das Vorgebirge von Nelsonhead zu Gesicht. Es erhebt sich zu einer Höhe von mehreren hundert Metern, und vom Meere aus betrachtet, scheint es senkrecht in die Höhe zu steigen; eine ungeheure Felsenmasse, finster drohend, als ob es Thor der Gewaltige selber wäre, der mit dem großen Hammer vor Ginun Gapag, dem Ende der Welt, auf Wache steht.

Vom Meere aus machen diese wilden, sturmgepeitschten Küsten selbst beim schönsten Sonnenschein einen überaus unwirtlichen Eindruck. Eben diesem rauhen Charakter des Landes ist es auch zuzuschreiben, daß die Walfischfänger dort nicht überwintern, obwohl sie sich direkt in den Walfischgründen befinden und die lange und gefahrvolle Reise von der Herschelinsel bis dahin nicht erst zu unternehmen brauchten. Das Innere der Insel ist auch heute noch unerforscht. Es soll dort durchaus nicht so trostlos sein, wie man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt wäre.

»Junge,« sagte mein alter Lehrmeister Nick, indem er gedankenvoll nach den kahlen Küsten hinüberblickte, »das kann einer allein gar nicht wissen, was es dort drinnen im Land alles zu sehen gibt, denn es ist noch keiner von uns dort gewesen. Aber dort gibt's grüne Täler mit Büschen und hohem Gras und vielen Beeren. Und so viel Wild, daß man kaum noch zwischen durchsehen kann. Bären, Hirsche, Renntiere und Elefanten – ja, brauchst mich gar nicht so anzusehen – Elefanten! Von den großen häßlichen Mammut-Elefanten, von denen die gelehrten Leute in den Büchern schreiben, daß sie längst alle ausgestorben wären. Woher wollen die wissen, daß sie wirklich alle tot sind? Nein, sagst du, die wissen auch noch lange nicht alles. Aber Avoyuuk, der Massinka von der Herschelinsel, ist einmal dort gewesen und hat sie gesehen.«

»Warum gehen wir denn nicht dorthin?« fragte ich.

»Was?« meinte Nick mitleidig, »dort an Land zu gehen, würde uns nur Unglück bringen für den Rest der Reise. Und außerdem – was willst du dort? Elefanten essen, die zweimal so alt sind wie der alte Schneeball und das Fleisch so hart und zähe, daß man den Teufel damit vergiften könnte? Hände weg! Walfische wollen wir sehen, damit wir einen Zahltag haben, wenn wir wieder nach Chinatown und nach der Barbarenküste kommen.«

»Sollte mich nicht wundern, wenn wir heute noch Speck an Bord bekämen,« fuhr er fort, indem er seine scharfen Augen über die Wasserfläche gleiten ließ, »es riecht fischig hier.«

»Bei dem Wetter?« fragte ich ungläubig, denn eine Sturzsee um die andere brach polternd über die Luvreel, und der Wind heulte gewaltig in der Takelage.

»Warum nicht! Nichts daran auszusetzen. Eine hübsche Brise, wie wir sie gerade gebrauchen. Außerdem –«

Er hat noch nicht ausgeredet, als sich der Eskimo, der vorne auf der Back auf Ausguck stand, bemerkbar machte: »Awik! awik!« schrie er wie besessen.

»Was ist los mit dem Kerl?« ließ sich Mr. Johnsons Stimme vom Achterdeck vernehmen.

»Blo-o-ow! ah blo-o-o-ow!« kam es aus dem Krähennest.

Im Nu waren alle Mann an Deck. Die Bootsteurer kletterten in die Boote und entfernten die Schutzdecken, während wir die Tauenden an den Bootsfallen klar warfen. Ich war gespannt, wie man bei der hohen See die Boote vom Schiff klar bekommen konnte, ohne daß sie an der Bordwand zerschellten. Aber unsere Befehlshaber waren nicht umsonst ihr Leben lang Walfischfänger gewesen. Sie wußten, wie man die Sache anzugreifen hatte. Da das Schiff sehr stark nach Backbord überlag, wurden zuerst die drei Boote an dieser Seite heruntergefiert. Alsdann wurde über Stag gegangen und mit der Schlagseite an Steuerbord die beiden andern zu Wasser gelassen. Man mußte das flinke Auge der Steuerleute bewundern, wie sie mit dem langen Steuerriemen jeden drohenden Zusammenstoß mit der Bordwand des Schiffes zu parieren verstanden. Ein einziger solcher Zusammenprall wäre das Ende des kleinen Fahrzeuges und wohl auch seiner Mannschaft gewesen.

Noch gefährlicher als vom Verdeck sah die Sache von der Perspektive des Bootes selber aus. Bald wurde man emporgehoben auf dem Kamm einer mächtigen See, und es sah aus, als ob man riesig hoch über dem schwarzen Rumpf des Schiffes schwebte, bald ging es wieder tief hinunter in den Schlund eines Wellentals, und ringsum war nichts zu sehen als die grünen Wände der Wasserberge. Es dauerte eine Weile, ehe es uns gelang, den Mast aufzurichten und das doppelt gereffte Sturmsegel zu setzen. Dann erst kamen wir klar von der gefährlichen Nähe des Schiffes. Mit Blitzesschnelle schossen wir nun durch die schäumenden Fluten. Wie Flintengeknatter vernahm man das Poltern unter dem Kiel, wenn er von einem Wellenkamm zum andern hüpfte. Scharf wie Messer flogen die Spritzer der salzigen Gischt. Trotz Ölzeug und Pelzkleidern waren wir alle bis auf die Haut durchnäßt und durchfroren und hockten mit klappernden Zähnen auf der Luvreel mit der Miene von Menschen, denen es ganz einerlei ist, was nun noch kommen mag. Nur der Steuermann saß unbeweglich an seinem Platz am Tiller, und seine grauen Augen blickten finster und kalt wie immer über das Meer. »Wer mir den Fisch verscheucht, den mache ich kalt!« sagte er grimmig, ohne seinen Kopf zu wenden. Vorn im Bug, gegen den Mast gelehnt, stand der lange Sam und verwandte ebenfalls keinen Blick seiner Raubtieraugen von der vor ihm liegenden Wasserfläche. Zuweilen gab er dem Steuermann mit unterdrückter Stimme die Richtung an – »blo-o-ow, ah blo-o-ow«. Von unserem niedrigen Sitzplatz war jedoch nichts von einem Spaut zu erkennen. Aber plötzlich wurden in dem grünen Wasser dicht neben uns die schattenhaften Umrisse einer gewaltigen Fluke sichtbar, und fast zu gleicher Zeit griff der lange Sam nach den beiden vor ihm liegenden Eisen und schleuderte sie in die Tiefe.

Das alles war so schnell gegangen, daß man sich des Hergangs kaum bewußt wurde. Mit stockendem Atem erwartete ich den wütenden Peitschenhieb der Fluke, den ich bei unserer ersten Walfischjagd so drastisch kennen und fürchten gelernt hatte. Aber es kam nichts dergleichen. Daß der Walfisch »fest« war, bemerkte man erst an der Leine, die anfangs nur ganz langsam um den Poller lief, so daß wir reichlich Zeit hatten, die Riemen einzuschalten und Mast und Segel herauszunehmen und im Achterteil zu verstauen – Arbeiten, die bei der hohen See nicht leicht und nicht ungefährlich waren. Inzwischen begann die Leine ein summendes Lied zu singen, während sie schneller und schneller um den Poller lief.

»Keep her up, Sam!« (»Leine geben!«) rief der Steuermann, der nun mit Sam den Platz gewechselt hatte.

»All right!« sagte dieser und warf den einen der beiden halben Schläger über dem Poller los. Aber noch immer tiefer senkte sich die Spitze des Bootes.

»Keep her up, d–n it!« brüllte der Steuermann noch einmal.

»Unmöglich! Kann nicht mehr Leine geben, als er nimmt.« Und schon begann das Wasser im Vorderteil des Bootes von allen Seiten hereinzubrechen. Wir flüchteten in das hoch aufragende Achterteil und bemühten uns nach Kräften, das Wasser wieder auszuschöpfen, aber ebenso gut hätte man versuchen können, das Eismeer auszuschöpfen. Die Sache begann bedenklich auszusehen. Immer fester bohrte sich die tiefliegende Spitze in die Wellenberge; immer schneller ging die Fahrt, gerade in die Zähne des rauhen, schneidenden Windes.

Doch ganz plötzlich ließ der Druck auf der Leine wieder nach, und die Spitze des Bootes richtete sich mit einem Ruck auf.

»Haul line! Haul line! Holt an der Leine, ihr Ölgötzen!« brüllte der Steuermann.

Und wir holten an der Leine, Hand über Hand, bis uns der Schweiß von der Stirne rann. Faden um Faden kam an Bord, aber mit jedem Faden wurde das Gesicht des Steuermanns länger, und als dann gar die Harpune minus Walfisch heraufkam, da kannte seine Wut keine Grenzen mehr. Ihm, der sonst nie ein Wort zuviel redete, flossen nun auf einmal die Worte, vom Munde, während er sich der Verlästerung aller Heiligen im Kalender schuldig machte. Herausfordernd sah er uns alle der Reihe nach an: »Ich hab's schon immer gesagt, ich habe kein Glück auf dieser Reise! Irgendein Jonas sitzt hier in diesem Boot!«

Noch hatten wir uns nicht von unserer Verblüffung erholt, als Mr. Johnsons Boot in nächster Nähe auftauchte. Es war offenbar ebenfalls »fest«, denn Segel und Mast waren verstaut, und mit hart auf dem Wasser liegender Spitze pflügte es mit großer Schnelligkeit durch die Wellen.

Als wir beinahe längsseit waren, wurde uns das Ende einer Leine zugeworfen, das Sam an das Ende unserer eigenen Leine anspleißte. Schmunzelnd vor Befriedigung in seiner Würde als Retter in der Not hatte Mr. Lee die Leine des anderen Bootes übernommen, aber wie auch die unsere zusehends abnahm und die Schnelligkeit in der Fahrt noch immer nicht geringer werden wollte, da war es mit dem Schmunzeln bald zu Ende. Verzweifelt signalisierte er nach einem der anderen Boote, damit dieses ihm mit seiner Leine zu Hilfe käme. Aber sie waren alle zu weit entfernt, um noch rechtzeitig anzukommen.

Das Anspleißen der Leine von einem Boot zum anderen ist ein beim Walfischfang häufig angewandtes Verfahren. Oftmals laufen die Leinen von zwei oder drei Booten aus, ehe der Walfisch wieder zur Oberfläche kommt. Wenn man den Erzählungen alter Walfischfänger glauben darf, so ist es schon vorgekommen, daß Walfische mit allen fünf Bootsleinen das Weite gesucht haben. Aber ich müßte dies doch erst gesehen haben, ehe ich es glaube. Wenn man bedenkt, daß es sich hier um etwa vier Kilometer nasser Leine handelt, so schmecken diese Angaben sehr nach Jägerlatein. Zuweilen kommt es vor, daß die Leine eines Bootes ausläuft, ehe ein anderes zur Stelle ist. Da bleibt denn nichts anderes übrig, als einen mit Luft aufgeblasenen Ballon aus Seehundfell als Boje an das überbordgehende Ende zu befestigen und es dem Zufall zu überlassen, ob man sie wieder findet.

Schon war Sam dabei, die Vorbereitungen für diese letztere Möglichkeit zu treffen, als der Walfisch etwa eine Viertelmeile voraus »Wasser brach«, wie der Fachausdruck lautet. Er schien noch unverletzt, denn er spautete hell und klar, und die temperamentvolle Art und Weise, mit der er mit der großen Fluke um sich schlug, ließ auch nicht auf eine Abnahme der Lebensgeister schließen. Glücklicherweise befand sich in nächster Nähe noch ein anderes Boot, von dem er mit besserem Erfolge angegriffen wurde, denn er zeigte bald die »rote Flagge«. Fast zu gleicher Zeit ging das Ende unserer Leine über Bord. Als wir auf dem Kampfplatz anlangten, war der Walfisch schon in den glücklichen Jagdgründen angelangt, und die See ringsum war rot von Blut.

In der Hitze des Gefechts waren wir mehrere Meilen weit von dem Schiff abgetrieben worden, das jetzt nur noch als ein kleiner schwarzer Fleck am Horizont zu sehen war. Und nun hieß es warten – lange und geduldig warten – bis es sich, gegen Wind und See ankämpfend, zu uns herangearbeitet hatte. Länger als eine Stunde tanzten und schaukelten die fünf Boote um den regungslosen Körper der toten Bestie. Jetzt, nachdem die Erregung der Jagd vorüber war, begann sich der eisige Wind doppelt unangenehm bemerkbar zu machen.

Endlich – ich hätte nie gedacht, daß ich den »Bowhead« einmal so gerne sehen würde – konnten wir die Leinen an Bord bringen und die Boote aufheißen. In der schon früher beschriebenen Weise wurde die Beute alsdann mit Ketten und Fallen längsseit festgemacht.

Aber diese Arbeit war diesmal nicht so einfach wie damals in der Beringstraße. Es ist etwas Unheimliches, bei einer derartig hochgehenden See einen Walfisch längsseit zu haben. Bei jedem Überholen des Schiffes reißt und zerrt er an den schweren Ketten und Tauen, als ob er sie mitsamt den Decksplanken herausreißen wollte.

Des ungünstigen Wetters wegen nahmen wir diesmal nur den Kopf, und den Rest überließen wir den Seemöven. Schon während der ganzen Arbeit hatten diese beutegierigen Gesellen schreiend und kreischend in immer größeren Scharen das Schiff umkreist, und nun, wo die losgetrennte Masse des Körpers achteraus getrieben kam, da fielen sie wie eine weiße Wolke darüber her und rissen und zerrten gierig an dem großen Fleischhaufen und rauften miteinander um die einzelnen Stücke, als ob es nicht übergenug der Mahlzeit für alle wäre. Und wenn eine mit einem besonders großen Stück im Schnabel davonflog, da kannten sich die anderen nicht mehr vor Neid. Sie ließen ihre Mahlzeit im Stich und verfolgten die Glückliche. Und wenn dann zuguterletzt der große Fetzen ins Wasser fiel, da kreischten alle laut und häßlich, weil sie sich darüber ärgerten, daß nun keiner etwas hatte.

Genau so tun es die Menschen auch.

Während der Nacht waren wir beim Scheine der wildflackernden Pechfackeln mit der Zerlegung des Kopfes beschäftigt, und erst als der Morgen dämmerte, war das Verdeck wieder so weit klar, daß die Wache an Deck den Rest der Arbeit allein bewältigen konnte. Die Steuerbordwache aber war frei, und ich freute mich schon auf den wohlverdienten Schlaf. Aber kaum hatte ich meine müden Glieder in der Koje ausgestreckt, als draußen schon wieder der alte Schlachtruf ertönte: »Ah blo-o-ow!«

Er kam sehr zu ungelegener Zeit, und ich versuchte mir einzureden, daß es nur eine Suggestion von mir gewesen sei, aber schon erschien Mr. Johnson auf der Bildfläche, und der war keine Suggestion.

»Was gibt's da unten?« polterte er. »Marsch in die Boote, ehe ich euch Beine mache!«

Es war ein überwältigender Anblick, der droben an Deck unser wartete. Gerade ging die Sonne auf, und in der langen, glitzernden Straße, die ihr heller Schein durch die blaue Wasserfläche zog, war es lebendig von vielen dünnen, kurz aufschießenden Spauts der Walfische. Das war ein Anblick, der selbst bei einem ganz neugebackenen Walfischfänger die Jagdlust im Augenblick über die Müdigkeit triumphieren ließ. Noch nie zuvor waren die fünf Boote so schnell zu Wasser gekommen.

Da die »Schule« ein gutes Stück Wegs im Luv des Schiffes gesichtet worden war, mußten wir lange gegen den Wind aufkreuzen, aber die Walfische schienen glücklicherweise keine Gefahr zu wittern. In großen Kreisen bewegten sie sich immer um dasselbe Gebiet, dünn und niedrig spautend, ein untrügliches Zeichen dafür, daß sie sich durchaus nicht beunruhigt fühlten. Wir machten uns sogleich an eine mächtige Kuh heran, die still und regungslos, wie ein Felsen, im Wasser lag. Mit gewohnter Meisterschaft rannte Sam seine beiden Eisen in die schwarze Masse, während wir über das Schwanzende des breiten Rückens hinüberglitten. Ein boshafter Schlag mit der Fluke, dem wir nur um Haaresbreite entgingen, quittierte für die empfangene Lektion, und dann ging es hinter der laufenden Leine her in gewohnter Geschwindigkeit. Und doch verlief die Jagd wieder ganz anders wie die beiden vorhergehenden. Kaum hatten wir den Mast aus dem Wege geschafft und die Riemen zur Hand genommen, als der Druck auf der Leine nachließ. Mit verblüfften Gesichtern schauten wir einander an, denn wir glaubten nicht anders, als daß auch diesmal wieder das Eisen herausgerissen wäre. Doch der gewaltige Fluch erstarb auf den Lippen des Steuermanns, als unser Walfisch kaum fünfzig Faden voraus zur Oberfläche kam. Allem Anschein nach war er bereits tödlich getroffen, denn er zeigte schon die rote Flagge. Mächtige Blutströme entfuhren röchelnd dem Spautloch.

Wir alle arbeiteten wie die Sklaven, um aus dem Bereich des Ungeheuers herauszukommen. Und wahrlich, es war uns geraten, so schnell wie möglich den Rückzug anzutreten. Kein Gebild von Menschenhand hätte den wütenden Schwanzschlägen und den grotesken Luftsprüngen standgehalten, die das todwunde Tier aufführte, während es in immer engeren Kreisen um dieselbe Stelle raste. Plötzlich, mit einem letzten Aufflackern des verschwindenden Lebens, schoß es beinahe in seiner ganzen Länge aus dem Wasser und stürzte sich dann kopfüber in die Tiefe. – Bald darauf kam der tote Körper wieder zur Oberfläche – ein willenloses Spiel der Wellen, die leise murmelnd darüber hinwegliefen.

Die ganze Jagd hatte kaum mehr als eine Viertelstunde in Anspruch genommen. Als Mr. Johnson mit dem langen Spaten die Fluke durchstechen wollte, um die Leine daran festzumachen, da schlug sie ihm mit einer letzten Zuckung den Spaten aus der Hand und sandte ihn sausend wie einen Pfeil über zwei Boote, hart an dem Kopf eines Portugiesen vorbei, bis er zitternd in einer der Ruderbänke des dritten Bootes stecken blieb. Mag man mich einen Hasenfuß schelten, aber ich gestehe, daß mir der Schrecken in alle Glieder gefahren ist und daß ich immer noch ein merkwürdiges Zittern in den Beinen verspürte, als ich längst schon wieder an Deck angelangt war.

Der Walfisch war übrigens ein kapitaler Fang; bei weitem der größte, den wir auf der ganzen Reise erbeutet haben. Reichlich 2500 Pfund Fischbein.

Der Kapitän rieb sich schmunzelnd die Hände, und Mr. Johnson zeigte beinahe ein freundliches Gesicht. Aber unser Glück hatte sich damit auch für eine Weile erschöpft. – Nur zuweilen kam eines der anderen Schiffe in Sicht. Das war dann jedesmal ein großes Ereignis. Wenn das fremde Schiff nahe genug war, stellte sich der Kapitän mit dem Sprachrohr auf das Dach des Ruderhauses, und alles lauschte in atemloser Spannung.

»Wie viele Walfische habt ihr?« schallte seine gewaltige Stimme über das Wasser.

»Wir haben fünf – sechs – zehn!« kam es von drüben wie ein helles, dünnes Echo, »und wie viel habt ihr?«

Peinliche Frage!

»Nichts, absolut nichts! Keinen Spaut gesehen seit unserer letzten Begegnung. Verfluchtes Glück habt ihr – beim heiligen Jonas!«

Und dann fluchte er grimmig vor sich hin und murmelte etwas von Leuten, die mehr Glück haben als Verstand.

Die Saison ging nun mit Riesenschritten ihrem Ende entgegen. Die Nächte wurden lang und kalt, und die Nordlichter flackerten am Himmel. Bei stillem Wetter begann sich eine dünne Haut von jungem Eis zu bilden, die uns daran erinnerte, daß es Zeit war, nach unserer Winterheimat zurückzukehren, wenn wir nicht vorher vom Winter überrascht werden wollten. Wir freuten uns auf diese Stunde, denn das Wetter war denkbar schlecht.

Glücklicherweise hatten wir durch die längeren Nächte wenigstens ein paar Stunden Ruhe, denn so lange das Tageslicht am Himmel stand, war man keinen Augenblick sicher vor dem schrecklichen »blo-o-ow«. Dann hieß es bei jedem Wetter: »Steht bei den Booten!« Zuweilen rief uns die Flagge am Heck schon nach einer halben Stunde wieder zurück. Oftmals aber dauerte es zehn und mehr Stunden, ehe wir müde und hungrig und halbtot vor Kälte wieder an Bord kamen.

Glücklich der, dem es gelang, unter vierundzwanzig Stunden deren vier eines wohlverdienten Schlafes zu erhaschen – und dann war es nur ein gelegentliches Hindämmern in Ölzeug und voller Bekleidung. Manchmal aber kamen Stunden, wo die Müdigkeit trotz allem triumphierte, wo sich der Schlaf mit demokratischer Unparteilichkeit wie ein Bleigewicht auf alle legte, vom Kapitän bis zum letzten Schiffsjungen. Dann waren für uns weder Walfische noch sonst etwas vorhanden. Das Schiff wurde beigedreht, das Ruder festgelascht, und alle Mann erfreuten sich an einem gesunden Schlaf, während der »Bowhead« führerlos weitertrieb wie ein richtiger fliegender Holländer.

Von den anderen Schiffen sahen wir nichts mehr; sie hatten alle schon die Heimreise angetreten und uns allein in dem weiten Eismeer zurückgelassen. Ganz spät, als wir ihn schon über alle Berge glaubten, kam noch einmal der »Alexander«, der unserer Schiffsgesellschaft gehörte, in Sicht. In einer offenen Bai vor der Küste von Prinz-Albert-Land ging er vor Anker, und wir brachten mit den Booten unser Fischbein dort an Bord. Bei der hohen Dünung entlang der Küste war es kein leichtes Geschäft, und der Kapitän verfolgte jedes einzelne der Boote mit Argusaugen, weil er ein Kentern befürchtete. Aber es war nur das wertvolle Fischbein, das seine Seele zittern machte.

Kaum war die kostbare Fracht an Bord, da setzte das andere Schiff alle Segel, braßte die Rahen vor dem steifen Nordost, und in schneller Fahrt entschwand es unseren Blicken. Heimwärts. Nach San Franzisko!

Immer wieder mußte ich dem entschwindenden Fahrzeug nachsehen, bis die hellen Segel nur noch als ein kleines, weißes Wölkchen auf der endlosen Wasserfläche zu bemerken waren.

Wenige Tage später kamen wir wieder vor der Herschelinsel an. Wir fühlten uns wohl und geborgen, als wir in der kleinen, aber sicheren Bai angelangt waren und die schwere Ankerkette rasselnd durch die Klüsen schoß. Es war mir wie aus dem Herzen gesprochen, als ich jemand neben mir sagen hörte: »It is like coming home!« Es ist, als ob man nach Hause käme! Mit diesem Augenblick – das fühlte ich unwillkürlich – hatte ein neuer Abschnitt in unserem Leben begonnen! Nach Berichten von Nordpolexpeditionen, die mir noch aus den heißverschlungenen Erzählungen vergangener Schulbubenzeiten vorschwebten, stellte ich mir solche arktische Winternacht als ein einziges süßes Nichtstun vor, obwohl die Gestalt Mr. Johnsons nicht recht in dieses Idyll hineinzupassen schien. Was sollte es denn zu tun geben, wenn das Schiff fest lag und es ohnehin zu dunkel war, um eine namhafte Arbeit zu verrichten? Der alte Schneeball hatte mich zwar schon etwas aufgeklärt in dieser Hinsicht: »Was es im Winter zu tun gibt?« hatte er spöttisch gefragt, »das laß du ruhig Mr. Johnsons Sorge sein! Der wird schon etwas für euch finden, damit ihr keine Langeweile bekommt!«

Und es sah fast so aus, als ob er recht behielte. Wieder wurden Kisten und Ballen umhergeschleppt, und Mr. Johnson stand dabei und trieb zur Eile an, als ob wir nicht zehn Monate Zeit für diese Dinge hätten. Dann wurde die Fangausrüstung aus den Booten herausgenommen, diese mit Sägen und Äxten versehen, und von neuem dampften wir ins Meer hinaus.

Vor der flachen Küste des Festlandes, gegenüber der Insel, gingen wir vor Anker und machten die Boote klar, um eine Ladung des umherliegenden Treibholzes zu übernehmen. Zwei Tage lang arbeiteten wir unaufhörlich, während lange Züge von Wildenten mit höhnischem Geschnatter über uns weg nach Süden zogen. Ach, wer doch mit ihnen fliegen könnte! Nachdem jedes verfügbare Plätzchen mit Holz ausgefüllt war, traten wir wieder die Heimreise an, während welcher wir öfters beinahe festgehalten wurden in dem jungen Eis, das auf dem Wasser lag.

Als wir wieder in der Bai angelangt waren, wurden die Holzvorräte am Strand aufgeschichtet, und dann ging es ans Begraben der Boote. Das ist der letzte Akt der Saison und der offizielle Beginn des Winters. Sobald das Eis in der Bai genügend Tragkraft hatte, wurden alle fünf Boote an Land geschafft und dort am Strand kieloben nebeneinander aufgestellt und mit Sand zugedeckt.

Ja, nun war kein Zweifel mehr möglich – ein langer, harter Winter stand uns bevor. Vorbei waren die Träume und Hoffnungen auf baldige Rückkehr. Vergraben, wie die Boote im Sande.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unter Eskimos und Walfischfängern