Kapitel 6 - Ein Fluchtversuch - Ankunft in Nome. – Die arktische Goldgräberstadt.– Ein verwegener Streich. – Schwimm oder stirb! – Verzweifelte Lage. – Die unheimliche Ankerkette. – Rettung im letzten Augenblick. – Ein ungemütlicher Aufenthaltsort. – Mr. Johnson als Sittenrichter. – Johnny Cook verliert die Geduld. – Frei, aber nicht gebessert.

Und eines Tages, es war gerade der 4. Juli – der Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung –, waren wir dort angelangt. Vor uns breitete sich auf einem flachen Ufer die Goldgräberstadt Nome aus. Weithin erstreckte sie sich entlang der flachen, sandigen Küste; ein buntes Durcheinander von weißen Zelten, grell angestrichenen Blechhütten und roh gezimmerten Blockhäusern, die aussahen, als ob sie eben erst von einem großen Wind hierhergeweht worden wären und nun verwundert einander anstarrten. Und Grund genug hatten sie zur Verwunderung, denn so schnell wie hier ist wohl noch nie eine Stadt aus dem Erdboden hervorgeschossen. Zur Zeit unserer Anwesenheit – es war im Sommer 1903 – war die Stadt kaum 1 ½ Jahre alt. Noch vor zwei Jahren war dort eine öde, weltverlassene Küste. Der Zufall hatte dann einen sachkundigen Prospektor in die Gegend geführt, und bald darauf hatte die Kunde von dem fabelhaften Goldreichtum dieser arktischen Sandküste die Reise um die Welt gemacht. Und nun war diese idyllische Einsamkeit urplötzlich zum Tummelplatz von zehntausend Dollarjägern geworden.

»The glorious fourth of July!« [Fußnote]»Der ruhmreiche 4. Juli« (amerikanischer Nationalfeiertag). Das ist ein Datum, das ein echter Yankee auch über der hitzigsten Dollarjagd im fernsten Erdenwinkel nicht vergißt. Alles war Leben und Fröhlichkeit dort drüben am Strand. Zwischen den Hütten und Zelten sah man die Menschen in Sonntagskleidern umhergehen, man hörte lustige Tanzmusik, das Knallen der Revolverschüsse und das scharfe Zischen der unvermeidlichen Raketen. Man sah die Sterne und Streifen von tausend Flaggenstangen und von allen Hausdächern wehen.


Draußen auf der Reede aber, wo wir lagen, war alles still. Dort feierte man keine Feste. Wohl wehte vom Heck des »Bowhead« heute das Sternenbanner, aber nicht über »the land of the free«, denn wieder wie damals in Unalaska standen zwei Bootsteurer mit geladenen Gewehren auf der Back.

Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken aufgeschreckt durch die Stimme des kleinen Fritz, von dem ich bisher noch nichts erzählt habe mit Ausnahme der Tatsache, daß er ebenfalls ein Deutscher war.

»Wie weit es wohl sein mag bis dort hinüber?« fragte er gedankenvoll. Ich wußte, was er mit der Frage bezweckte und war auch gerade in der Stimmung, darauf einzugehen. Wie weit es sein mochte? Sicherlich war es nur eine geringe Entfernung. Es war dort drüben alles so deutlich zu erkennen! Man sah die Leute vor den Zelten sitzen, man konnte fast die Inschriften über den flachen Dächern lesen.

Was wußten wir damals von den trügerischen arktischen Luftspiegelungen, die oft meilenweit entfernte Dinge in scheinbar greifbare Nähe rücken! Für uns war es nur ein Katzensprung bis hinüber. Man müßte sich ja schämen, wenn man so weit nicht schwimmen könnte! Noch in dieser Nacht wollten wir unser Glück versuchen. –

Es war Mitternacht. Die Strahlen der tiefstehenden Mitternachtsonne gossen ein weiches Licht über die blaue Wasserfläche, die sich leise kräuselte unter einer sanften Brise. Finster drohend, in schwarze Schatten gehüllt, standen die Berge von Alaska da, und im Westen lag über dem Horizont der endlosen Wasserfläche ein breiter Streifen von blutigem Rot.

Leise schlich ich mich an Deck, um mich über die Lage zu vergewissern. Die Gelegenheit war günstig. Petersen, der eine der Bootsteurer, der auf Ausguck stehen sollte, war nach achtern gegangen, um seine Pfeife zu füllen, und Nick lehnte verschlafen gegen das Gangspill und summte etwas Portugiesisches vor sich hin. Vorsichtig ließ ich das Ende der Fockbrasse über die Seite, machte es fest und ließ mich daran herunter ins Wasser gleiten. Als ich unten angelangt war, sah ich, wie mein Genosse gerade über die Reeling kletterte.

Ich muß gestehen, daß ich das Abenteuer fast wieder bereute, als ich mit dem Wasser in Berührung kam. Es war von einer eisigen Kälte, die scharf wie ein Messer und brennend wie Feuer den Körper bis aufs Mark durchbohrte. Einen Augenblick schlug es über mir zusammen, und das scharfe Seewasser, das in Mund und Nase eindrang, drohte mich fast zu ersticken. Schwer nach Atem ringend, kam ich wieder zur Oberfläche. Ich mußte mich krampfhaft zusammennehmen, um nicht laut um Hilfe zu rufen. Unwillkürlich fühlte ich, daß ich es in dieser Lage nicht lange aushalten konnte. Doch dann besann ich mich wieder auf mein Vorhaben, denn hier gab es kein Zurück mehr. »Schwimm oder stirb!« war hier die Parole. Mit Volldampf voraus schwamm ich dem Lande zu. Als Wegweiser diente mir nur der von Zeit zu Zeit vor mir auftauchende Kopf meines Landsmannes. Der kleine Wellenschlag, den die Brise aufwarf, verhinderte jede Aussicht; um nicht die Richtung zu verlieren, mußte ich zuweilen eine Pause machen und mit vorgerecktem Kopf nach dem Lande Ausschau halten. Aber das Land – es schien noch gerade so weit entfernt wie je!

Ganz plötzlich kam über mich das Verständnis für das Entsetzliche meiner Lage. In der ersten Bestürzung preßte das Blut nach dem Kopfe und raubte mir sekundenlang die Besinnung, die zitternden Glieder verloren jeden Halt, und fast wäre ich widerstandslos in die Tiefe gesunken. Die Strömung war ja viel stärker als ich; sie trieb mich gerade hinaus ins offene Meer! Aber was nun? Ich wußte es nicht. In der Tat: mein Denkvermögen begann sehr schnell abzunehmen. Willenlos und fast gedankenlos ließ ich mich treiben und machte nur noch, halb unbewußt, Bewegungen, um mich über Wasser zu halten. Mit heißem Schrecken kam mir dann das Bewußtsein wieder. Ich war allein; ringsum nichts zu hören als das Plätschern des Wassers und das Flüstern des Nachtwindes. Was sollte nun aus mir werden? Wohin ging die Reise? Hinaus in die offene See? Aber wir waren noch nicht so weit! Hier sollte ich schon mein Leben beschließen? Das war ja nicht denkbar! Ein heißes Lebensverlangen weckte mich aus meinem halberstarrten Zustande. Ich gestehe, daß eine Art Wahnsinn sich meiner bemächtigte, daß ich laut aufschrie vor Zorn und Angst und dabei das Wasser mit den Händen peitschte. Nur noch unklar erinnere ich mich, daß eine der vielen vorübertreibenden Eisschollen ganz nahe an mir vorbeikam. Unwillkürlich klammerte ich mich daran fest. Mit der Kraft der Verzweiflung krallte ich die Finger in die schwammige Oberfläche und zog die steifgefrorenen Glieder hinauf. Doch als ich oben angelangt war, brach die ganze Geschichte unter mir zusammen. Das nächste vorbeitreibende Eisstück griff ich mit Tapferkeit an, aber es war noch tückischer als das erste. Sobald ich es anfaßte, kenterte es und begrub mich unter seiner eisigen Masse. Mehr tot als lebendig kam ich wieder zur Oberfläche – die Sache begann sehr bedenklich zu werden. Stärker noch begannen die nassen Kleider in die Tiefe zu ziehen, steifer wurden die Glieder, und die Sinne begannen schnell zu schwinden.

Ganz mechanisch klammerte ich mich mit dem letzten Rest meiner schwindenden Kräfte nochmals an eine Eisscholle. Stück für Stück bröckelte sie unter mir weg, aber ich ließ nicht nach, bis ich festes Eis unter mir verspürte. – Von meinen weiteren Erlebnissen auf der Eisscholle weiß ich nichts Genaues zu berichten. Ein dumpfer, halbwacher Zustand überkam mich. In meinem verwirrten Sinn begannen die wunderbarsten Träume aufzusteigen. Ich glaubte, auf einem schimmernden Eisschiff durch alle Meere zu fahren und von dort nach der Sonne, immer weiter und weiter. – Plötzlich aber träumte ich von Schiffbruch und schreckte auf mit dem kalten Angstschweiß auf der Stirn, und die schaurige Gefahr stand wieder vor mir wie ein grinsendes Gespenst.

Als ich wieder ganz zur Besinnung kam., sah ich gerade vor mir den schwarzen Rumpf eines großen Dampfers, auf den meine Eisscholle zutrieb. Offenbar eines der beiden Passagierschiffe, die, wie oben erwähnt, weiter draußen auf der Reede lagen. Riesengroß türmte sich von meinem niedrigen Sitzplatz der gewaltige Bau. Auf dem Verdeck schien alles wie ausgestorben. Nur oben auf der Kommandobrücke schritt ein einsamer Mann mit gemessenen Schritten auf und ab. Er schien ganz in Anspruch genommen mit seiner kurzen Tonpfeife und warf nur von Zeit zu Zeit einen gleichgültigen Blick über das Wasser, wie Leute zu tun pflegen, die gerade nichts Besseres mit sich anzufangen wissen.

»Ship ahoy!« versuchte ich zu rufen, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, aber die Stimme klang so rauh und heiser, daß ich sie selber kaum hörte.

»Ship ahoy! Ship aho – o – oy!« schrie ich nochmals mit der letzten Kraft. Fast erschrak ich vor dem Klang meiner eigenen Stimme; sie hörte sich so unnatürlich, so gar nicht menschlich an. Der Mann auf der Kommandobrücke aber rauchte ruhig weiter. Er schien taub, stumm und blind zu sein; mit seinen Gedanken war er jedenfalls in San Franzisko. Immer wieder versuchte ich zu rufen und durch Winken die Aufmerksamkeit des verschlafenen Wachtmannes zu erregen, aber vergebens.

Schon trieb die Eisscholle dicht unter dem hohen Bug vorbei und rieb sich mit dumpfen Krachen an der Ankerkette. Mechanisch versuchte ich mich an dieser festzuhalten, aber ehe ich mich's versah, hatte die Strömung den Boden unter meinen Füßen mitgerissen, und ich hing nun zwischen Himmel und Wasser an der kalten, eisigen Kette. Fürwahr, eine bedenkliche Lage! Der eisige Wind, der inzwischen beträchtlich aufgefrischt hatte, zerrte an den nassen Kleidern, und die schneidende Kälte durchbebte den Körper bis aufs Mark. Es war eine häßliche, unheimliche Ankerkette, die mir noch heute zuweilen wie eine Seeschlange in meinen wüstesten Träumen auftaucht. Sie war mit einer dicken Eiskruste überzogen, an der sich die Finger verbrannten, die sich daran festhielten. Wenn das Schiff etwas schlingerte, wurde die Kette los, und die dicken Schackels kamen aufeinander zu liegen, und dann rissen sie wieder auseinander, wenn die Kette wieder straff wurde. Dabei stand ich jedesmal Todesängste aus, weil ein dazwischen geratener Fuß oder eine Hand zu Brei zerquetscht werden mußten. Wahrlich, das waren Qualen, die eines Tantalus würdig gewesen wären!

Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser fürchterlichen Lage ausgehalten habe; vielleicht eine Stunde, vielleicht aber auch nur Minuten. Nur noch aus instinktivem Selbsterhaltungstrieb klammerte ich mich fest, denn an Rettung wagte ich schon gar nicht mehr zu denken. Mir schwindelte vor den Augen, wenn ich über die Wasserfläche hinwegschaute, und über die mächtigen Eisschollen, die so still und geisterhaft darüber hinglitten wie weiße Leichentücher. Zuweilen waren auch Boote zu sehen, aber niemand bemerkte mich. Einmal kam sogar eine vergnügte Gesellschaft vorbei, die zu Ehren des 4. Juli eine Fahrt im Scheine der Mitternachtsonne unternahm. Sie waren jedoch alle stark angeheitert und hatten für nichts Interesse, als für den Whisky, den sie mit sich führten, und für die Ziehharmonika, deren krächzende Töne man noch lange hören konnte, während das Boot sich weiter und weiter entfernte.

Nie wieder habe ich den Whisky und den 4. Juli so sehr verwünscht, wie in jenem Augenblick.

Doch kaum war das ungastliche Boot außer Sicht, als ein flinkes Motorboot um den Bug des Schiffes herumkam. Offenbar ein Fahrzeug der Hafenverwaltung, denn es war weiß angestrichen, und vorn am Bug stand Onkel Sams Firma »U. S.« zu lesen.

Vorn im Boot stand, mit einem Bootshaken in der Hand, ein Mann mit weißer Polizeimütze und blauer Uniform mit scheinenden Messingknöpfen. Auch er blickte, genau wie der andere auf der Kommandobrücke, gleichgültig vor sich hin. Wie, wenn auch der mich nicht bemerken würde? Wenn er aus Zufall oder aus Unachtsamkeit nicht hersehen würde? Leben und Tod hingen für mich an diesem Blick. Aber er war glücklicherweise nicht so verschlafen wie der Mann auf der Kommandobrücke und etwas nüchterner wie die Leute im Boote. Als smarter Yankee hatte er sofort die ganze Situation erfaßt. Mit einem Satze sprang er nach achtern, riß dem Manne am Ruder das Rad aus der Hand und wirbelte es nach der anderen Seite, während das Boot blitzschnell herumschoß. Bei diesem Anblick bemächtigte sich meiner ein Schwächegefühl, gegen das ich vergebens anzukämpfen suchte. Widerstandslos glitt ich ins Wasser, doch gleich darauf hakte sich ein Bootshaken in meine Kleider, und kräftige Hände zogen mich ins Boot. –

Mit dem besten Willen kann ich nicht sagen, was dann weiter mit mir geschehen ist. An dieser Stelle ist der Schwamm über die Tafel meiner Erinnerungen gegangen und hat alles ausgelöscht.

Als ich wieder zur Besinnung kam, befand ich mich in einem schauderhaften Zustande. Mir war, als ob mir jeder Knochen im Leib gebrochen wäre. Bei der geringsten Bewegung ging ein stechender Schmerz durch alle Glieder. Die nassen Kleider klebten am Körper. Die Haare waren hart und filzig geworden von dem Salzwasser. Die Füße waren starr und kalt wie Eisklumpen und der Kopf heiß wie Feuer. An der linken Kopfseite klebte das hartgetrocknete Blut, das von einer tiefen Wunde über dem Ohr heruntergeronnen war. Eine dumpfe, muffige Kellerluft erfüllte die Atmosphäre. Ringsum war tiefe Finsternis. Von Zeit zu Zeit ließ sich aus einiger Entfernung klägliches Stöhnen vernehmen, aber auf meinen Zuruf bekam ich keine Antwort. Mit wurde unsagbar unheimlich zumute, und ich zermarterte mir vergeblich den Kopf, um herauszufinden, wo ich mich eigentlich befand.

Zuweilen vernahm ich schwere Schritte direkt über mir und kurze, durch die Zwischenwand gedämpfte Kommandorufe. Plötzlich wurde eine Luke aufgerissen, und eine lange Gestalt kam an der steilen Leiter heruntergestiegen. In dem hellen Lichtstrahl, der durch die offene Luke fiel, erkannte ich sofort – unseren lieben Mister Johnson!

Er schaute sich geblendet um, und als er mich endlich entdeckt hatte, betrachtete er mich lange, ohne ein Wort zu sagen.

»Hm,« meinte er endlich, »haben wir dich wieder? Schade, daß du nicht ersoffen bist!«

»Und du?« wandte er sich nach der anderen Ecke, »lebst du auch noch?«

»Ja, Herr,« antwortete eine schwache Stimme, die ich als die meines Mitschuldigen erkannte. Ich hatte nicht erwartet, ihn lebendig wieder anzutreffen.

Inzwischen war auch der Kapitän heruntergekommen. Sein salbungsvolles Wesen hatte er an Deck zurückgelassen. Er sah wütend aus, und in den Händen trug er zwei Paar Handfesseln, die er uns höchst eigenhändig und anscheinend mit nicht geringer Freude anlegte.

»So,« sagte er, »hier sehe ich euch gern, und hier könnt ihr bleiben, bis ihr graue Haare bekommt. Für etwas anderes seid ihr doch nicht zu gebrauchen.«

Der »Alte« hatte die Wahrheit gesprochen, als er uns prophezeite, daß wir so bald nicht wieder an Deck kommen würden. Es vergingen Wochen darüber, und man kann sich denken, daß es keine schönen Wochen gewesen sind, jene träge dahinschleichenden Stunden in der ägyptischen Finsternis, in der dumpfen Kellerluft, schutzlos ausgestreckt auf den harten Dielen des Zwischendecks. Nur dreimal während vierundzwanzig Stunden kam etwas Abwechslung in das Verließ, wenn sich oben die Luke öffnete und uns je ein Biskuit und ein Glas mit ekelhaftem, lauem Wasser verabreicht wurde.

Vierzehn Tage mochten wohl darüber hingegangen sein, als ganz unerwartet der Kapitän in höchsteigener Person nebst Mr. Johnson auf der Bildfläche erschienen. Letzterer ging auf meinen Leidensgefährten zu und nahm ihm die Fesseln ab. »Mach', daß du an Deck kommst!« fuhr er ihn an, indem er noch mit einem Stoße nachhalf. Wie der Blitz war denn auch Fritz durch die Luke verschwunden.

In meiner Erwartung, daß nun auch die Reihe an mich käme, sah ich mich aber gründlich getäuscht.

»Und der da? Was fangen wir mit ihm an?« sagte Johnny Cook mit einem kritischen Blick auf mich. »So ohne weiteres kann ich ihn nicht laufen lassen. Er hat sich mit den Steuerleuten herumgebalgt, die ihn zurückgebracht haben, und dafür muß er sich zuerst im Beisein der ganzen Mannschaft entschuldigen! Entschuldigen! Verstehst du?« fuhr er mich an, »vorher kommst du nicht aus dem Loch heraus und wenn dich da unten die Ratten fressen.«

Ich traute meinen Ohren nicht! Entschuldigen! An Bord eines Walfischfängers sich entschuldigen! Aber gerade in dieser Zumutung zeigte sich die diabolische Menschenkenntnis dieses Mannes. Er wußte, wie sehr ich diesen Mr. Johnson mitsamt der »Offiziers«gesellschaft haßte und daß ich mich nie überwinden würde, den Befehl auszuführen.

»Was hast du zu sagen?« platzte er heraus, »willst du oder willst du nicht?«

Ich gab ihm keine Antwort, und das schien ihm gerade recht zu sein. Er schmunzelte übers ganze Gesicht und ging an Deck zurück mit der Miene eines Mannes, der mit sich und seiner Schlauheit sehr zufrieden ist.

Nun erst begann für mich die Leidenszeit. Allmählich geriet ich in einen merkwürdig schreckhaften Zustand; die umgebende Stille und Dunkelheit begann mir auf die Nerven zu fallen. Jedes leise Krachen des Holzes ließ mich ängstlich auffahren. Ich hörte den Ratten zu, wie sie an dem Holze nagten und glaubte jeden Augenblick den glatten, naßkalten Körper eines dieser Tiere über meinem Gesicht zu spüren. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich laut vor mich hinredete, und dann erschrak ich vor dem Klang meiner eigenen Stimme. Dabei wurde die Kälte fast unerträglich; die ungepflegte Kopfwunde begann entsetzlich zu brennen, und die Eisen froren an die Handgelenke. Das Menü war natürlich immer Wasser und Hartbrot, aber Nick, der Bootsteurer, schmuggelte mir zuweilen etwas Fleisch und Brot herunter, so daß ich wenigstens mein Leben fristen konnte.

Er meinte es überhaupt gut mit mir, dieser Nick. »Du bist ein großer Narr. Warum bleibst du da unten? Es kostet dich ja nur ein Wort, und den »Alten« kannst du nicht mehr ärgern, als wenn du gerade das tust, was er dir sagt.« Doch ich wollte nicht hören, sondern verrannte mich mit jedem Tage mehr in meinem kindischen Eigensinn.

Und eines Tages kamen die beiden wieder herunter. »Hast du dich jetzt besonnen?« fuhr mich der Kapitän an, und als ich ihm wieder keine Antwort gab, packte er mich bei der Gurgel und schleuderte mich, der ich fast kraftlos war, gegen einen eisernen Streber.

»Die Dummheiten habe ich satt!« schrie er. »Dreißig Jahre bin ich zur See gefahren und habe andere Leute als dich zu hantieren verstanden. Mit deinem deutschen Dickkopf werde ich auch noch fertig werden!«

Nun gab ich endlich Antwort. Der Zorn, das Fieber, die Verzweiflung hatten mich in eine derartige Raserei gebracht, daß ich für den Augenblick jede Vorsicht vergaß.

»Meinetwegen kannst du mit mir tun, was du willst!« platzte ich heraus. »Kannst mich totschlagen – was liegt mir daran – aber sieh zu, daß du's gründlich tust, denn wenn ich je wieder lebendig nach San Franzisko komme, wirst du dafür bezahlen müssen!«

Da stimmten die beiden ein höhnisches Gelächter an, und der »Alte« richtete sich auf in seiner ganzen Amtswürde.

»Was kümmert mich das Gericht in San Franzisko,« sagte er mit höhnischer Stimme. »Ich bin hier das Gesetz, und niemand hat mir etwas zu sagen!«

Dann stieg er wieder an Deck.

Aber schon am nächsten Tag kam Mr. Johnson herunter und nahm mir die Eisen ab. »Mach', daß du an Deck kommst!« sagte er mürrisch.

Eine Minute später stand ich wieder oben an Deck und schaute mich verwundert um, geblendet von so viel Licht und Sonnenschein. Offenbar waren wir schon weit oben im Eismeer angelangt. Ringsum breiteten sich große Eisfelder. Hinter einem dünnen, grauen Dunstschleier hing die Sonne wie eine matte Scheibe, und in der Ferne zogen dicke Nebelstreifen über das stille Wasser. Wie schön das alles war! Wie das alles zu neuem Leben einlud!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unter Eskimos und Walfischfängern