Kapitel 3 - Ulm - Die Fahrt nach Ulm – Die Münsterkirche – Das Stadtregiment – Zeitungen und die Zensur – Bibliotheken und Schulen – Sitten und Gewohnheiten – Der Charakter der Schwaben – Der Murrle – Das Fischerstechen in Ulm – Die Weiterreise nach Stuttgart – Geislingen – Esslingen – Das St. Urbanusfest

Wir reisten am 16. Juli, einem heiteren Sommerabend, ab. Die grünen Hecken, von einem kurzen Regen erfrischt, ergaben mit der vor uns liegenden fruchtbaren Landschaft einen erfreulichen Anblick. Eine Allee von schönen, gesunden Weiden führte bis an die Wertach, ein kleines Flüßchen, das damals sehr seicht war, während der Schneeschmelze aber oft sehr stark anschwillt. Wir kamen über eine recht breite Brücke, auf der an beiden Enden ein kleines Zollhäuschen steht, wo für den Fürstbischof von Augsburg Brückenzoll erhoben wird. Von hier an war zu beiden Seiten des Hochweges eine Allee angelegt, die aber gar nicht recht gedeihen wollte. Jede Spur von Sorgfalt für die Nachwelt ist angenehm, aber unangenehm ist es zu sehen, daß sie vergeblich ist.

Etwa eine Viertelmeile von Augsburg entfernt liegt der zum österreichischen Schwaben gehörige Ort Grieshaber. Er wird als Weiler bezeichnet, aber der Ort ist besser, als die Benennung annehmen läßt, denn es gibt dort verschiedene Häuser von vier bis fünf Geschossen. Da wohnen, wie schon erwähnt, einige Uhrmacher sowie einige wenige Juden, die in Augsburg nicht wohnen dürfen, aber doch gegen eine gewisse jährlich zu zahlende Summe in die Stadt gehen und handeln können. Der Weg führte nun durch fruchtbare Äcker und von grünen Hecken eingeschlossene Wiesen, auf denen die Bauern mit Mähen beschäftigt waren. Der fröhliche, ländliche Anblick und die sinkende Sonne, die vor uns den Horizont vergoldete und die höheren Wolken mit Purpur färbte, öffneten unser Herz zum reinen Genuß der Natur. Ungefähr eine Viertelmeile weiter entfernt liegt der österreichische Ort Steppach, der auch von Uhrmachern und Juden bewohnt wird. Er ist kleiner als Grieshaber, hat aber einige hübsche Häuser. Unweit Steppach wird das Land und selbst der Fahrweg plötzlich sehr sandig. Der Weg windet sich um eine Anhöhe, und unvermutet wurden wir durch eine angenehme Aussicht überrascht. Auf der linken Seite lag ein mit Nadelholz bewachsener Grund, rechts ein hübsches Tal mit dem Dorf Einhofen und davor ein von der untergehenden Sonne ganz vergoldeter Teich. Danach führt der Weg zwischen grünen, etwas feuchten Niederungen bis an das Flüßchen Schmutter, über welches eine hölzerne Brücke geht. Jenseits fängt ein Wäldchen von Tannen und Birken an, die mit ihren balsamischen Düften den heiteren Sommerabend noch angenehmer machten. Unweit dem hübschen Dorf Biburg, wo verschiedene Augsburger Patrizier Gärten und Landgüter haben und wo ein wundertätiges Marienbild ist, erblickten wir eine sehr große Herde von Kühen – für uns ein erfreulicher Anblick, da wir ihn bei unserer Reise durch Österreich und Bayern so selten gehabt hatten. Hinter Biburg geht der Weg ziemlich bergan und erreicht bald darauf ein Wäldchen von jungem Nadelholz, erfreuliches Zeichen für die sorgfältige Erhaltung der Wälder. Bald darauf kamen wir in einen hohen Tannen- und Birkenwald, und die untergehende Sonne tilgte jede sinnliche Empfindung, ausgenommen den balsamischen Geruch, den die Bäume um uns aushauchten.


Wir kamen bei Einbruch der Nacht in Zusmarshausen an, einem Marktflecken mit Postwechsel, der dem Bischof von Augsburg gehört. In der Nacht durchfuhren wir den zum österreichischen Schwaben gehörigen Marktflecken Burgau, von dem die Markgrafschaft Burgau ihren Namen hat. Die Pferde wechselten wir in Günzburg, der, soviel ich weiß, einzigen Stadt in dieser Markgrafschaft, und kamen frühmorgens in Ulm an, wo wir im Greifen abstiegen. Unser wieder in Ordnung gebrachter Wegmesser zeigte folgende Strecken:
von Augsburg bis Zusmarshausen 3 3/8 Meilen
bis Günzburg 7 1/8 "
bis Ulm 9 29/32 "

Nach der Posttaxe wird für jede dieser Etappen 1 ½ Post oder 3 Meilen gerechnet.

Johann Herkules Haid hat 1786 die Stadt Ulm und ihr Gebiet beschrieben. Sein Buch ist zwar einigermaßen brauchbar, aber oft sehr weitschweifig und mit wenig oder gar keiner Ordnung verfaßt. Es enthält eine Menge unnützer Kleinigkeiten, während auf der anderen Seite wesentliche und wichtige Sachen vergessen wurden. Außerdem fehlen diesem so verwirrend geschriebenen, aber doch hauptsächlich als Nachschlagewerk gedachten Buch ein vollständiges Register und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. So ist es höchst beschwerlich, darin das zu finden, was man sucht.

Es ist unbegreiflich, daß sich Leute, die eine Stadtbeschreibung verfassen wollen, sich noch immer damit begnügen, die Gegenstände in eine oberflächliche Ordnung zu bringen. Doch ohne eine genaue Ordnung und das richtige Verhältnis und die Übereinstimmung der Nachrichten kann kein richtiges, geschweige denn ein anschauliches Bild einer Stadt entstehen. Diesen Mangel an Übereinstimmung zeigt Haids Werk in großem Maße. So erwähnt er unter der Rubrik »Beschaffenheit der Stadt« deren Umfang, zehn Seiten weiter erfährt man unter »Gestalt der Stadt« die Länge und Breite ihrer Ausdehnung. Den Umfang hat er in Schritten angegeben, allerdings ohne genauer zu sagen, welches Maß damit gemeint ist, die Länge und Breite der Stadt dagegen gibt er in Ruten und Schuhen an. Daß eine solche Rute 14 Ulmer Schuh mißt, erfährt man auch erst weitere 250 Seiten später. 50 Seiten vorher hatte er schon berichtet, daß ein Ulmischer Werkschuh 931/1000-tel eines Rheinischen Schuhs sei. Wer sich nicht sehr sorgfältig zurückerinnert, was Herr Haid an verschiedenen Stellen des Buches jeweils gesagt hat, findet sich in diesen Bestimmungen nimmermehr zurecht.

Man hat einen Grundriß von Ulm unter dem Titel Ulma memorabilis ac permunita libera Imperii civitas etc. von Seutter, der aber lediglich die Kopie eines alten in Merians Topographia-Sueviae 1643 erschienenen Grundrisses darstellt. Er ist, wie ich belehrt worden bin, hin und wieder unrichtig; es fehlen darauf z. B. mehrere kleine Gassen, und einige sind unrichtig benannt.

Das Gebiet der Stadt Ulm sieht man ziemlich deutlich auf der Karte von ganz Schwaben in neun Blättern, welche Jakob Michael gezeichnet und Matthäus Seutter in Augsburg verlegt hat. Zusätzlich gibt es eine besondere Karte von dem Ulmer Ingenieur und Architekten Johann Christoph Lauterbach, nebst einer kleinen Karte der ehemaligen Ulmer Herrschaft Wain. Diese letzte Karte soll in bezug auf die Vollständigkeit und Lage der Ortschaften sehr genau sein. Freilich sind beide keine Situationskarten. Der sehr häufig in Höhen und Tiefen wechselnde Weg nach Geislingen, den ich von Ulm aus bereiste, sieht auf dieser Karte z. B. ganz flach aus.

Ansicht der Stadt Ulm

Wenn man nun die Größe dieses Gebietes betrachtet, welches meist fruchtbarstes Land enthält, so fallen zweierlei Dinge sofort auf: 1) In welchem Wohlstand muß diese Stadt ehemals gewesen sein, daß sie ein so großes Gebiet hat erwerben können. Durch Waffengewalt allein wird es schwerlich geschehen sein. Das bekannte Sprichwort vom Ulmer Geld läßt vermuten (und von einem Teil des Gebietes ist es auch bekannt), daß es im vierzehnten Jahrhundert, zur Zeit des größten Wohlstandes der Stadt, als sich diese auch von Ansprüchen des Klosters Reichenau durch Geld befreite, gekauft worden ist. 2) Diese Stadt ist, trotz der großen Einkünfte, welche dieses Land gewährt und bei zweckmäßiger Einrichtung noch mehr gewähren könnte, sehr tief in Schulden geraten, so sehr, daß sie Teile ihres Landes verkaufen mußte. Selbst wenn man alle Unglücksfälle abrechnet, so muß man doch, die Redlichkeit und den guten Willen des Magistrats vorausgesetzt, auf wichtige Fehler in der Finanzverwaltung schließen, besonders wenn man das benachbarte Augsburg dagegenhält, das viel größer ist und trotz manchem Verfall immer noch eine blühende, schuldenfreie Stadt darstellt.

Wäre Winkelmann in Ulm, so wie es ihm in Augsburg erging, über die äußere Gestalt der Häuser melancholisch geworden, hätte es mich nicht sonderlich gewundert. Das Äußere der Häuser in Ulm ist sehr viel schlechter als in Augsburg. Fast alle sind entweder plumpe Steinmassen oder elende hölzerne Gebäude mit Giebeln, denen jegliche Zierde fehlt. Den steinernen Häusern, denen man Solidität nicht absprechen kann, fehlt es an Symmetrie, ihrer inneren Einteilung meist an Bequemlichkeit und fast immer an Zierlichkeit. Die Ausnahmen sind sehr selten, wie z. B. das v. Besserersche Haus, dem Wirtshaus zum Greifen gegenüber gelegen, das eine ziemlich moderne Fassade hat. Sonst sind selbst das Rathaus und alle öffentlichen Gebäude so nichtssagend und unansehnlich, wie ich es noch in keiner anderen Reichsstadt gefunden hatte. Die recht breiten Gassen lassen die Gebäude noch unangenehmer ins Auge fallen.

Zwei Gebäude sehr unterschiedlicher Art verdienen aber wirklich Aufmerksamkeit. Das erste ist die im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert erbaute Münsterkirche, ein sehr ansehnliches gotisches Gebäude, das in seinen Ausmaßen als Münster in Deutschland einmalig ist. Es ist viel größer als das berühmte Münster in Straßburg und die Sophienkirche in Wien. Es nimmt beinahe ein Drittel mehr Raum ein als das Straßburger Münster, was unglaublich klingt und doch wahr ist. Das Mittelschiff des Ulmer Münsters ist beinahe doppelt so hoch wie die Schiffe der beiden vorher genannten Kirchen, die doch wegen ihrer Größe und Höhe berühmt sind. Frick gibt die Höhe mit 141 Ulmer Werkschuhen, Merian sogar mit 152 Schuhen an. Sulzer ist der Meinung, das Ulmer Münster sei mit weit mehr Geschmack angelegt als das in Straßburg. Dieser Meinung kann ich mich bloß im Hinblick auf die beiden äußeren Seitenfassaden anschließen, denn sie haben ein zierlicheres Verhältnis als die des Straßburger Münsters. Aber dessen westliche Fassade unter dem Turme übertrifft meiner Meinung nach die in Ulm an Symmetrie und Wirkung. Im Innern schließlich ist das Straßburger Münster unvergleichlich schöner. Man darf nur die Grundrisse beider Kirchen gegeneinander halten, und sofort fällt beim Münster zu Straßburg eine ausgewogenere Harmonie ins Auge. In Straßburg ist der Chor verhältnismäßig größer, und die eigentliche Kirche wirkt daher weniger in die Länge gezogen. Dies ergibt ein angenehmes Verhältnis zu ihrer Breite. Die beiden mittleren Pfeilerreihen, auf denen das Schiff dieser Kirche ruht, sind in Straßburg verhältnismäßig schlank, viereckig und so gestellt, daß man beim Eintritt in die Kirche auf eine Kante sieht; sie decken sich daher nicht und hindern nicht das Auge, das Ganze zu übersehen. Im Münster zu Ulm sind vier Reihen Pfeiler. Die beiden mittleren sind sehr massiv, sechseckig; man sieht sie daher stets von einer gleich breiten Seite, und sie decken sich, wenn man vom westlichen Eingang her die Kirche betritt. Daher behindern sie das Auge, die ganze Breite zu fassen, um so mehr, da die beiden Reihen von Nebenpfeilern noch mehr die Übersicht des Ganzen stören. Das lange und sehr hohe Schiff des Ulmer Münsters erscheint daher schmaler, als es ist, hat etwas Korridorartiges und nicht das schöne Verhältnis des Straßburger Schiffs, obwohl es ebenso breit ist wie dieses. Der Chor in Ulm scheint im Verhältnis zu der langen Kirche eine Art Kabinett zu sein, auch weil er dazuhin noch viel niedriger als das Hauptschiff ist.

Mir wenigstens fiel es beim Eintritt ins Münster zu Ulm (obwohl ich damals das Straßburger Münster noch nicht gesehen hatte) besonders auf, daß das Schiff gedrängt und eng wirkte. Außer der ungeheuren Höhe trägt dazu bei, daß die mittleren Pfeiler nur die Höhe der Seitenschiffe haben und sich zwischen jedem ein Bogen schließt. Sie sind viereckig, an sich schon stark, und wirken wegen dieser verminderten Höhe noch stärker. Über den Säulen und Bogen erhebt sich ein massives Mauerwerk, über dem die Seitenfenster hervorragen. Dieses gibt eine angenehme Beleuchtung; aber das Ganze wirkt gedrängt. Die Seitenschiffe, von schlanken abgerundeten Pfeilern getragen, sehen, an sich und ohne Rücksicht auf das Schiff betrachtet, viel freier aus; aber vom Hauptschiff aus betrachtet, zeigt ihr gegen das sehr hohe Schiff niedrig wirkendes Gewölbe dem Auge keine angenehme Ausgewogenheit.

Sehr bemerkenswert ist, daß der Prediger in diesem 141 Fuß hohen Gewölbe ohne Anstrengung überall im Kirchenraum deutlich gehört werden kann. Man schreibt es dem etwas tief liegenden, sehr breiten Deckel der Kanzel zu, was für die Stimme des Predigers sicher vorteilhaft ist. Aber viel trägt wohl auch dazu bei, daß es im Ulmer Münster keine Emporen gibt.

Der Turm ist nur bis auf 337 Ulmer Werkschuh hoch gebracht. Er steigt in zierlichen und angenehmen Proportionen empor, mit sichtbarer, aber glücklicher Nachahmung des Straßburger Münsterturms; nur die oberste Spitze ist gedrungener und schwerer. Besonders hervorheben muß man, daß dieser Turm nicht auf eigenem Grund, sondern auf dem hohen Gewölbe der Kirche ruht. Dies ist kühn. Aber es ist auch die eigentliche Ursache dafür, daß er nicht höher gebaut werden konnte. Ein so hohes und verhältnismäßig schmales Gewölbe könnte die ungeheure Last des ganzen Turmes nicht tragen. Auch hier hat der Grund des Münsterturms zu Straßburg einen großen Vorzug, er ruht nämlich auf acht starken Pfeilern, von denen die äußersten fünfeinhalb Klafter oder 33 Fuß breit sind. Schon 1492 begann sich der Turm des Ulmer Münsters zu senken, und die tragenden Pfeiler wurden durch einen Baumeister aus Augsburg, Burkhard Engelberger, so verstärkt, wie sie jetzt sind. Vorher waren sie nicht stärker als die Pfeiler, die das Kirchengewölbe tragen.

Fast immer trug man wenig Sorge, die Namen der Baumeister aufzuzeichnen, welche die wichtigsten Gebäude entwarfen und ausführten. Immerhin war man in Ulm so sorgfältig, durch eine Inschrift im Münster zu verewigen, daß auf Geheiß des Rats ein Patrizier Ludwig Kraft den ersten Stein gelegt habe. Als ob dies der Mühe wert wäre, aufgezeichnet zu werden, und als ob der große Künstler, der die Idee und den Plan dieses Gebäudes zuerst in seinem Geist faßte und es auszuführen den Mut hatte, nicht ein viel wichtigerer Mann gewesen wäre als Ludwig Kraft und seine leere Zeremonie. Somit ist der Name des großen Baumeisters, der die ersten Pläne des Ulmer Münsters gemacht hat, ganz unbekannt; ja, von allen Baumeistern dieses großen Werkes ist keiner der Nachwelt bekannt geworden, außer Matthäus Ensiger, der 1483 starb und also vermutlich am Turm baute. Sein Name verdient, mit denen Erwins und Johannes' von Steinbach oder David Hülz' zu Straßburg oder Georg Hausers und Anton Pilgrams zu Wien von der Nachwelt mit Ehren genannt zu werden, die sich um keinen Ludwig Kraft kümmert.

Wir bestiegen den Turm. Man geht bequem hinauf und hat von dort oben nach allen Seiten eine herrliche Aussicht auf das umliegende fruchtbare, von Tälern und Bergen durchzogene Land, besonders nach der Donau hin.

Das zweite sehenswerte, auch auf öffentliche Kosten zu Ulm erbaute Gebäude ist ein Schauspielhaus, das sich – freilich auf ganz andere Art – von allen Häusern in Ulm ebensosehr unterscheidet wie das Münster. Der Architekt wollte anscheinend etwas Prächtiges schaffen, denn das Portal hat eine korinthische Säulenfront, vermutlich die einzige, die in Ulm und Umgebung zu finden ist. Man sollte denken, die ionische Anordnung hätte sich für ein Komödienhaus besser geschickt, zumal bei diesem Komödienhause, das einem Gartenhaus ähnlicher sieht als einem öffentlichen Gebäude. Die Höhe des ganzen Gebäudes beträgt nämlich 32 Schuh, so daß man sich leicht vorstellen kann, zu welch bescheidener Höhe die korinthischen Säulen sich haben bequemen müssen. Vielleicht glaubte aber der Baumeister, auf die Pracht der korinthischen Anordnung nicht verzichten zu können, weil am Giebel das Wappen von Ulm, flankiert von einer Fama und einem Genius, dargestellt werden sollte. Vermutlich soll das soviel heißen wie: Die Fama tue dem schwäbischen Kreise durch ihre Posaune kund, daß Ulms Genius den guten Gedanken hatte, ein Schauspielhaus zu errichten. Die Bürgerschaft war freilich nicht der Meinung, daß der Bau des Schauspielhauses ein guter Gedanke war. Sie meinte in ihrer Einfalt, es wäre besser gewesen, statt dessen ein Arbeitshaus zu bauen, damit armen Bürgern und Notleidenden geholfen würde. Man hatte schon sehr lange vorher darüber ergebnislos beratschlagt und verlangt, an dieser Stelle eine Wollspinnerei anzulegen, weil bei Geislingen eine beträchtliche Schafzucht ist und der hochedle Rat die Tücher zur Bekleidung der Stadtgarnison bisher aus Sachsen kommen ließ. Das schien ganz klug zu sein, aber der Rat hielt es doch, aus unbekannten Ursachen, für besser, ein Schauspielhaus zu haben. Noch auffälliger ist, daß dieses Schauspielhaus recht schnell erbaut wurde, und zwar gerade zu einer Zeit, da die Bürgerschaft einen schweren Prozeß gegen den Magistrat beim Reichshofrat angestrengt hatte, unter anderem wegen allzu vieler Steuern. Der Magistrat seinerseits versicherte, die besagte Steuer auferlegen zu müssen. Dem schien nun freilich der Bau eines von der Bürgerschaft unverlangten Schauspielhauses ein wenig zu widersprechen. Die Bürger bildeten sich ein, es sei ihnen zum Trotz gebaut worden, weil der Magistrat zeigen wollte, wie sicher er sei, den Prozeß zu gewinnen. Das war aber wirklich bloße Einbildung der Bürger, wie sich hernach auch zeigte, denn der Magistrat versuchte, den Prozeß, obwohl er ihn auf sichere Weise gewann, durch einen Vergleich zu beenden.

Dieses Schauspielhaus, obgleich klein, ist doch wirklich mit Geschmack erbaut und bequem und gut eingerichtet. Der herzoglich württembergische erste Maschinist, Herr Keim, ist der Baumeister. Trotz der bescheidenen Ausmaße scheint es für Ulm allzu groß zu sein, denn es fehlt diesem Schauspielhaus an nichts, außer an Schauspielern und Zuschauern. Weder unter den Patriziern noch unter den Bürgern ist der Wohlstand so groß, daß man sich eine feste Schaubühne halten könnte; also kann sie allenfalls in den wenigen Wochen offen sein, wenn die Kreisversammlung dort ist. Da hatten sich sonst sehr oft herumziehende Truppen eingefunden, die in einer öffentlichen Wagenremise durch ihre lustigen Stücke und Haupt- und Staatsaktionen einem hohen und gnädigen Publikum zu besserer Verdauung verhalfen. Herr Heidelof, Hof- und Theatermaler in Stuttgart, der das Ulmer Theater mit einem gemalten Vorhang bereichert hat, scheint sich die Beweglichkeit der Ulmer Schauspielergesellschaften, für die er ein festes Theater verschönern sollte, zum Vorbild genommen zu haben. Auf den meisten Theatervorhängen sind herumfliegende Genien abgebildet, und irgend etwas wird gekrönt. Auf dem Ulmer Vorhang wird nun nicht etwa das Brustbild des Aischylos oder des Sophokles oder des Corneille oder Shakespeares oder Lessings, sondern das Brustbild des Thespis von einigen Genien gekrönt, welche wohl keine anderen als der Genius Ulms und die Genien der Ulmer Oberamtmannschaften sein können. Die Wahl des Gekrönten scheint vom Maler wohlüberlegt zu sein, denn bloß Truppen, die auf dem Karren des Thespis herumziehen, werden in diesem Hause spielen.

Übrigens möchte man von diesem Vorhang beinahe sagen, wie von Hogarths Kupferstich »The Enraged Musician«, daß viel darauf zu hören ist, denn alle darauf dargestellten Personen machen ein mehr oder minder großes Getöse. Die Philosophie, in voller Bewegung, mit der einen Hand auf den Thespis, mit der andern auf ein offenes Buch zeigend, unterhält sich, wie die Beschreibung versichert, mit der personifizierten Stadt Ulm, der einzigen geduldig schweigenden Person auf diesem Vorhang, über die Theorie des Schauspiels. Nun weiß man ja, daß die theoretischen Philosophen, dogmatische und kritische in gleicher Weise, ziemlich laut zu werden pflegen. Hier aber muß die Philosophie ihre Stimme gewiß sehr anstrengen, wenn sie sich der guten Stadt Ulm verständlich machen will, denn sie hat sehr laute Nachbarn. Die Dichtkunst schreibt zwar, ist aber in so sichtbarer Begeisterung und öffnet den Mund so deutlich, daß man merkt, sie will neben der theoretischen Philosophie für die Praxis sprechen. Thalia, die Maske in der Hand, deklamiert laut; Fama, neben der Terpsichore stehend, bläst dieser auf ihrer Posaune einen Rigaudon, zu welchem die Tänzerin im Springen auf einem Tamburin den Takt schlägt; Melpomene, was macht sie? Der Leser vermutet vielleicht, daß sie sich, wie Hogarths »Enraged Musician«, vor dem allgewaltigen Getöse die Ohren zuhält? Keineswegs! Viel ernster! Sie will sich soeben entleiben und wird also gewiß aufschreien, sobald der Dolch eindringt. Wenn die Dichtkunst nicht etwa aufspringt, der Muse in die Hand zu fallen, so ist diese verloren. Sonst hält Melpomene den Dolch nur in der Hand und gebraucht ihn ebensowenig zum Erstechen als Thalia die Maske zum Maskieren. Warum schreitet dann die Muse hier zur Tat? Vermutlich nur aus Verdruß darüber, daß die Herren von Ulm Philosophie, Lustspiel, Tanz und Ruhm, aber weder Trauerspiel noch Gesang haben wollen, denen Melpomene bekanntlich vorsteht. In der Tat ist es seltsam genug, daß bei soviel dargestelltem Lärm auf diesem Vorhang nichts vom Singen angedeutet ist; vielleicht soll es vom Ulmer Theater verbannt sein. Doch genug von einem Schauspielhaus, das nicht viel mehr ist als une niche attendant son saint.

Die Steuern in Ulm sind mannigfaltig: von Gütern, von Kapitalien, von Gewerben, Abzüge des zwanzigsten Teils von den Besoldungen, Stempelpapier, Ohmgeld von Getränken, Akzise von Getreide und Mehl. Die Abgabe von den Gütern soll 45 Prozent des Ertrags sein. Die beträchtlichen Schulden der Stadt erfordern diese Abgaben und vermehren sie. Es bleibt aber unbegreiflich, wie bei einer so einträglichen Landschaft diese Reichsstadt so sehr hat in Schulden geraten können. Man kann nur annehmen, daß mangelhafte Einsichten in die Finanzwissenschaft und Ökonomie schon seit längerem vorliegen müssen. Jetzt sind, wie man mir versicherte, unter den jungen Ratsherren verschiedene Männer, die sich Kenntnisse dieser Art erworben haben und sie vermutlich künftig zum Besten ihrer Vaterstadt anwenden werden. Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß im Jahre 1787 die jährlichen Einkünfte der Stadt zwischen 400 000 und 500 000 Gulden betrugen, die Schulden sich hingegen auf 3 500 000 Gulden beliefen. Das scheint freilich etwas gefährlich, doch scheint es nur so. Wenn es nicht mehr ist, so würde doch durch gute Staatswirtschaft, durch Verbesserung der Ökonomie der Ländereien und Ämter und durch Verlängerung des Kredits in 30 bis 50 Jahren diese Schuldenlast teils getilgt, teils nicht mehr lästig sein. Man müßte die Sache nur bald und mit Ernst angreifen. Man dürfte nur die vortreffliche Staatswirtschaft des Kurfürsten von Sachsen oder des Herzogs von Braunschweig nachahmen und würde schon innerhalb zehn Jahren die beste Wirkung spüren. Aber freilich müßten Männer da sein, die in den Finanzprinzipien bewandert sind. Ich spreche hier bloß von einem Finanzplan, der die Schulden und die Zinsen vermindern würde. Könnte man nun noch hin und wieder manches sparen, was ich nicht bezweifle, und könnte man ferner durch bessere Verwaltung der Ländereien die Einkünfte mehren, so wäre der Erfolg noch geschwinder und heilsamer.

Eine ganz sonderbare Einrichtung in Ulm ist ein besonderes Kollegium von Rechtsgelehrten, die aber in Zivil- und Kriminalsachen nur beratende Stimme haben und ihr Gutachten den Mitgliedern des Magistrats vorlegen, die nach Gefallen darüber entscheiden. Der Theorie nach müßte man diese Einrichtung für unschicklich und einem unparteiischen Rechtsweg nachteilig ansehen. Der Magistrat ist der Souverän in Ulm. Ich kenne kein Land, selbst keine Monarchie, wo der Souverän nicht aus einem Gefühl natürlicher Billigkeit die Entscheidung über Rechtshändel den Richtern überließe. Es wäre etwas anderes, wenn Juristen, wie in England, die Prozesse vorbereiteten und das Urteil dann durch eine Jury aus dem Stand des Beklagten gefällt würde. Es kann sein, daß in Ulm die persönlichen Eigenschaften der Ratsherren, vielleicht auch ihre zufälligen juristischen Kenntnisse, die Ulmer Einrichtung unschädlich machen. Da aber die Bürger in Ulm, ob mit Recht oder Unrecht, über ihren Magistrat sowieso schon mißvergnügt sind, ist wenigstens das Vorurteil leicht verständlich, das sie gegenüber der Unparteilichkeit einer Rechtspflege haben, die vom Magistrat willkürlich verwaltet wird. Der Fall wird delikat, wenn z. B. ein Bürger, der etwa für die Bürgerschaft wider den Magistrat spricht oder sonst aus irgendeiner Ursache mehreren Ratsherren mißfällt, nun in einen Rechtshandel verwickelt wird. Es ist für diesen schwer zu glauben, daß er von seinen ohne Rechtsgründe urteilenden Regenten ein unparteiisches Urteil erhalten wird. Er kann seinen Prozeß vielleicht zu Recht verlieren, für den Gemeinsinn des Publikums aber und für den Glauben an eine unparteiische Rechtspflege wäre es wohl besser, wenn das Urteil von Richtern gesprochen würde, welche selbst die Sache untersucht hätten und so für ihren Spruch Rechtsgründe anführen könnten.

Auf der anderen Seite ist es gewiß genauso unschicklich, daß viele Ulmer Ratsherren von ihren Stellen keine ausreichenden Einkünfte haben. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Es finden sich zwar mehrere Republiken, wo die Einkünfte der Ratsherren äußerst gering sind, z. B. Zürich und Hamburg, aber dort ist die Regierung der Republik auch nicht an ein erbliches Patriziat gebunden. Man wählt die Männer zu Ratsherren, zu denen man Vertrauen hat und die entweder wohlhabende Leute sind oder ein Geschäft treiben, das ihnen hinlängliches Einkommen gibt. Die Patrizier in Ulm hingegen treiben gar kein Gewerbe und sind größtenteils nicht besonders vermögend. Sie waren es vermutlich im sechzehnten Jahrhundert, als Kaiser Karl V., um das Interim zu fördern, ihnen die höchsten Stellen im Rat und damit das eigentliche Regiment der Stadt gab. Sie nahmen dies an, um zu herrschen und Einfluß zu haben, und dachten nicht an Besoldungen, vermutlich weil sie es damals nicht nötig hatten. Sie hätten auch von der Bürgschaft noch mehr Widerspruch befürchten müssen, wenn eine neue Steuer erhoben worden wäre, um die neuen Herren zu besolden. Jetzt aber, da durch die Vermehrung der Familienzweige und die Erbteilungen der Güter viele Patrizierfamilien nicht mehr reich sind, muß ihnen das Regieren ohne Bezahlung lästig werden. Man hat mir glaubwürdig versichert, ein Patrizier könne mehrere Jahre Ratsherr sein, ohne andere Einkünfte zu haben als einen halben Gulden für jede Ratssitzung, der er beiwohnt. Das aber ist noch nicht einmal ein Drittel dessen, was ein Mitglied der Akademie in Berlin für jede Sitzung bekommt, bei der er anwesend ist. Der Akademist hat jedoch nicht einmal das Wohl des Staates zu verwalten wie ein Ratsherr in Ulm. Einige patrizische Ratsherren sollen freilich Ämter haben, die sehr einträglich sind. Ich fand im heutigen Ulm eine große Menge Ämter und Posten. Wieviel diese die Stadt kosten und ob nicht bei dem jetzigen Finanzstand einige zu entbehren wären, kann ich nicht entscheiden. Seit dem August des Jahres 1794 ist zwischen der Bürgerschaft und dem Magistrat ein abermaliger Streit entstanden. Es geht vor allem um Beschwerden über das zerrüttete Finanzwesen, weshalb die Bürgerschaft um Mitwissenschaft bei der Verwaltung des Gemeinguts bat, über die nahen Verwandtschaften im Rate, über das Einkaufen in denselben, über die Aufnahme untauglicher Mitglieder und Ausschließung mancher bürgerlichen Zünfte, über die Annahme eines jungen Patriziers zum Oberforstmeister, da ein erfahrener Mann bürgerlichen Standes schon einige Jahre Verweser dieses Amtes war, ohne daß über ihn geklagt wurde; über kostspieliges und entbehrliches Bauen im Oberforsthause und schließlich über eine einer Patrizierwitwe gewährte Pension von 700 Gulden.

Die Reichsstadt Ulm hat das Verdienst, daß sie sich eifrig um den Chausseenbau in der umliegenden Gegend bemüht. Der Ausbau der Straße nach Nürnberg fand viele Schwierigkeiten wegen der mannigfaltigen umliegenden Herrschaften, durch deren Gebiet die Wege gehen mußten. Endlich wurde in den achtziger Jahren auf der Kreisversammlung durch Vermittlung des Herzogs von Württemberg eine Einigung gefunden: Das Reichsstift Elchingen, der Deutsche Orden, das fürstliche Haus Öttingen-Wallerstein, die Reichsstifte Salmansweil und Kaisersheim nebst den betroffenen Reichsrittern an der Donau einigten sich auf einen bestimmten Geldbetrag, und die Stadt Ulm übernahm den weiteren Bau der Chausseen, den sie vorher schon auf ihrem eigenen Gebiet bis Albeck, zwei Stunden weit, angefangen hatte.

Die Einkünfte der Ulmer nehmen ab, und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Dazu gehört, daß der Geldkreislauf in Ulm nicht eben schnell ist, da die Ratsmitglieder und Bürger wechselweise wenig Aufwand machen, daß also der Bürger wenig zu verdienen hat und doch einen gewissen Wohlstand gewöhnt ist. Die Leinwandweberei ist in der Stadt und auf dem Land immer noch ansehnlich, und vom Ertrag aus dem Leinwandhandel wird Gutes berichtet. Ich setze nur noch hinzu, daß auf einer Insel, welche die Blau umfließt, zwei Leinwandbleichen dem Magistrat gehören, der sie einem Pächter – auf ulmisch Beiständner – auf Lebenszeit verleiht. Die Ulmer Leinwand, sowohl ungebleichte als auch weiße und gestreifte, wird in die Schweiz und in alle Teile Italiens, bis nach Kalabrien und Sizilien versandt. Nach Spanien geht sie nicht. Es versteht sich, daß diese Leinwand im kleinen auch in der umliegenden Gegend guten Absatz findet. Schon bei meiner Anwesenheit im Jahre 1781 wurden Klagen über die Abnahme dieses Handels geführt, welche nachher noch fortwährten und vermutlich jetzt, da der Leinwandhandel in ganz Europa stockt, auch dort noch stärker werden. 1784 erschien in Ulm eine kleine Schrift, Freimütige Gedanken über den Verfall des Leinwandhandels, den Ulmischen Leinwandwebern in Stadt und Land gewidmet, in der der Ulmer Kaufmannschaft zur Last gelegt wird, sie sei allein am Verfall des Leinwandhandels schuld, weil sie den Weber drücke und die Leinwand nicht hoch genug bezahle. Ich bin freilich von der Beschaffenheit der dortigen Lage nicht genau unterrichtet, um so weniger als das vorliegende Traktätchen dazu bei weitem nicht ausreichend ist. Ich will gewiß die Mächtigen und Reichen nicht verteidigen, die den geringen und armen Mann unterdrücken. Besonders verdient es ernstliche Aufmerksamkeit, wenn in den Gedanken gesagt wird, daß die Herren Leinwandnegozianten zu Ulm meistens Ratsmitglieder sind und daß einer aus ihrer Mitte beim Steueramte, also demjenigen Departement sitzt, welches über das Leinwandwesen die Aufsicht hat. Daher hätten die Leinwandweber, wenn sie klagten, keine unparteiische Gerechtigkeit zu erwarten; ihre Gegner seien zugleich ihre Richter. Weiter wird behauptet, daß die Weber von den Leinwandhändlern oft verächtlich behandelt würden, daß man ihnen gedroht hätte, sie zum Fenster hinaus oder ihnen die Ware vor die Füße zu werfen. Dies wird niemand billigen. Es heißt aber, daß man beide Seiten hören muß, und das wird auch hier wohl nötig sein.

Es ist meist sehr schwer, in Manufaktursachen zwischen den Unternehmern oder den großen Kaufleuten und den Arbeitern zu entscheiden, auf wessen Seite jedesmal Recht und Billigkeit ist. Die öffentliche Meinung erklärt sich freilich gewöhnlich gegen den Unternehmer, weil in die Augen fällt, daß er sich besser stellt, oft sogar reich wird. Man vergißt dabei aber, daß der Unternehmer schon sehr wohlhabend sein muß, ehe er Einkäufe im Großen unternehmen kann. Es ist ihm also nicht zu verdenken, daß er sein Vermögen erhalten und vermehren will. Man vergißt, daß der Einkäufer ständig bares Geld in der Hand haben muß, um den Weber bar zu bezahlen, und ihn daher die Zinsen, wenn die ausstehenden Zahlungen spät eingehen, oft sehr hoch zu stehen kommen können. Man vergißt, daß der Kaufmann ein großes Risiko tragen muß; der Arbeiter hingegen trägt keins, sondern wird vom Kaufmann bezahlt, sobald er die Arbeit abliefert. Der Kaufmann muß den arbeitenden Teil oft zu seinem Schaden in Existenz erhalten. Daher ist er dann freilich genötigt, auch auf seinen Vorteil zu sehen, wenn die Umstände ihm solchen anbieten. Der Erfolg ist meist bekannt und wird dem Unternehmer vom Publikum hoch angerechnet. Vom Mißerfolg hingegen spricht niemand, und der Unternehmer verhehlt ihn oft sehr sorgfältig, um seinen Kredit zu behalten.

Die Arbeiter tragen auch selbst viel zu ihrem Unglück bei. Wer einigermaßen mit Manufakturgeschäften praktisch bekannt ist, wird wissen, wie mannigfaltig dabei die Betrugsmöglichkeiten sind und wie oft es sehr schwer wird, mit den Leuten im guten auszukommen. Sie bedenken meist nicht, daß sie ohne den Unternehmer gar keine Arbeit haben würden, weil nur dessen weitverzweigter Vertrieb ihrer Arbeitsergebnisse ihnen überhaupt Arbeit verschafft. Sie denken im allgemeinen nicht an den andern Morgen, wohingegen der Unternehmer auf Jahre im voraus planen muß. Sie leben selten wirtschaftlich und legen nie etwas zurück, während der zunehmende Reichtum des Unternehmers doch notwendig gutes Wirtschaften voraussetzt und zum Grunde hat. Das lebhafte Bild, das der Verfasser der »Gedanken« vom Müßiggang und der Verschwendung des gemeinen Mannes in Ulm entwirft, ist sehr lehrreich; und wenn es, woran nicht zu zweifeln ist, auf dem Lande um Ulm ebenso hergeht, so ist darin schon eine hauptsächliche Quelle des schrumpfenden Leinwandhandels und der Einkommen in Ulm überhaupt zu sehen. Wenn der gemeine Handwerksmann und Handarbeiter durch den Fleiß eines Unternehmers eine Zeitlang genug Arbeit hat, denkt er oft, das müsse so bleiben. Er fängt an, besser zu leben, anstatt etwas für Notzeiten zurückzulegen; und was noch schlimmer ist, aus Lust am guten Leben fällt er oft in Müßiggang und arbeitet weniger. Will er diese Lebensart fortführen, so wird der Arbeitslohn und folglich die Ware zu teuer. Der Gewinn schwindet, und der Unternehmer kann und will nichts mehr riskieren und erteilt also weniger Aufträge. Die Nachbarn ein paar Meilen weiter, in diesem Falle in Memmingen und Kempten, sind fleißiger und sparsamer und ziehen so die Einkommensmöglichkeiten ab. Ich befürchte, manche der obigen Betrachtungen passen nur zu gut auf Ulm und die Gegend. Ist es da nicht sinnvoll, unter der großen Menge unnützer Predigten, die im Münster gehalten werden, monatlich eine nützliche Predigt wider den Müßiggang und die Sorglosigkeit halten zu lassen?

Der Verfasser der »Gedanken« ist übrigens, obgleich er es recht gut meint, von der wahren Beschaffenheit des Handels dieser Art schlecht unterrichtet. Er meint, daß der Bauer, der Spinner und Weber den Leinwandhändler weit eher entbehren können als dieser sie. Eigentlich kann ja keiner den andern entbehren; nur braucht nach der Verschiedenheit der Zeiten einer den andern mehr als sonst. Im Grunde kann aber der Weber und Spinner den Kaufmann, der ihm die Ware abnimmt, gar nicht entbehren, denn wie sollte er weiterarbeiten, wenn dieser ihm nicht Aufträge gäbe oder wöchentlich so viel bar abkaufte, wie er an gewissen Orten absetzen zu können glaubt? Der Verfasser der »Gedanken« ist so schlecht unterrichtet, daß er sich einbildet, der Garnpreis sei die eigentliche Basis, wonach sich der Leinwandpreis richte, und wundert sich dann, daß in Ulm der Wert der Leinwand nicht nach diesem natürlichen Maßstab, sondern nach der steigenden oder sinkenden Nachfrage gemessen wird. Ist es denn irgendwo anders, und kann es anders sein? Die Nachfrage veranlaßt die Aufträge. Fehlt jene, so fehlen auch diese, und dann kann der Garnpreis noch so hoch sein, die Leinwand wird im Preise fallen. Auch scheint dieser Schriftsteller von den speziellen Umständen des Ulmer Leinwandhandels nicht genau unterrichtet zu sein, denn er meint, durch neue Gesetze könnte der Sache abgeholfen werden. Aus einigen in den »Gedanken« erwähnten Umständen wird deutlich, daß man in Ulm von der Art, wie der Leinwandmanufaktur aufzuhelfen sei, keinen richtigen Begriff hat. Der Verfasser meint, die Leinwandhändler sollten die nötige Verbesserung des Flachsanbaus besorgen und Prämien darauf setzen. Dies ist aber offenbar eine Sache der Landwirtschaft und in Ulm die Sache des Magistrats, der die Landwirtschaft durch Patrizier verwalten läßt. Die Obrigkeit müßte die Prämien aussetzen, und die Beamten müßten den Flachsbau aufs eifrigste besorgen und sich selbst durch Reisen, Studieren und praktische Versuche die nötigen Kenntnisse für seine Verbesserung erwerben. Vom Kaufmann sind solche Kenntnisse nicht zu verlangen, und ohne Kenntnisse helfen alle Prämien nichts.

Daß der Weber von jedem Stück Leinwand, das er auf den Stuhl legt, eine Abgabe zahlen muß, ist so sehr wider alle Prinzipien des Manufakturwesens, daß man sich wundern muß, wie bei einer so drückenden Einrichtung die Ulmer Leinwandmanufaktur überhaupt bisher bestehen konnte. Es ist vollends widersinnig, daß der Arbeiter diese Abgabe leisten soll. Nun sieht man die Ursache, warum das Steueramt die Aufsicht über die Leinwandmanufaktur hat. Es ist eigentlich der Abgabe wegen! Eine Prämie sollte man eher für jedes Stück geben, das gewebt wird. Der Verfasser der »Gedanken« sagt nicht, wie groß diese Abgabe ist; auch nicht Herr Haid, der so viel Unnützes schwatzt und nur in wenigen Zeilen von der so wichtigen Leinwandmanufaktur redet. Doch sie mag so groß oder so klein sein, wie sie will: Sie ist absolut wider alle grundlegenden Prinzipien der Manufakturwissenschaft. Das erste, was man tun müßte, um den Ulmer Webern aufzuhelfen, wäre, diese widersinnige Abgabe aufzuheben.

Den Webern im Ulmer Gebiet ist es verboten, ihre Leinwand auswärts zu verkaufen, und alle noch so dringenden Bitten um freien Verkauf fanden kein Gehör. Ein solches Gesetz zeigt freilich, daß die im Rat sitzenden Leinwandhändler wohl einen ungebührlichen Einfluß haben. Dieses Gesetz kann, schon seiner Natur nach, die Industrie unmöglich fördern; noch abwegiger ist es aber, daß der Weber seine Leinwand auswärts verkaufen darf, wenn er für jedes Stück von 60 Ellen sechs Kreuzer zahlt. Dazu muß er sich noch einen Erlaubnisschein in Ulm holen, selbst wenn er zwei und mehr Meilen von Ulm entfernt wohnt. Es ist höchst unsinnig, den armen Leuten diesen Weg zuzumuten, um eine Erlaubnis zu holen, die ihnen statt dessen am Wohnort umsonst, zusammen mit einer Prämie für die Ausfuhr, gegeben werden sollte. Es kann doch dem Ulmer Staat egal sein, ob der Weber oder der Kaufmann den Staat bereichert. Was würde man sagen, wenn der König von Preußen die Treuenbrietzenschen Tuchmacher für ihre Tücher eine Abgabe wollte zahlen lassen, wenn sie sie auf den Stuhl legten, und eine weitere dafür, daß sie sie auf den Leipziger Messen verkaufen dürften, und sie noch nötigte, den Erlaubnisschein aus Beelitz oder Potsdam zu holen.

Zusätzlich hat man in Ulm eine Dunkenvisitation angeordnet, die mit größter Strenge alles, was gewebt wird, kontrolliert, damit die Abgabe gewiß geleistet und nichts auswärts verkauft werde. Nun, daß es Gott erbarme! Man unterwirft den Weber einer Abgabe auf das, was er fabriziert, man verlangt eine Abgabe für die Ware, die er dem Ausländer verkauft, und man unterwirft ihn schließlich drückenden Formalitäten, durch die er den Plagereien von Unterbeamten ausgesetzt ist. Man kann nicht zweckmäßiger verfahren, wenn man die gesamte Tuchindustrie ruinieren will. Solchen Formalien und vielleicht dem ungebührlichen Einflusse der kaufmännischen Ratsherren mag es zuzuschreiben sein, daß der schon erwähnte Schüle, als er sich 1757 in Ulm niederlassen wollte, davon abgeschreckt wurde und sich nachher nach Augsburg wandte.

Bei Ulm wird die Donau schiffbar; aber sie hilft weder den Ulmer Produkten noch den dortigen Fabrikaten, die meist zu Lande transportiert werden. Die Donau dient hauptsächlich für die nach Bayern und Österreich bestimmten Güter, welche durch Fuhrleute aus Frankreich über Straßburg, aus Italien über Augsburg und sonst zur weiteren Spedition nach Ulm kommen. Das Haus Kindervater hatte die größte Spedition für Güter und Gelder, die auf Rechnung des Kaisers aus den Niederlanden nach Wien gingen. Es fuhren sonst, solange die Donau offen war, wöchentlich drei bis sechs Schiffe von Ulm ab. Bei den jetzigen veränderten Umständen hat sich dieser wichtige Speditionshandel vermutlich auch vermindert. Auf der Donau zwischen Ulm und Regensburg sind höchstromantisch schöne Stellen. Sollte ich in meinem Leben jemals wieder die herrliche Fahrt auf der Donau nach Wien machen können, so würde ich nicht erst von Regensburg, sondern schon von Ulm abfahren, und ich rate dies jedem Reisenden, der diese so reizvolle Fahrt machen will. Zu der kleinen Industrie in Ulm gehört die Herstellung schöner Tabakspfeifenköpfe, die aus Masernholz geschnitten werden. Ferner ist die Zundermanufaktur – oder wie man in Ulm sagt, die Zundelmacherei – eine für Ulm ganz typische Industrie. Der Zunder besteht aus Lindenrinde, die gekocht, getrocknet und sodann mit feinem Schießpulver eingerieben wird. Diese so zubereitete Rinde ist viel weicher als der gewöhnliche Luntenschwamm und fängt auf den kleinsten Funken Feuer. Mir ist nicht bekannt, daß man diesen Zunder auch an anderen Orten macht; es wäre aber wohl zu wünschen. Der Leinwandzunder verdirbt eine Menge guter Lumpen, die zur Papierverarbeitung viel nützlicher gebraucht werden könnten, da Papier überall Mangelware ist. Der Zunder aus Lindenrinde, so wie der Schwammzunder, ist allemal billiger.

Die Ulmer feinen Gräupchen, hier geremmelte Gerste genannt, werden aus Gerste auf gewöhnlichen Mahlmühlen in und um Ulm gemacht und sehr weit verkauft. Das Ulmer Zuckerbrot, aus dem feinsten Dinkelmehl mit Anis vermischt, wird von den Süßbäckern, welche bloß Weizen- und Dinkelmehl verarbeiten, gebacken und teils in ganzen Broten, teils zerschnitten und geröstet weit versandt. Die Gartenfrüchte in Ulm sind von gutem Geschmack, besonders ist der dortige Spargel sehr berühmt. Die Ulmer bauen ihn auf ganzen Feldern an und verkaufen ihn auch in die nähere Umgebung.

Es gibt in Ulm zwei ansehnliche Buchhandlungen, die Stettinsche und die Wohlersche. Als ich in Ulm war, bestanden dort auch zwei Buchdruckereien, die Wagnerische und die Schuhmacherische, jene mit vier, diese mit zwei Pressen. Als Schuhmacher im Herbst 1781 starb, kaufte Herr Wagner diese Druckerei, so daß es jetzt nur noch eine gibt. Die Wagnersche Druckerei ist schon seit langem bekannt und gehört unter die vorzüglichsten Deutschlands. Der jetzige Besitzer, Herr Christian Ulrich Wagner, hat im Jahre 1765 ein Verzeichnis und Proben der in seiner Offizin befindlichen Schriften in einem Oktavbande drucken lassen, welches schon deren damalige Vollständigkeit und gute Beschaffenheit zeigt. Es ist in der Buchdruckerei ein Zögling Breitkopfs in Leipzig, der außer seinen typographischen Kenntnissen manche andere in Wissenschaften und Künsten besitzt und auch Mitglied verschiedener gelehrter Gesellschaften ist. Sein Vater, der 1750 starb, war besonders berühmt durch die in den vierziger Jahren zu Berlin im Haudenschen Verlag von dem seligen Rektor Miller in Ulm herausgegebenen lateinischen klassischen Autoren. Sie wurden in seiner Druckerei aus kleiner Nonpareille-Schrift sehr sauber gedruckt; daher gab man ihm den Namen: deutscher Elzevir .

Als ich in Ulm war, erschienen in dieser Stadt zwei Zeitungen: die Ulmische privilegierte Zeitung im Quartformat in der Schuhmacherischen Buchdruckerei und die Ulmisch-deutsche Chronik. Diese Zeitung wurde ja bekanntlich von dem wegen seines späteren Schicksals sehr berühmt gewordenen Schubart im Jahre 1774 in Augsburg angefangen und, nachdem der Druck dort verboten worden war, in Ulm im Wagnerschen Verlag fortgedruckt. Der Verfasser wurde, weil er in dieser Zeitung die Wahrheit über die Schädlichkeit des Jesuitenordens gesagt hatte, durch die Intrigen der Jesuiten in Augsburg von da verjagt und folgte bald selbst nach Ulm nach. Die Zeitung hatte einen gesucht schwülstigen Stil, welcher damals gefiel. Sie wurde mit viel platter Witzigkeit und einer Freimütigkeit geschrieben, die nahe an Ausgelassenheit grenzte. Dies verschaffte der Zeitung ungemein viele Leser, solange sie Schubart schrieb, zumal er auch eine unbeschreibliche Dreistigkeit besaß, Tatsachen und Vermutungen von neuen politischen Begebenheiten geradezu zu erdichten. Heute versuchen auf diese Weise einige politische Schriftsteller sich dadurch bei Lesern, dürftig an Verstand, in den Ruf zu setzen, ihnen stünden wer weiß wie viele geheime Korrespondenzen zu Diensten. Schubart wurde mit nicht zu entschuldigender List, oder mit nicht zu entschuldigender Unvorsichtigkeit, von einem seiner Freunde oder Scheinfreunde ins Württembergische gelockt. Wegen einiger unbesonnener Stellen in seiner Chronik hat man ihn mit beispielloser Härte zu einer langen Gefängnisstrafe auf dem Hohenasperg verurteilt. Der Verleger in Ulm setzte seine Zeitung zwar fort, aber dessen Nachfolger wurde, durch Schubarts Schicksal abgeschreckt, sehr zahm. So hatte die Zeitung, deren ganzer Wert in der schwülstigen Schreibart und in den ausgelassenen Gedanken aller Art bestand, für die Leser, denen sie vorher gefallen hatte, keinen Reiz mehr. Beide Zeitungen hörten mit dem Ende des Jahres 1781 auf zu erscheinen. Man versuchte zwar, an deren Stelle eine Ulmische privilegierte Zeitung im Oktavformat zu drucken, welche den spaßhaften Ton der Erlanger Zeitung haben sollte, aber der Versuch mißfiel dem Lesepublikum, und das Unternehmen kam nicht zustande. So hat Ulm nun gar keine Zeitung mehr. Das Ulmische Intelligenzblatt erscheint wöchentlich donnerstags in einem Umfang von einem halben Bogen schon seit vielen Jahren.

Die Zensur in Ulm wird vom Magistrat ausgeübt, und die Erlaubnis oder das Verbot des Druckes hängt dort, wie an so vielen anderen Orten, vom guten Willen oder der bösen Laune, dem Mut oder der Ängstlichkeit des Zensors ab. Besonders ängstlich ist man wegen aller Dinge, die auch nur im weitesten Sinne die Stadt und das Land zu Ulm betreffen. Herr Haid hatte einmal angefangen, im Ulmischen Kalender etwas über die Geschichte Ulms zu schreiben, aber es wurde ihm bald »gelegt«, wie sich einer von meinen Korrespondenten ausdrückt. Wer dieses Verfassers Schriften kennt, weiß, daß sie sehr zahm und harmlos sind; er kann also wohl nichts Anstößiges über die ältesten Zeiten geschrieben haben. Vermutlich aber hat man vorausgesehen, er werde in der Folge bis auf das Jahr 1548 kommen, wo Kaiser Karl V., so wie auch in Augsburg und Nürnberg, die Regierung den Patriziern verlieh, um die Einführung des Interims zu begünstigen. Man wollte vielleicht nicht, daß die damalige Veränderung ausführlich erzählt werde.

Im Jahre 1780 wollte ein einsichtsvoller Arzt in Ulm einige Bemerkungen über offenbare Mißbräuche beim Ulmer Gesundbrunnen zu Überkingen im Intelligenzblatt erscheinen lassen. Der Aufsatz, der mir zufällig in die Hände fiel, enthielt, sehr bescheiden gesagt, nützliche Wahrheiten, besonders über die Unreinlichkeit, die damals im Badehause herrschte, und daß das Mineralwasser zum Trinken durch einen kupfernen Seiher gelassen werde, wozu der Verfasser mit Recht lieber einen eisernen oder steinernen empfahl. Der Aufsatz durfte nicht gedruckt werden. Man hielt es für bedenklich, die unschuldigen Bemerkungen über das Bad in Überkingen drucken zu lassen, vermutlich um diesem Gesundbrunnen nicht einen üblen Leumund zuzuziehen. Jedoch erlaubte man, daß in Haids Beschreibung von Ulm gemeldet werden durfte, im Ulmer Gebiete sterbe auf dem Land jeder neunzehnte, ja sogar jeder fünfzehnte Mensch. Dies ist doch wohl eins der nachteiligsten Dinge, die man von der Ulmer Republik sagen kann. Das hat aber der Zensor vermutlich nicht eingesehen, sondern in seiner Unschuld gedacht, es käme so genau nicht darauf an, ob mehr oder weniger Bauern stürben. Wahrhaftig, wenn der Überkinger Brunnen auch noch so rein gehalten würde, so wird er doch die große Sterblichkeit in Ulm und auf dem Land bei Ulm nicht merklich vermindern, ja nicht einmal einen einzigen ängstlichen oder milzsüchtigen Zensor kurieren können, sei er aus Ulm oder sonst woher!

Ulm hat von jeher eine Menge Gelehrter aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten in seinen Mauern beherbergt. Zu den älteren gehört z. B. Martin Zeiller, ein Mann, der zu seiner Zeit für die Geschichte und Geographie in Deutschland viel leistete. Unter den neueren nenne ich meinen seligen Freund Abbt. Auch findet sich unter den Patriziern und Bürgern mancher Kenner und Liebhaber der Wissenschaften. Jedoch wird hin und wieder geklagt, daß die Liebe zu den Wissenschaften nicht weit verbreitet sei. Ein Reisender, der sich eine Zeitlang in Ulm aufhielt und manche Gelegenheit hatte, dortige Gesellschaften zu besuchen, versicherte mir, Kenntnisse der guten deutschen wie auch englischen und französischen Literatur finde man äußerst selten. Es gäbe sogar Leute, die sich ein Verdienst daraus machten, nichts lesen zu wollen. Man kann sich so etwas kaum vorstellen. Im Jahre 1781, als ich Ulm sah, war noch keine einzige Lesegesellschaft gegründet worden, wo man Bücher herumreicht. Es gab auch keine Leihbibliothek, die doch sonst in Deutschland schon häufig genug zu finden sind. Die Ratsbibliothek habe ich nicht gesehen. Leider wurde ein Teil davon bei einem unglücklichen Brande im Jahr 1785 vernichtet. Dieses Schicksal traf auch die Wagnersche Stiftungsbibliothek, worin alle Bücher und Traktate aufbewahrt werden, die seit 1677 in dieser Buchdruckerei gedruckt wurden. Ich sah hingegen mit Vergnügen die Kraftsche Stiftungsbibliothek.

Am Gymnasium zu Ulm haben sehr oft gelehrte Männer als Lehrer gewirkt, worunter besonders Peter Miller noch in sehr rühmlichem Andenken steht. Doch der ganze Zuschnitt des Gymnasiums ist noch zu sehr darauf angelegt, Theologen vom gewöhnlichen Schlage, nicht aber wahre Gelehrte und noch weniger brauchbare Geschäftsmänner heranzuziehen. Es würde daher eine gründliche Reform verdienen, damit es in der heutigen Zeit, wo sich so vieles geändert hat, von wirklichem Nutzen für die Erziehung gelehrter Männer sein könnte, wie sie heutzutage gebraucht werden. Dies kann geschehen, wenn in dieser Schule nicht mehr nur leere Wortgelehrsamkeit und ebenso leere scholastische Spitzfindigkeiten getrieben werden, sondern wenn man vielmehr darauf achtet, die Verstandeskräfte der Schüler zu entwickeln. Aber eine solche allgemeine Reform ist überall schwer, und besonders in einer kleinen Republik, wo man meist sehr am alten hängt. Wenn nur wenigstens ein Anfang gemacht würde! Sollten unter den Vätern der Stadt Ulm keine sein, die beherzigten, daß Sulzers Vorübungen zum Nachdenken auch für ein großes Gymnasium geschrieben wurden und ihren Gymnasiasten nützlicher sein könnten als ein unverdautes und unverdauliches Collegium exegeticum oder metaphysicum? Übrigens gibt es zwar gutgemeinte, aber unverhältnismäßig hohe Unterstützungen für die Schüler dieses Gymnasiums oder, wie sich die größeren emphatisch nennen lassen, die Studenten. Sie sind eine Verlockung, diese lateinische Schule zu besuchen, in der so viel unnützes Zeug gelehrt wird, das jeder fünfte Bürger Ulms, Student oder nicht, ohne großen Schaden entbehren könnte. Die bedürftigen Schüler der oberen Klassen bekommen wöchentlich zehn Kreuzer, die der niederen zwei, dazu bis zu drei Pfund Brot vom Hospital. So bekamen im Jahr 1777 die armen Schüler 40248 Pfund Brot. Diese armen Schüler tragen schwarze Mäntel, die anderen blaue. Die Mäntel stammen aus dem bürgerlichen Almosenkasten, denn zu jeder etwas vornehmen Leiche in Ulm wird ein neues Leichentuch über den Sarg gekauft, welches dann dem bürgerlichen Almosenkasten abgeliefert wird. Aus diesen Leichentüchern wird den armen und zuweilen auch nicht ganz armen Bürgern, wenn sie heiraten, ein schwarzes Hochzeitskleid oder ein Mantel, manchmal auch beides, geschenkt, und den Schülern macht man schwarze Mäntel daraus. Seltsam genug! Daher versuchen selbst die ärmsten Bürger, ihre Kinder ins Gymnasium zu schicken, mögen sie nun die Fähigkeit haben oder die größten Dummköpfe sein; sie werden auf alle Fälle vom Hospital ernährt, wickeln sich in die Leichentücher und können, vermöge ihrer metaphysischen Kollegien, einmal Herren werden. So gewöhnen sie sich schon früh an die niedrige Gesinnung, sich vom Hospital ernähren zu lassen, müssen dann, ob sie etwas gelernt haben oder nicht, wenn sie erwachsen sind, von ihrer Vaterstadt gefüttert werden oder auswandern oder kommen zuletzt ganz ins Hospital. So entsteht aus der besten Absicht der Vorfahren ein Mangel an Fleiß, Energie und Tatkraft.

Schlechte Lateinschulen sind freilich ein Übel, aber ein nicht ganz so großes wie schlechte deutsche Schulen, in denen nicht nur wenige zukünftige Gelehrte, sondern die ganze Masse des Volkes durch schlechten Unterricht verdorben und somit für ihr Vaterland unbrauchbar wird. In einer Reichsstadt braucht man ohnedies nur sehr wenige lateinische Gelehrte, aber man braucht Bürger aller Stände, welche früh ihren Verstand entwickelt haben, früh zu den im täglichen Leben nützlichen Kenntnissen angeleitet werden und bei welchen sehr früh die Übung des moralischen Gefühls mit vernünftigem Unterricht verbunden worden ist. Durch wohlunterrichtete, verständig erzogene und fleißige Bürger wird jeder Staat blühen, und nur durch sie kann einer verfallenen Reichsstadt wieder aufgeholfen werden. Sollte Resewitzens Buch von der Erziehung des Bürgers, sollten des Herrn von Rochow vortreffliches Schulbuch, der Katechismus der gesunden Vernunft und Kinderfreund in Schwaben und Franken ganz unbekannt sein? Gewiß nicht. Wenn sie aber einem Ratsherrn von Nürnberg, Augsburg oder Ulm in die Hände fielen, dem die deutschen Schulen seiner Vaterstadt anvertraut sind, – muß ihm nicht das Herz bluten, wenn er die Beschaffenheit dieser Schulen gegen die vernünftigen und durch die Erfahrung geprüften Forderungen jener Bücher hält? Wie würden sich die armen Schulkinder in Nürnberg, Augsburg, Ulm und in so vielen anderen Städten freuen, wenn sie einmal anstatt der trübseligen Schulbücher, mit denen sie geplagt werden, und anstatt des seelenlosen Wissens, das man unter beständigem Poltern in sie hineinbläuen will, nun Rochows Kinderfreund in die Hände bekämen und ihren Verstand danach ausbilden dürften! Besonders aber wäre es wichtig, ein Seminar für Schullehrer anzulegen, wo sie die Rochowsche Methode gründlich studieren könnten, damit sie wissen, wie sie die Jugend unterweisen sollen, so daß der Unterricht für das künftige Leben nützlich ist. Der König von Dänemark ließ den Herrn Prof. Sevel reisen, um alle Schulen und Schulmethoden kennenzulernen. Der Herr Kammerherr von Buchwald in Jütland schickte einen Lehrer nach Rekahn, damit er die dort praktizierte Methode erlerne und sie auf seinen Gütern in Jütland einführe. Sollte dieses Beispiel eines edlen, patriotischen Privatmanns den Magistrat einer Reichsstadt nicht bewegen können, den Unterricht in ihrer Stadt zu verbessern?

Nirgends wäre wohl auch eine gut eingerichtete Realschule zweckmäßiger als in einer Reichsstadt, die außerdem noch wichtige Manufakturen hat. Sollte es da nicht doppelt notwendig erscheinen, mit jeder Schule auch zugleich eine Industrieschule zu verknüpfen? Wagemanns vortreffliche Schriften über die Industrieschulen können im fränkischen und schwäbischen Kreise doch nicht ganz unbekannt sein. Fällt es denn niemandem ein, daß in Ulm, wo soviel Tuch gebraucht wird, es sehr verdienstvoll und vernünftig wäre, die Kinder beiderlei Geschlechts von früher Jugend an in den Schulen zum Spinnen und zu anderen im gemeinen Leben nützlichen Arbeiten anzuhalten? Sollen denn die armen Kinder ewig in den Schulen nur lernen, was sie vergessen, sobald sie draußen sind, und nie das lernen und praktisch üben, was sie zeitlebens brauchen? Man fange das Werk nur einmal ernsthaft an, so wird man bald den Nutzen sehen. Besonders aber gehe man schrittweise vor und mache sich nicht selbst dadurch zu viel Schwierigkeiten, daß man gleich anfangs allzuweit ausholt. Der edle Wagemann fing seine Industrieschule mit sechs Kindern an, und in ein paar Jahren hatte er 200. Man könnte z.B. in einem Teil des großen, weitläufigen Hospitals in Ulm, dem es weder an Raum noch an Einkünften fehlt, Industrieschulen einrichten. Man wende ja nicht ein, das gehöre nicht zur Stiftung eines Armenhauses; gesunde Vernunft und Erfahrung beweisen das Gegenteil. Warum ist denn im Waisenhaus zu Ludwigsburg, wenige Meilen von Ulm entfernt, eine sehr gute Industrieschule, ja sogar eine Art Manufaktur? Man muß in Ulm nur wollen, dann wird man auch können. Es wäre ein wahrer Segen für die Nachkommen; denn die Kinder, die in den Industrieschulen zum Fleiße erzogen worden sind, werden als Männer nicht ins Hospital kommen, höchstens wenn sie ganz verarmten. Es fielen dann dem Almosenkasten nicht, wie jetzt, so viele unvermögende und faule Bürger zur Last. Sollte nicht wenigstens das Waisenhaus, in dem fast 140 arme Kinder ernährt werden, eine Industrieschule haben? Diese würde ihnen nützlicher sein als das gedankenlose Beten für Dinge, von deren Zweck und Ausgang sie nichts wissen, womit sie sich bis jetzt immer noch eine Sparbüchse zusammenbeten. Die Waisenkinder haben ein Einkommen, das aus dem größten Aberglauben fließt. Wenn jemand in Ulm etwas Wichtiges vorhat, z.B. wenn die Schiffer auf der Donau abfahren, wenn jemand ein Haus bauen, kaufen oder verkaufen, eine Frau nehmen oder ein Kind verheiraten will, so geht er ins Waisenhaus und läßt die Kinder um den guten Ausgang seines Unternehmens beten. Da stellt sich dann der Waisenvater in einem schwarzen Rock und Predigerkragen hin und sagt, so gut es ihm einfallen will, ein Gebet für den Fortgang des den Waisenkindern bezahlten Vorfalls her, und die Kinder plärren es gedankenlos aus vollem Halse nach. Das erhaltene Geld wird unter alle Kinder verteilt, ihnen aber nicht gegeben, sondern für jedes in einer Sparbüchse gesammelt, bis sie einmal das Waisenhaus verlassen. Wenigstens 1781 geschah dies seelenlose Gebet der Waisenkinder noch wöchentlich einige Mal, ja bisweilen täglich zwei- bis dreimal. Es ist immerhin ein wenig besser als ehemals in Wien, wo die Erben die reichen Väter und Vettern, die ihnen allzu lange zu leben schienen, im Klagbaume von alten Weibern totbeten ließen.

Wenn es mit den Schulen in der Stadt Ulm so schlecht aussieht, so kann man sich leicht vorstellen, daß es mit den Schulen auf dem Lande noch schlechter aussehen muß. Da wäre Hilfe noch nötiger, denn die zweckmäßige Entwicklung der Verstandeskräfte des Bauern und gemeinen Mannes überhaupt, die den größten und in mancher Hinsicht wertvollsten Teil eines Volkes ausmachen, gibt einem Staat neuen Schwung und Tatkraft; sie bringt den Menschen aus dem Pflanzenleben heraus und hat den vorteilhaftesten Einfluß auf seine Gesundheit, auf bessere Betreibung seiner Geschäfte, folglich auf seinen vermehrten Wohlstand und somit auch auf die Vermehrung der Bevölkerung und der Einkünfte eines Staates, sei er groß oder klein.

Ich habe schon hin und wieder einiges von den sonderbaren Sitten und Gewohnheiten in Ulm berichtet. Ulm ist, wie gesagt, eine Reichsstadt, und das heißt, daß, obgleich dort eine Menge verständiger, wackerer Leute wohnen, die zum Teil auch genug von der Welt gesehen haben, ein gewisses steifes Zeremoniell vorherrscht, welches trotz des natürlichen, gutmütigen Frohsinns der Einwohner nie zu übersehen ist. Der Unterschied zwischen Patriziern und Bürgern oder zwischen den Ratsherren und den Bürgern ist für alle Lebensbereiche in dieser Republik sehr einschneidend. Bei einer Gesellschaft wird z.B. an der Tafel jedem, seinem Rang entsprechend, ein Platz zugewiesen. Auch in der Anrede in Briefen wird genau nach dem Rang unterschieden. Die drei Bürgermeister und zwei sogenannte Alterherren werden als Wohlgeborene Herrlichkeiten betitelt, die Ratsherren dagegen als Hoch- und Wohlweise. Ein Bürger, der ein Handwerker ist, ist ein Ehrbarer, ein Kaufmann ein Edler und Bester. Erwirbt aber ein Sohn eines Ehrbaren oder eines Edlen und Besten einen akademischen Grad, so wird er augenblicklich Hochedelgeboren tituliert, als ob der akademische Grad etwas an seiner Geburt geändert hätte. Wohlgeboren, ein Prädikat, das im nördlichen Deutschland nunmehr fast jeder Mensch bekommt, der Manschetten trägt, gebührt in Ulm bloß den Patriziern, und wehe dem Nichtpatrizier, der sich auch nur auf einem Brief so nennen wollte. In Nürnberg hat man das Prädikat »ehrbar« und »best«, auch »ehrbar und wohlvornehm« und »ehrbar und vornehm«, wodurch eine Rangfolge entsteht, die sich bis auf die Bezahlung der Ballenbinder bei den Leichenbegängnissen auswirkt. »Ehrbar und wohlvornehm« ist dabei elf Kreuzer vornehmer als »ehrbar und vornehm«. Ein Ehrbarer und Wohlvornehmer darf auch noch Aufwärter neben den Kutschen hergehen lassen, was ein Ehrbarer und Vornehmer darf.

Bei Anzeigen von Hochzeiten, Kindstaufen und Todesfällen sind die Förmlichkeiten durch undenkliche Gewohnheit genau vorgeschrieben und werden auch genau beachtet. Die Ulmer Dienstmädchen, die alle diese Anzeigen zu besorgen haben – denn nur in sehr wenigen Häusern hat man männliche Bediente –, tragen sogar zu jeder Art von Anzeige eine besondere Kleidung, so daß man es ihnen auf der Straße gleich ansehen kann, was für ein Kompliment sie anbringen wollen. Ein jedes Dienstmädchen zu Ulm muß daher eine so vielfältige Garderobe haben wie wohl sonst nirgends in Europa. Im Hause eines Freundes veranlaßte man uns zu Gefallen, daß die Mädchen in allen diesen Trachten gekleidet erschienen, damit wir sie sehen konnten. Jedes Ulmer Mädchen muß besitzen: erstens ein Mieder aus farbigem Zeug, z. B. grauem Barakan, zuweilen gar mit silbernen Tressen besetzt, über einem ziemlich unförmigen, vorn spitzen Schnürleibchen; dazu trägt das Mädchen um den Hals einen großen, breiten, runden Kragen, ebenso wie ihn die Prediger in Augsburg tragen, der in Ulm Kröß, d.h. Krause oder Gekröse, genannt wird. Diese feierliche Tracht zieht das Mädchen an, wenn es eine Entbindung ansagt, ein Hochzeitsgeschenk überbringt oder sonst irgendein fröhliches Kompliment zu machen hat. Zweitens benötigt es ein schwarzes Kleid nebst einem Gürtel und dem großen, breiten Kröß. Dies zieht sie an, wenn sie in die Kirche geht; dazu trägt sie eine Art breiter Kopfhaube aus Leinwand, in Ulm ein Schleier genannt, vorn mit einer Schnebbe. Drittens, wenn sie selbst trauert oder für ihre Herrschaft eine Leiche ansagt, zieht sie das genannte schwarze Kleid mit dem Schleier und Kröß an, hat dazu aber noch ein langes Vortuch aus Leinwand vorgebunden, das über den Mund und beinahe bis über die Nase reicht und bis über die Knie hinabhängt. Dieser Trauerlappen heißt Mummel, bei den Augsburger Mädchen Vorbinder. Viertens hat das Mädchen zu gewöhnlichem Gebrauch einen Ohrlappen, fast Aurlappen ausgesprochen. Dieser ist aus schwarzem Samt und hinten offen, so daß die Haare gewunden und mit einer Nadel zusammengesteckt werden. Fünftens gehört zur Garderobe eine Judenhaube: Sie ist bunt und etwas größer als der Aurlappen und bedeckt auch den Hinterkopf, hat aber sonst die gleiche Form wie die schwäbischen Hauben in Augsburg. Zu den feierlichen Gelegenheiten, und besonders im Winter, kommt noch sechstens eine Bockelhaube. Diese hat keinen so großen Ausschnitt auf der Stirn wie die Judenhaube, dafür oft eine ganz goldene Mütze, und wird über einer leinenen, mit Spitzen besetzten Kopfbinde getragen.

Wenn nun z.B. eine Frau entbunden hat, so ist schon vorher ein Verzeichnis aller Personen, denen der Vorfall angezeigt werden soll, gemacht, sauber abgeschrieben und in Goldpapier geheftet worden. Sobald die Frau entbunden hat, zieht die Magd ihren bunten oder mit Silber besetzten Staat an und legt ihr Kröß um den Hals. Dann wird ihr ein Student zur Begleitung gegeben, der das goldene Verzeichnis in der Hand trägt. Bei geringen Leuten fällt der Student weg, weil er bezahlt werden muß. So wandern sie nach Anweisung des Verzeichnisses von Haus zu Haus. Der Student klingelt, denn gewöhnlich sind die Haustüren verschlossen. Dann wird entweder die Tür geöffnet, oder weil man schon weiß, wer es ist, kommt nur jemand an ein geöffnetes Fenster, und die Magd sagt nun auf der Straße, mit dem Gesicht zum Fenster, in dem breiten schwäbischen Dialekt ihren Spruch auf: Herr unn Frau Soundso loßt anzoige, daß sie Gott erlößt unn erfreuut hot mit ein'm jungen Soh' (oder Tochter). Darauf wird der Magd ein Trinkgeld von vier bis 24 Kreuzer gereicht oder aus dem Fenster in einem Papierchen zugeworfen. Man sieht, kinderlose Paare haben viele Ausgaben in Ulm, ohne das Vergnügen zu haben, andere in Kosten zu setzen.

Wird ein Todesfall angesagt, so zieht die Magd ihr schwarzes Kleid an, tut Schleier, Kröß und Mummel hinzu und sagt ihren Spruch auf die beschriebene Art vor jedem angewiesenen Hause her. Aber für solche Trauerpost wird kein Trinkgeld bezahlt. Nach einigen Tagen kommt die vermummelte Magd mit dem Studenten nochmals, um den Tag anzusagen, an dem die Leiche beerdigt werden soll; die Stunde ist bekannt, weil alle Leichen um ein Uhr begraben werden, d.h. nach dem Mittagessen. Am folgenden Tag kommt auch noch der Hochzeitlader, um das Gefolge zur Leiche zu bitten. Keine dieser Anzeigen wird mit einem Trinkgeld belohnt. Die Hochzeitlader sind von der Obrigkeit bestellte Leute, deren Gewerbe es ist, zu Hochzeiten und Beerdigungen zu bitten und dabei alles in die gehörige Ordnung zu bringen. Der vornehmste unter ihnen, dessen sich nur die vornehmen Leute bedienen, führt den Titel: der Reiche-Hochzeitlader. Das mühsamste und wichtigste Geschäft hat der Hochzeitlader bei Leichen, besonders bei denen, die von nicht ganz geringem Stande sind. Es versteht sich, daß er dann in tiefer Trauer erscheint.

Ein großes Leichenbegängnis in Ulm hat etwas so ganz Eigenes, daß ich meinen Lesern näher beschreiben will, was dabei üblich ist. Zu einer jeden Leiche, ohne Unterschied, gehören sechs leidtragende Männer, sechs leidtragende Frauenzimmer, worunter auch unverheiratete sein können, beide aus den nächsten Anverwandten gewählt, und sechs leidtragende Mägde. Die sechs leidtragenden Männer sind schwarz mit langen Mänteln gekleidet, haben einen abgeklappten Hut aufgesetzt, an dem vorn noch ein kleiner Lappen schwarzes Tuch angenäht ist, der über die Augen hängt, so daß der Träger nur vor seine Füße sehen kann. Die Männer stellen sich am Beerdigungstag gegen ein Uhr in einem besonderen Zimmer in einer Reihe ganz steif und fest nebeneinander auf. In einem anderen Zimmer setzen sich zu gleicher Zeit die sechs leidtragenden Frauen in schwarzer, tiefer Trauerkleidung ebenfalls in einer Reihe dicht nebeneinander nieder. Ebenso sitzen auf einer Bank im Hausflur die sechs leidtragenden Mägde, alle, wie man sich denken kann, mit der Mummel unter der Nase. Der Hochzeitlader, im langen Trauermantel, hält sich an der Türe des Hauses auf, um jeden Hereinkommenden zu beobachten und ihn entweder in seinem Verzeichnis anzustreichen, damit er beim Abrufen weiß, wer da ist, oder, da es üblich ist, daß Bekannte oder, bei vornehmen Leichen, Klienten und Untergebene auch ungeladen zur Leiche kommen, um jeden Nachkommenden seinem Rang gemäß in das Verzeichnis einzutragen. Denn beim Leichenzug ist alles aufs strengste nach dem Rang geordnet. Wie aufmerksam der ehrliche Mann dabei sein und wie geschwind er schreiben und in größter Eile überlegen muß, damit er niemanden an seinem Rang zu viel oder zu wenig tue, läßt sich leicht ermessen. Schwerlich wird ein anderer Mensch in Europa oder in Schwaben bei der Ausübung seines Amtes einen so harten Tag und bei einer geringfügigen Sache so viel Verantwortung haben, wie ein Hochzeitlader in Ulm beim Ordnen des Begleitzugs einer vornehmen Leiche, denn dabei ist so ziemlich ganz Ulm anwesend. So, wie von ein Uhr an die zur Begleitung kommenden Herren, alle in schwarzen Kleidern und Mänteln, nacheinander anlangen, werden sie in das Zimmer geführt, wo die sechs Leidtragenden stehen. Jeder gibt dem ersten Leidtragenden zuerst und so fort den anderen fünfen jedem die Hand und murmelt dazu bei jedem eine Kondolenz oder etwas Kondolenzähnliches, dreht sich um und geht in ein anderes Zimmer oder wo sich sonst der Gelegenheit des Hauses nach die männliche Leichenbegleitung versammelt.

Die zur Leichenbegleitung ankommenden, schwarz gekleideten Frauen gehen auf gleiche Art zu den leidtragenden sitzenden Frauenzimmern und geben gleichfalls unter gehörigem Murmeln jeder die Hand. Aber in diesem Zimmer sind Stühle und Bänke aufgestellt, denn die Ulmer Würde erlaubt es doch, daß die leichenbegleitenden Frauen den leidtragenden Frauenzimmern Gesellschaft leisten und dabei etwas schwatzen; doch, versteht sich, sehr traurig. Auch Frauen geringeren Standes, geladen oder nicht, statten bei Personen höheren Ranges auf diese Art den treuherzigen Händedruck nebst gemurmelter Kondolenz ab. Nur bei sehr vornehmen Leichen trauen sich die ganz gemeinen Bürgerfrauen nicht in das Zimmer der leidtragenden Damen, sondern bleiben auf dem Hausflur bei den sechs leidtragenden Mägden. Diese sitzen auf ihrer Bank, bis unter die Nase und bis unter die Knie eingemummelt, und nehmen von ihren ebenso eingemummelten Standesgenossinnen das Patschhändchen und das bißchen Kondolenzklatscherei an. Denn aus jedem Hause, wo etwa die Herrschaft nicht kommen kann oder will, schickt sie wenigstens eine eingemummelte Magd; und aus manchem Hause, das dem Verstorbenen nahesteht oder es recht gut mit ihm meint, kommen Herr, Frau und Magd. Man kann sich leicht vorstellen, daß es auf dem Hausflur und wohl auch in den Zimmern sehr eng hergehen muß und daß dem Leichenlader unter seiner großen Perücke und dem langen Trauermantel ziemlich heiß werden kann.

Ein Leichenzug in Ulm ist gewiß übel dran, wenn am Tage der Beerdigung einer vornehmen Leiche der Vormittag schwül ist, aber gnade Gott, wenn ein starker und anhaltender Platzregen niedergeht, etwa eine halbe Stunde bevor die Leiche weggetragen werden soll, wenn sich der Leichenzug ordnet. Ist es soweit, bewegen sich die sechs leidtragenden Mannspersonen von dem Platz, wo sie so lange reglos standen, und gehen bedachtsam, damit sie wegen des schwarzen Lappens vor der Nase nicht fallen, langsam und traurig, einer nach dem anderen, ohne geführt zu werden, zur Haustür hinaus. Dicht neben der Tür stellen sie sich, ihrem Rang entsprechend, auf. Dann ruft der Leichenlader mit erhabener Stimme jeden Teilnehmer des Leichenzuges, seinem Namen und Titel und folglich seinem Rang gemäß, auf. Jeder Aufgerufene begibt sich zur Tür hinaus, verneigt sich vor jedem der Leidtragenden und schließt sich dann an sie an. So geht es der Reihe nach, so daß jeder auf die Straße Heraustretende sich vor den schon da Stehenden verneigt und so die zuletzt kommenden, geringen Personen weit zu gehen und sich viel zu verneigen haben, die Vornehmen aber lange stehen und, wenn sie höflich sind, sich auch viel verneigen müssen. Bei den vornehmen Leichen wird die Reihe fast endlos. Regen oder Hagel oder Sonnenschein mag kommen, alle müssen so lange stehen, bis alle Männer abgerufen sind. Währenddessen hat ein Chor singender Schüler ununterbrochen Sterbelieder gesungen, oder bei vornehmen Leichen wohl auch geistliche Motetten und Arien. Da nicht gerade leise gesungen wird, muß der arme Leichenlader noch lauter rufen, als die Schüler singen, damit ihn jeder versteht. Jeden ruft er seinem Rang nach auf, bis auf die Bürger, die Zunftmeister sind; sie werden nach der Dauer ihrer Amtszeit geordnet. Sind noch andere Bürger da, so sagt er ermüdet und heiser: »Die Herren werden so gut sein, sich wegen der Begleitung zu vergleichen.« Diese komplimentieren sich dann gegenseitig selbst, jeder nach seinem etwaigen Range, zur Tür hinaus und an allen schon Stehenden vorbei. Unterdessen hat sich der Leichenlader ins Gynäzeum begeben und ruft nun alle begleitenden Frauen nach dem Range ihrer Männer ab und ordnet sie im Zimmer. Sobald der letzte leichenbegleitende Mann aus der Tür getreten ist und seinen Platz eingenommen hat, setzt sich zuerst der singende Chor, der bei den vornehmsten Leichen 60 Knaben stark ist, bei den geringeren weniger, mindestens aber 20, in Bewegung. Darauf folgt der Sarg, den bei Leichen mittleren Standes 24 Kandidaten und Studenten tragen, die sich je zu zwölft ablösen. Sehr vornehme Leichen werden von einer Art Ratsdienern oder Kanzleiboten getragen, doch nicht in roten Mänteln wie in Nürnberg oder in spanischer Tracht wie in Hamburg. Bei geringen bürgerlichen Leichen tragen wohl auch Bürger oder Handwerksgesellen.

Nun sollte man meinen, die Reihe von Männern, die so lange auf der Straße gestanden und des Tages Hitze, Kälte oder Nässe ertragen hat, würde zuerst dem Sarg folgen. Keineswegs! Demselben folgen nun unverzüglich die eingemummelten Mägde, voran die sechs leidtragenden, zwei und zwei, und so alle anderen Mägde nebst den gemeinen Bürgerfrauen. Darauf folgen alle Schüler der sieben Klassen des Gymnasiums, je zwei und zwei; darauf die Studenten in schwarzen Kleidern und langen Trauermänteln. Nun erst setzt sich die auf der Straße stehende männliche Begleitung in Bewegung: die sechs Leidtragenden zuerst, einer hinter dem andern, unbegleitet, darauf die anderen, zwei und zwei, nach ihrem Range. Dahinter folgen die sechs leidtragenden Frauen, zwei und zwei, und darauf die begleitenden Frauen nach dem Range ihrer Männer, zwei und zwei. Aber das Beste ist, daß dieser ganze lange Konvoi gar nicht bis zum Grabe geht. Nur die Mägde nebst den Schülern und Studenten gehen mit der Leiche zum Tor hinaus bis auf den Gottesacker. Wenn die Leiche nicht von ganz geringem Stande ist, trägt man sie erst durch das Münster. Ist es aber die Leiche eines Religionsherrn, d.h. eines Ratsherrn vom Konsistorium, die als Kirchenpfleger eingesetzt sind, so geht der Zug erst durch die Barfüßer- oder Garnisonskirche, wo die Leichenpredigten gehalten werden, und dann erst durch das Münster nach dem Gottesacker. Die begleitenden Herren und Frauen, die Leidtragenden nicht ausgeschlossen, kümmern sich um den Zug zum Gottesacker weiter gar nicht. Sie folgen der Leiche nur etwa eine oder zwei Straßen lang, je nachdem ob es ihr Weg zur Garnisonskirche und der darin zu haltenden Leichenpredigt erfordert. Sobald es sich schickt, oder auch vorher, gehen viele ab, welche die Leichenpredigt nicht hören mögen. Bloß bei geringen Leichen, denen keine Leichenpredigt gehalten wird, folgt der Begleitzug der Leidtragenden ganz bis zur Grabstätte.

So haben Ulmer Bürger oder Bürgerinnen, wenn sie auch wer weiß wie vielen Leichenbegängnissen beiwohnten, sofern sie nicht einer Leiche ohne Leichenpredigt gefolgt sind, noch nie eine Leiche begraben sehen. Ist die Leichenpredigt vorbei, so kehrt der ganze Zug derjenigen, die sie angehört haben, wieder zum Trauerhaus zurück. Die sechs leidtragenden Männer, einer hinter dem andern, führen den Zug an, und alle anderen folgen nach Rang und Würden paarweise. Im Trauerhaus stellen sich die leidtragenden sechs Männer in ihrem Zimmer in die gehörige Reihe, und die sechs leidtragenden Frauen setzen sich in gleicher Weise in ihren Raum. Nun erfolgt von jedem Begleitenden für jeden Leidtragenden abermals das Händedrücken und Kondolenzmurmeln, so, wie die Zeremonie ihren Anfang genommen hatte. Gleiches geschieht bei den Frauen, und schließlich geht jeder friedlich und müde nach Hause.

Meine Leser werden verzeihen, daß ich die Ulmer Art der vornehmen Leichenbegleitung, einer Feierlichkeit, bei der sich, den jährlichen Schwörtag ausgenommen, gewiß die meisten Menschen versammeln, so umständlich beschrieben habe. Sie mögen sich damit trösten, daß ein solcher Leichenzug noch viel länger ist als die Beschreibung. Es schien mir die Form dieser Feierlichkeit original und einzig in ihrer Art, ohne daß ich irgendeine Reichsstadt bevorzugen will. Zwischen Nürnberg und Ulm scheint mir der wesentliche Unterschied darin zu liegen, daß die Herren von Nürnberg die Feierlichkeit einer Leichenbegleitung hauptsächlich durch stärkere Bezahlung, die Herren in Ulm hingegen bloß durch einen langen Zug von ansehnlichen Personen zu verherrlichen suchen. Ich würde der letzteren Art, als einfacher und dem Hauswesen weniger schädlich, den Vorzug geben.

In Ulm wird die tiefe Trauer sehr lange getragen, und alle Hausgenossen, die geringsten nicht ausgenommen, müssen Trauerkleider erhalten. Im Jahre 1788 vereinigte sich eine Gesellschaft vernünftiger Patrioten durch eine gedruckte Anzeige. Sie wollten die lange Trauerzeit vermindern und nicht in schwarzen Kleidern trauern, sondern die Männer nur mit einem Flor um den Arm und die Frauen mit einem schwarzen Band am Kopfputz. Ich sah in den mitabgedruckten Unterschriften von Leuten aller Stände besonders auch die Herren Professoren Kern und Miller aufgeführt, aber keinen Patrizier. Ich hoffe aber, es werden inzwischen mehrere einer so lobenswerten Vereinigung beigetreten sein.

Es fällt einem Fremden in Ulm gleich auf, daß die innere Beschaffenheit der Zimmer und ihre Möblierung so einfach ist, daß man sie fast schlecht nennen möchte. Auch bei ganz redlichen Leuten, bei Gelehrten usw., sah ich hölzerne Schemel und Holzbänke in den Zimmern, höchstens einen oder zwei Stühle von verschiedener Art. Dabei sieht man aber allenthalben so viel ruhige und frohe Gesichter, daß man bald merkt, der anscheinende Mangel an Bequemlichkeiten entsteht nicht aus Bedürftigkeit, sondern ist bloß Landessitte. Es zeigt sich in der ganzen häuslichen Einrichtung deutlich, daß alles da ist, was sie brauchen, eben weil sie so wenig nötig haben. In jedem Gesicht sieht man so sehr die Zufriedenheit, daß man hier anschaulich empfindet, der Mensch braucht wenig, um glücklich zu sein, wenn er sich nur selbst keine künstlichen Bedürfnisse schafft.

Der Charakter der Schwaben ist oft auf die unbilligste Art mißgedeutet worden. In Wien nennt der Pöbel jeden Fremden aus Süddeutschland einen Schwaben – wie ehemals der Pöbel in England jeden Fremden einen Franzosen – und stellt sich darunter einen armseligen, hilflosen Menschen vor, der zur Kaiserstadt kommen müsse, um gebackene Hähnchen zu sehen. Schon sehr alt und weit verbreitet ist die Behauptung, die Schwaben seien dumm. Im Württembergischen Repetitorium wird zugegeben, daß die Schwaben im Ruf einer sehr späten Geistesreife, einer Ungeschliffenheit der äußeren Sitten und einer gewissen Plumpheit in den Fertigkeiten des Leibes und der Seele stehen. Es wäre sehr interessant, historisch zu untersuchen, wann diese Beschuldigung ihren Anfang genommen hat und wie die Schwaben wohl zu einer Nachrede gekommen sind, die durch nichts in ihrem jetzigen Charakter gerechtfertigt wird. Wenigstens kann ich, soweit meine Kenntnis der Geschichte reicht, keine Veranlassung dafür finden. Daß die Schwaben eigentlich plumper oder ungeschliffener in ihren Sitten oder weniger anstellig sein sollten, oder daß bei ihnen Verstandeskräfte später reiften als bei anderen Deutschen, z.B. bei ihren Nachbarn, den Bayern und Franken, kann man niemals behaupten. Man findet vielmehr unter den Schwaben viele scharfsinnige Köpfe, die ihre Denkkraft zum Teil unter sehr ungünstigen Umständen entwickelt haben. Die Schwaben zeichnen sich im allgemeinen, soviel ich bemerken konnte, bloß durch eine unter dem gemeinen Manne weit verbreitete Gemächlichkeit, Zufriedenheit und Ruhe aus. Sie haben eine gewisse Treuherzigkeit und ein unbefangenes Wesen an sich, ohne Arglist, die sie auch bei andern nicht vermuten. Dies zeigt sich in Schwaben mehr als in den anderen deutschen Provinzen, besonders beim weiblichen Geschlecht in einer gewissen Naivität. Wegen dieses gutherzigen, zuvorkommenden Wesens, das sich selbst preisgibt, wenn der andere sich zurückhält, hat man wohl öfters bemerkt, daß ein Schwabe seinen Vorteil nicht genau wahrnahm oder aber einem anderen einen Vorteil überließ, den er sich hätte selbst sichern können. Daher mag es wohl gekommen sein, daß man die Schwaben als dumm bezeichnet hat. Denn sonst ist diese Nation von der Natur gar nicht mit geringeren Verstandeskräften versehen als andere, sondern hat vielmehr eine Menge vortrefflicher Denker aufzuweisen. Aus der auffallenden Gutherzigkeit des einfachen Schwaben erkläre ich mir auch das allgemein bekannte Sprichwort: Die Schwaben werden erst im fünfzigsten Jahre klug. Damit ist nämlich nicht eine spätere Entwicklung der Verstandeskräfte gemeint, sondern deren späte Anwendung im täglichen Leben. Ein Schwabe, der sehr oft durch seine angeborene Gutherzigkeit von anderen überlistet worden ist, wird endlich durch Erfahrung aufmerksam genug, um sich durch seinen angeborenen Verstand vor der Schlauheit anderer zu hüten. Ich finde keine andere Erklärung; denn daß an sich die Geisteskräfte in Schwaben später reiften als an anderen Orten, ist eine ganz und gar grundlose Behauptung. Verschiedene Schriftsteller erklären, daß im Schwäbischen Kreis und seiner sonderbaren Mischung von kleinen Herrschaften, Prälaturen, Reichsstädten usw. viel von der mittelalterlichen confusione divinitus consecrata, die man für das Hauptmerkmal der deutschen Reichsverfassung hält, übrig sei. Es kann sein. Aber der unbefangene, zutrauliche Charakter der Schwaben gibt auch ein lebhaftes Bild der ehemals so allgemein gepriesenen deutschen Treue und Redlichkeit, wovon auch Ulm seinen Anteil hat.

Weckherlin läßt den Frauenzimmern in Ulm Gerechtigkeit widerfahren. Er nennt sie die Lesbierinnen unter den Schwäbinnen und erklärt diese Bezeichnung in seinem etwas poetischen Stil meines Erachtens richtig und treffend: »Ein schlanker, harmonischer Wuchs, der nicht immer ein Merkmal schwäbischer Nymphen ist, eine leichte und gefällige Wendung und eine gewisse Zärtlichkeit der Seele unterscheiden die Ulmerinnen von den anderen schwäbischen Frauenzimmern. Diese Eigenschaften sind es, die dem Verfasser des Siegwarts, dem Lieblingsmaler des schönen Geschlechts, der hier wohnt, die Züge zum Bilde der Marianne und der Therese dargeboten haben.« Und ich setze hinzu: Er fand diese Züge in seiner eigenen liebenswürdigen Gattin. Fest steht: Man findet bei den Schwäbinnen, besonders bei den Ulmerinnen, ein schönes Blut, etwas, das man in den übrigen deutschsprachigen Ländern nirgends so weit verbreitet findet wie im Elsaß und in Schwaben, höchstens noch in Österreich. Die Schönheit der Frauenzimmer jedes dieser Länder hat einen besonderen, eigentümlichen Charakter. Bestimmen zu wollen, worin dieser besteht und besonders welche Schönheit den Vorzug vor der anderen hat, würde sehr mißlich sein, und ich wage es nicht. Non nostrum est tantas componere lites!

Niemand wird glauben, daß alle weiblichen Personen in Schwaben schön sind, so wenig wie im Elsaß oder in Österreich. Jedoch darf ich behaupten, wenn eine Schwäbin schön ist, so ist sie reizend. Man wird selten ein schönes und zugleich bedeutungsloses Gesicht finden. Dazu kommt, daß der Hauptcharakter der Schwäbinnen, besonders der Ulmerinnen, Zufriedenheit und Ruhe ist, begleitet von einem sanften und holden Wesen. Im Gesicht und in den Augen, besonders den blauen, ist gewöhnlich etwas Anmutiges, Unschuldiges und Anmaßungsloses, das sich besser empfinden als beschreiben läßt. Mir schien, als wären mir in Ulm mehr feinere weibliche Physiognomien aus dem Mittelstand vorgekommen als anderswo. Das Prunklose und Einfache des Anzugs und die Häuslichkeit der Sitten, was sich in Ulm noch mehr findet als in Augsburg und anderen schwäbischen Städten, unterstreicht noch diesen Charakter. Ich sah in Ulm ein junges, schönes Weib, gekleidet in simple, weiße Leinwand mit einer Schürze aus buntbedrucktem Kattun, um ihr schönes, jugendliches Gesicht ein sehr einfaches Häubchen, das, wenn sie ausging, durch einen schlichten Hut ersetzt wurde. Sie verriet bei der ersten Unterhaltung feine Empfindung und Beurteilung, doch ohne alle Anmaßung. Dabei erschien sie mir verehrungswürdig, als ich sie auf einem Schemel an einem ganz schlechten Tische sitzend, mit häuslicher Näharbeit beschäftigt, antraf. Ich will nicht sagen, daß ich diesen hohen Charakter der weiblichen schönen Einfalt überall gefunden hätte. Ich sah freilich auch genug Frauen, bei denen die schwäbische Naivität in Niaiserie überging, und manche gute breite Gesichter schwäbischer Hausfrauen, die zu zanken verstanden, wenn's im Haus nicht ging, wie es gehen sollte, und die, wenn sie den Fremden loben, ihre gutgemeinten Komplimente beinahe im Ton des Zanks ganz gutmütig herausschrien. Wahr ist auch, daß die Häßlichkeit der Gesichter in Schwaben einen ganz eigenen Charakter hat, der sich, soviel ich mich erinnern kann, in anderen deutschen Ländern nicht findet. Es ist etwas Breites, etwas mehr Schlappes als Verzogenes in häßlichen schwäbischen Gesichtern. Aber nirgends habe ich, soweit ich mich erinnere, in breiten, runzligen, braunen Gesichtern so viel heitere Augen bemerkt. Es ist auch nicht zu leugnen, daß die schwäbischen, auf den Seiten zugespitzten schwarzen Hauben, die die Frauen des Mittelstands tragen, gewöhnlich das Gesicht ziemlich verdecken. Man trägt auch hier die harnischgleichen, mit silbernen Ketten – in Ulm Preisketten – geschnürten Mieder wie in Augsburg; aber es schien mir fast, als ob die Ulmerinnen diesem Mieder schon eine leichtere, weniger steife Form gegeben hätten, so daß es ihren schönen Wuchs nicht so verbirgt. Vielleicht kam es zum Teil auch daher, daß die Ulmerinnen in ihrem Betragen und in ihrer zutraulichen Freundlichkeit überhaupt weniger steif waren als ihre Nachbarinnen in Augsburg.

Auf die häusliche Reinheit der Sitten achtet man sehr, wenn auch Amor unter einer schwäbischen Haube und einem spitzen Mieder wie überall seinen Unfug treiben wird.

Im Mittelalter hatte Ulm, wie fast alle Städte in Deutschland, ein auf öffentliche Kosten errichtetes allgemeines Frauenhaus. Zur Ehrenrettung der damaligen Ulmer hat sich durch den Eifer der Sammler von Diplomen die Bitte einer solchen gemeinen Frau erhalten. Wegen der Enthaltsamkeit und Sparsamkeit der Ulmer war sie genötigt, den Rat um ein jährliches Gehalt zu bitten, weil sie sich von ihrem übrigen Gewerbe nicht nähren könne. Dieses Haus ist längst aufgehoben, und wenn heutzutage eine Sünde dieser Art in Ulm geschehen sollte, ist sie längst nicht mehr mit der Verfassung vereinbar. Im Gegenteil hat die Providentia des jetzigen Jahrhunderts einen städtischen Beauftragten eingesetzt, der auf alle Ausschweifungen dieser Art, besonders auf die sichtbaren, ein wachsames Auge haben muß. Er ist einer von den Boten oder Offizialen des Armenkastens und hat, als eine wichtige Person, zwei Amtsnamen. Er wird der Murrle oder der H...schneider – ich weiß nicht, weshalb Schneider – genannt. Er hat darauf zu achten, daß dem Armenkasten bei bekannt gewordenen Ausschweifungen dieser Art eine Geldstrafe gezahlt werden muß. Sie soll aber oft nicht bezahlt worden sein, wenigstens gewiß nicht von allen. Recht viel richtet also dieser Ulmer Keuschheitswächter nicht aus. Wenigstens hat er, der freilich auch nur ein einfacher lutherischer Ketzer ist, es nicht soweit bringen können wie in Augsburg der heilige Narziß. Der soll im vierten Jahrhundert, wie der fromme Exjesuit P. Leonhard Bayrer berichtet, aus einer damaligen tüchtigen H..., der Afra, geschwind eine tüchtige Heilige gemacht haben. Sie bewirkt unter dem Namen der heiligen Afra für den katholischen Teil von Augsburg immer noch viele wunderbare Wohltaten, obgleich ihr hölzernes Bild so aussieht, daß man es unwahrscheinlich findet, daß sie ihr erstes Gewerbe mit einigem Erfolg betrieben haben kann. Solche Wunder geschehen jetzt nicht mehr. Sie wurden noch im gläubigen achten Jahrhundert geglaubt, als der heilige Tosso – ja nicht Tasso zu lesen – eine wunderbare Wachskerze hatte, die abends von selbst anfing zu leuchten und morgens von selbst verlosch, sich dabei nie verzehrte, ja nicht einmal geputzt werden mußte. Dieses Wunder, das mein oben erwähnter alter Gönner, P. Leonhard Bayrer, in seiner Geschichte von Augsburg nach Würden rühmt, ist vermutlich abgeschafft worden, um die Zunft der Wachslichtzieher nicht ganz an den Bettelstab zu bringen. Warum aber das Wunder, daß aus H... Heilige werden, trotz allen Murrle in und außer Ulm, sich heutzutage nicht mehr findet, kann ich nicht entscheiden. Die beste Auskunft können wohl die Jesuiten zu St. Salvator in Augsburg als höchstgelehrte Leute geben.

Ich sah in Ulm in einem vor dem Tor liegenden Wirtshaus, Schießhaus genannt, einen Teil des Kinderfestes, das für Ulm ganz typisch ist. Am Johannistag nämlich fängt ein Schulfest an. Von dieser Zeit an sind Schulferien, und zwar sechs Wochen lang je zwei Tage in der Woche, an denen die Schulkinder von ihren Eltern und Verwandten vor das Tor hinaus ins Schießhaus geführt werden, wo sie sich mit Tanzen, Springen und Essen vergnügen. Man nennt diese fröhlichen Tage in Ulm den Berg, z.B. den ersten Berg, den letzten Berg usw. Diese Benennung hat folgenden Ursprung: Früher führten die Schulmeister die Kinder auf einen schattenreichen Berg vor dem Gänsetor am Anfang der Albecker Steige; da sprudelt eine schöne Quelle, in Holz gefaßt und mit laubreichen Albern – Ulmen, Rüstern werden im Ulmer Dialekt Albern genannt – bewachsen. Die Quelle heißt daher auch Alberkästle. Da tanzten und vergnügten sich die Kinder. Da man aber die Erfrischungen immer auf den Berg hinaufschleppen mußte, wählte man später das jenseits der Donau sehr angenehm gelegene Schießhaus für diese fröhlichen Zusammenkünfte. Nur die Waisenkinder, die den letzten Berg machten, werden zuweilen noch wirklich zum Alberkästle geführt. Im Deutschen Museum (1787, S. 551) hat jemand dieses Kinderfest beschrieben und etwas nachteilig darüber geurteilt, vermutlich allzu streng. Es ist bei solchen Festen ein Mißbrauch möglich, so wie bei allen Dingen, aber er ist doch am wenigsten zu erwarten, wenn die Kinder in Gesellschaft ihrer Eltern und Lehrer sind und wenn diese an der Freude teilnehmen. Ich bekenne, dieses Kinderfest war mir ein sehr angenehmer Anblick. Die Kleinen waren alle aufs beste nach ihrer Art und zum Teil nach Phantasie ihrer Eltern gekleidet. Das sah recht hübsch aus. Nur hatte man mehreren Mädchen, deren Haare hinten zusammengeflochten und mit einer Haarnadel durchstochen waren, künstliche blonde Seitenhaare, mit allerlei farbigem Band durchflochten, aufgesetzt, wodurch sie wie kleine Puppen aussahen. Aber der natürliche Frohsinn der Kinder überdeckte diese Unnatur. Ich bin ein großer Freund von Nationalfesten, welche den Gemeinsinn mehr fördern, als man glaubt. Wären die Patrizier in Ulm nicht so ganz von den Bürgern getrennt, sondern hielten zuweilen einen Berg mit ihnen, so würden sie vielleicht beim Reichshofrat nicht miteinander streiten müssen. Aber die Herren vom Patriziat sind weit davon entfernt, diese Vereinigung in Gesellschaften zu suchen, obgleich es dem guten Einvernehmen sehr dienlich wäre. Sie haben sogar ihr eigenes Gebäude, wo sie zusammenkommen. Es heißt die Bürgerstube, doch darf kein bürgerliches Geschöpf in diese Bürgerstube und in die Gesellschaft der Patrizier kommen ohne ganz besondere Erlaubnis der wohlgeborenen Herren, z.B. wenn etwa ein reicher Bürger sich mit einer armen Patrizierfamilie verschwägert hat. Diese Freiheit muß dann aber durch Beratschlagen und Abstimmen erlangt und ganz förmlich protokolliert werden. Ich kann die sonderbare Bezeichnung Bürgerstube für den Versammlungsort der Patrizier nicht anders erklären, als daß in ältesten Zeiten die Bürgerstube wirklich für die Bürger da war, welche damals, zur Zeit des höchsten Wohlstands der Stadt, ihr eigenes Regiment hatten. Mir scheint, daß die Edelleute, als sie vom Land in die Stadt kamen und darin Bürger wurden, um den Schutz der Städte zu genießen, auch Zugang zur Bürgerstube suchten und ihn erhielten. Da ihnen später in Ulm im Jahre 1548, durch die Absichten des kaiserlichen Hofes, das höchste Regiment ausschließlich in die Hände fiel, behielten sie die Bürgerstube ganz für sich allein, weil sie sich nun als die Regenten, die Bürger hingegen als Regierte betrachteten.

Ein weiteres Ulmer Volksfest ist das Fischerstechen auf der Donau, das alle zwei Jahre im August am Schwörtage abgehalten wird. Die Fischer werden von einem verkleideten Bauern, einer Bäuerin und einigen Mohren und Narren begleitet. Ausschweifende Lustigkeit ist der Charakter dieses Volksfestes. Herr Hausleutner, der im 2. Teil seines Schwäbischen Archivs dieses Fest beschreibt und eine Abbildung des Bauern in altschwäbischer Tracht liefert, sagt sehr naiv, daß den Zug ein Fischermeister dirigiert, als die einzige kluge Person bei demselben. Gar artig ist, daß nach Hausleutners Bericht die den Zug begleitenden Narren eingeteilt sind in Narren kurzweg und in gemietete Narren.

Das Fischerstechen auf der Donau

Die Sprache in Ulm ist noch schwäbischer als in Augsburg. Eine Menge Worte versteht ein Fremder gar nicht. Besonders sind die im gemeinen Leben überall üblichen Verstümmelungen der Vornamen in Ulm beinahe am unverständlichsten, z. B. Madele für Magdalene, Lubig für Ludewig, Benkele anstatt Benigna, Naze anstatt Narzissus, Leahnt für Leonhard usw. Es würde schwerfallen, ein eigentliches Ulmer Idiotikon zusammenzustellen, weil die schwäbischen Dialekte ungemein vielfältig sind und doch ineinanderlaufen, wie ich schon sagte und wie das Schwäbische Idiotikon des Herrn Professor Schmid in Ulm noch genauer beweist. Der bescheidene Herr Verfasser nennt es nur einen Versuch. Es ist freilich insofern nur ein Versuch, als es bei weitem noch nicht vollständig sein kann. Aber es ist auch mehr als ein Versuch, ein mit großer Einsicht und großem Verstande ausgearbeitetes Werk. Dies zeigt schon der Vorbericht, der so gründlich auseinandersetzt, was von einem guten Idiotikon gefordert wird. Falls ein deutscher Sprachforscher dieses Idiotikon selbst genau durchsieht, wird er noch weitere Beweise dafür finden. Der Herr Professor verfaßte es auf meine Bitte hin. Ich hatte von mehreren meiner Gönner und Freunde in Schwaben viele einzelne Beiträge zu einem schwäbischen Idiotikon erhalten. Teils waren sie nicht genug redigiert, teils würden sie als Beilage zu dieser Reisebeschreibung zu viel Raum eingenommen haben. Ich sandte sie also Herrn Professor Schmid. Er machte aus diesen Materialien und aus eigener Erfahrung ein Ganzes, das meine Leser vermutlich als sehr nützlich anerkennen werden. Ich habe aus vielen Werken Hinweise erhalten, wie viele alte, im Hochdeutschen ausgestorbene oder nicht mehr gebräuchliche Wörter in den verschiedenen schwäbischen Dialekten noch jetzt leben. Die schwäbischen Dialekte würden, eben weil noch so viel vom alten Alemannischen darin ist, zur Erklärung altdeutscher Schriften ganz sicher von Nutzen sein.

Das Wappen der Stadt Ulm ist ein in zwei Querfelder geteiltes deutsches Schild. Daher gehen die Ratsdiener nach altdeutscher Gewohnheit in Röcken von zweierlei Farbe: auf einer Seite ist Rock und Ärmel schwarz und auf der anderen weiß; am Schwörtag haben sie auch dergleichen Mäntel um. Ein Ulmer Geistlicher namens Wollaib gab im Jahr 1709 eine Erklärung des Ulmer Stadtwappens nach Inhalt des XIII. Psalms. Ich kenne leider nur den Titel, nicht das Büchlein selbst, denn ich wäre neugierig zu sehen, wie es der gute Wollaib angefangen hat, den Inhalt dieses Psalms auf das schwarzweiße Stadtwappen zu beziehen. Dem Prediger-Schematismus ist freilich alles möglich.

Wir fuhren am 18. Juli in Begleitung lieber Freunde, welche uns den Aufenthalt dort so angenehm gemacht hatten, wieder von Ulm ab. Die Chaussee führte durch herrliche, fruchtbare Kornfelder, die noch nicht abgemäht waren, bis zu dem hübschen Dorf Neuwesterstetten, das dem Benediktinerstift Elchingen gehört. Es ist 1½ Meilen von Ulm entfernt, aber man muß dennoch eine Post, d.h. zwei Meilen, bezahlen. Während des Pferdewechsels verbrachten wir eine geruhsame Stunde mit der Aussicht in die herrliche Gegend und mit unserer trefflichen Gesellschaft. Sie war durch einen glücklichen Zufall um den berühmten Herrn von Schüle vermehrt worden, der gerade nach Augsburg zurückreiste. Ich war sehr erfreut, einen so bemerkenswerten Mann kennenzulernen. Ich hatte in Wien den berühmten Grafen Frieß getroffen, ebenfalls ein unternehmender Kaufmann, der für mich aber lange nicht so interessant war wie Herr von Schüle, da dieser durch eigenen Fleiß eine so große Manufaktur zustande gebracht hatte und damit einem wichtigen Erwerbszweig in Augsburg neues Leben gab. Vom Wirtshaus in Neuwesterstetten sahen wir linker Hand den Turm von Vorderdenkental. Diesen Ort hat, wie ich später erfuhr, der Rat von Ulm sehr zum Nachteil der Stadt im Jahre 1774 dem Abt von Elchingen verkauft. Durch den Ort führt nämlich die Straße nach Geislingen und weiter. Da nun das Stift auch auf der Poststraße die Ortschaften Hinterdenkental und Neuwesterstetten besitzt und somit die Landstraße völlig in seiner Gewalt hat, so können die Kaufleute in Ulm dem elchingischen Zoll nicht entgehen, es sei denn, die Stadt würde eine ganz neue Straße anlegen, was aus verschiedenen Gründen aber nicht tunlich ist.

Von Neuwesterstetten ab wurde der Weg romantisch und schön. Zwischen Bergen, an denen dicht bewaldete Stellen mit kahlen, hervorragenden Felsen abwechselten, sahen wir in den Tälern Wiesen voll weidenden Viehs. An der Geislinger Steige geht der Weg dann sehr steil hinab.

Geislingen ist bekanntlich eine zu Ulm gehörige Stadt. Die Geislinger Beindrechslerarbeiten sind sehr berühmt. Wir besichtigten sogleich diese Arbeit bei einem der vorzüglichsten Meister, dem Bürgermeister Knoll, einem verständigen und geschickten Manne. Wir sahen dort Arbeiten in Elfenbein von unglaublicher Feinheit und Sauberkeit. Haid, der von Geislingen so viel unnützes Zeug sagt, vermerkte nicht einmal, wie viele Arbeiter diese bekannten Waren herstellen, die einen bedeutenden Erwerbszweig ausmachen und mehr Verbrauch und Umsatz haben, als man dem ersten Anschein nach denken sollte. Darum will ich hier kurz berichten, was ich bei meinem kurzen Aufenthalt an Informationen erhielt.

1781 gab es in Geislingen 36 Meister, die mit Elfenbein, Knochen und Holz arbeiteten, aber nicht alle hatten Gesellen oder Lehrlinge. Selbst die feinsten Elfenbeinarbeiten werden auf einer gewöhnlichen Drehbank hergestellt. Die Leute machen auch Kleinigkeiten, die lediglich durch die Mühe bei der Herstellung bemerkenswert sind, z.B. 100 kleine Gesichter auf einem kleinen Stück Elfenbein oder Holz von der Größe einer Muskatnuß, oder drei Kegelspiele in einem Pfefferkorn. Diese difficiles nugae sowie eine Menge Spielsachen, die weit in die Welt gehen, finden immer noch ihre Liebhaber.

Die meisten Stücke werden aus Knochen der Vorder- und Hinterbeine von Ochsen und Kühen hergestellt. Daher sagt man in Geislingen etwas seltsam: Das sind Beinwaren von Knochen. Die Arbeiter heißen Beindrechsler. Die Knochen werden in unglaublicher Menge und von weit her nach Geislingen geliefert, z.B. von München, von Lindau am Bodensee und von Straßburg. Allein von dort waren im Jahre 1780 über 30 000 Stück nach Geißlingen geliefert worden. Es macht einen sonderbaren Eindruck, zu beobachten, auf welch unterschiedliche Weise und von welch verschiedenen Orten die unterschiedlichsten Dinge hin- und hergeschickt werden, welche Bedürfnisse es gibt oder welche sich die Menschen schaffen. Ehemals wurden nicht nur aus dem Herzogtum Württemberg, sondern auch aus dem fränkischen Kreis, besonders aus dem Hohenlohischen, eine große Menge Ochsen nach Straßburg und weiter nach Frankreich verkauft. Diese letzteren wurden wahrscheinlich nicht weit von Geislingen vorbeigetrieben. Nachdem sie dann in Straßburg geschlachtet worden waren, wären ihre Knochen von wenig oder gar keinem Wert gewesen, wenn nicht die Industrie in Geislingen Gelegenheit gegeben hätte, die Knochen oder Beine, worauf die fränkischen und württembergischen Ochsen nach Straßburg wandelten, beinahe den ganzen Weg oder doch gute zwei Drittel zurückzubringen, und vermutlich noch manches elsässische Ochsenbein dazu. Die Knochen werden nach Geislingen geschickt, wie sie vom Schlächter kommen. Dort erst wird das Mark ausgekocht, und dann werden sie gebleicht.

Vor Zeiten reisten die Geislinger mit ihren Waren bis nach Amsterdam, und von da ging viel über England bis nach Amerika. Dieser Handel soll aber seit der Zeit der Amerikanischen Revolution sehr geschrumpft sein. Ein Teil wird noch die Donau hinunter nach Wien und Ungarn verschifft. Viele Käufer kommen heute selbst nach Geislingen zum Einkaufen. Bei meinem Aufenthalt in Geislingen sah ich mit Verwunderung zwei französische Gängler, kleine Krämer aus der Gegend von Dieppe, die zu Fuß herumreisen und hauptsächlich Kruzifixe, Kapellchen und Altärchen für das fromme Frankreich einkaufen wollten. Die Waren schienen ihnen aber doch zu teuer zu sein. Gibt es irgendeinen Ort, wo man ein Kruzifix billiger als für fünf und ein Dutzend Fingerhüte wohlfeiler als für zwölf Kreuzer kaufen könnte?

Den größten Teil ihrer Produktion senden die Geislinger an ihre Korrespondenten nach Nürnberg und in die Schweiz. Mit den Nürnbergern treiben die Geislinger einen vorteilhaften Tauschhandel, deshalb findet man in Geislingen auch nicht unbeträchtliche Lager für Nürnberger Kurzwaren. Viele Schweizer Händler, die zum Teil selbst nach Geislingen kommen, kaufen zugleich die Nürnberger Waren mit ein. Leipzig, Hamburg, Danzig und andere norddeutsche Städte wiederum erhalten die Geislinger Waren von Nürnberg aus. Herr Müller, einer der besten Elfenbein- und Knochendrechsler in Potsdam, wo sich diese Kunst schon seit vielen Jahren gut entwickelt, stammt aus Geislingen. Er hat im Jahre 1748 bei dem ebenfalls sehr kunstreichen Vater des Bürgermeisters Knoll, zusammen mit einem Berliner namens Insel, gelernt.

Die Zunftbücher der Beindreher reichen in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts zurück, in eine Zeit, als Geislingen zusammen mit einem Teil der Grafschaft Helfenstein an die Stadt Ulm kam. Damals war die Beindrechslerei schon in vollem Gange. Ihren Anfang muß sie also schon lange vorher genommen haben.

1781 gab es auch drei Meister, die hölzerne, lackierte Waren herstellten, z.B. Nadelbüchsen, Teller und Kaffeebretter, also lauter einfache und billige Gegenstände. Auch diese Waren werden auf den oben genannten Handelswegen überallhin versandt und gelten größtenteils als Nürnberger Erzeugnisse. Geislingen hat auch zwei geschickte Uhrmacher, wovon einer sehr gefällig den Zeiger unseres Wegmessers reparierte.

Wir verbrachten in Geislingen einen sehr angenehmen Abend in der Gesellschaft, die uns seit Ulm begleitete, und mit einigen wackeren Geislinger Männern. Dazu gehörte besonders der Oberprediger Abele, damals schon 73 Jahre alt, aber ein Mann voller Munterkeit und Kraft, der, seines hohen Alters ungeachtet, nie aufgehört hatte, in der theologischen Gelehrsamkeit fortzuschreiten, und der, wie seinen Unterredungen zu entnehmen war, einen warmen Eifer für die Aufklärung hatte. Erst um Mitternacht nahmen wir Abschied und reichten uns die Hand, als würden wir uns morgen wiedersehen. Zutiefst gerührt reisten wir weiter.

Bei Tagesanbruch bemerkten wir an den schönen Alleen, daß wir im Württembergischen waren. Wir kamen durch das hübsch gelegene Städtchen Göppingen, das 1782 fast vollständig abbrannte, hernach aber wieder aufgebaut wurde. Von dort ging es über Plochingen in die kleine Reichsstadt Esslingen, die am Neckar liegt, welcher hier sehr seicht war. An den Weinstöcken, die aus dem ausgetrockneten Stadtgraben bis an die Mauer hochgezogen waren, erkannten wir sofort, daß diese Stadt mit jedem in Frieden leben will. Sie bestand, soviel wir bei unserem kurzen Aufenthalt bemerken konnten, meist aus schlecht gebauten Fachwerkhäusern, doch sah man auch ein paar hübsche moderne Häuser. Auch das Rathaus ist gut gebaut. Ich erinnerte mich auch eines bemerkenswerten, aus Esslingen gebürtigen und leider zu früh verstorbenen Gelehrten, des Herrn Steudel, der Kenntnisse in sich vereinigte, die sonst selten in einer Person zusammentreffen. Er hatte nämlich ein ganz vorzügliches mathematisches und astronomisches Wissen und war zugleich ein großer Botaniker und Entomologe. Dazu kamen recht gute physikalische und chemische Kenntnisse. Er kam als Apothekergeselle nach Berlin, verließ dort seine Kunst und studierte in Berlin mit großem Eifer. Sulzer hatte ihm Hoffnung gemacht, bei der Akademie als Astronom angestellt zu werden, aber der selige Schulze lief ihm den Rang ab. Deshalb ging Steudel von Berlin weg. 1781 traf ich ihn in Mannheim, wo er chemische Kollegien las. Er kehrte später in seine Vaterstadt zurück, wo der würdige Mann mit manchen Enttäuschungen und Krankheiten zu kämpfen hatte. 1790 starb er im Alter von 47 Jahren. Von seinen Schriften ist meines Wissens nur eine Übersetzung der Witterungslehre des Toaldo erschienen.

Esslingen am Neckar

Esslingen hat wie Ulm auch einen Schwörtag, und da es nur eine Meile von Stuttgart entfernt ist, so gibt dieser Tag den Einwohnern Stuttgarts Gelegenheit zu einer angenehmen Spazierfahrt und zur Teilnahme an dem dortigen Fest. Man sagt, die jungen Herren aus Stuttgart würden an diesem Tag wenn schon nicht dem Magistrat, so doch den Schönen von Esslingen Treue schwören.

Die Gegend um die Stadt und bis hin nach Stuttgart ist von unbeschreiblicher Schönheit. Weingärten wechseln mit Maisfeldern, hier Welschkorn genannt, und Weizenfeldern ab. Die nahe liegenden, hohen Berge sind teils mit Wäldern bedeckt, teils nähren sie die edlen Reben. Der selige Herr Prälat Sprenger sagte mir später in Stuttgart, dieser Weg von Esslingen her gehöre zu den schönsten Gegenden Württembergs. Hinter dem Dorf Wangen beginnt eine Weidenallee, die bis nach Stuttgart hin fortläuft. Eine ganze Weile fährt man entlang einer dichten Plantage von Weiden, vermischt mit Apfel- und Birnbäumen, welche damals so voller Früchte waren, daß sie gestützt werden mußten. Die Weiden sind dazwischen gesetzt, da sich Esslingen wegen Mangel an Feuerholz der Reisigbündel aus Weidenzweigen bedienen muß.

Ein großer Teil der Einkünfte dieser Stadt besteht nebst dem Weinbau im Obsthandel, der jährlich zwischen 80 000 und 100 000 Gulden einbringen soll. Besonders die gebackenen Birnen werden weithin verkauft. Weil den Einwohnern nur sehr am Gedeihen von Wein und Obst gelegen ist, geben sie auf den St. Urbanstag besonders acht, welches der 25. Mai ist. Eine alte Bauernregel setzt fest, daß, falls an diesem Tag die Sonne warm scheine, auf einen schönen Sommer und Herbst zu hoffen ist. Ist es hingegen kalt und regnerisch, müsse auch für Sommer und Herbst ein solches Wetter befürchtet werden, und Wein und Obst gedeihen nicht. Die Kinder der Weingärtner tragen daher in Esslingen am St. Urbanstag ein schön verziertes Bild des Heiligen, schwäbisch Urbe genannt, in der Stadt umher. Wenn das Wetter schön ist, werden sie von den Bewohnern der vornehmsten Häuser beschenkt. Regnet es aber, so schimpfen sie den Heiligen tüchtig aus und werfen sein Bild in den Brunnen am Marktplatz. Eine wohlverdiente Strafe dafür, daß er die Sonne nicht scheinen läßt ...

Die katholische Kirche hat ja bekanntlich mehr Heilige als das Jahr Tage, daher müssen sich mehrere zur Feier ihres Namens einen Tag teilen. Auf den 25. Mai sind noch 56 andere Heilige angewiesen, nicht gerechnet die 5067 Heiligen, deren Namen man nicht kennt. Sowenig für die Menge der Heiligen die Anzahl der Tage ausreicht, sowenig reicht die Zahl der Namen. Daher führen mehrere Heilige denselben Namen. Es wäre also kein Wunder, wenn bei der himmlischen Parade, bei der die Heiligen auf Wache ziehen müssen, ein Irrtum geschehe. Dies ist auch bei den heiligen Urbanen geschehen, von denen der Heilige Stuhl in Rom nicht weniger als 19 zu Heiligen erklärte. Der älteste ist der heilige Urban I., Papst und Märtyrer, der im dritten Jahrhundert gelebt haben soll und für sein Fest auf den 25. Mai angewiesen ist. Ein anderer heiliger Urban lebte im fünften Jahrhundert, war weder Papst noch Märtyrer, sondern Bischof in Langres in der Champagne und starb auf seinem Bett. Dieser fromme Mann, der vermutlich den guten Wein seines Vaterlandes recht reif und wohlschmeckend trinken wollte, war sehr besorgt, sobald Platzregen und Sturmwinde den Weinstöcken drohten, die er durch sein Gebet abzuwenden versuchte. Glückliches fünftes Jahrhundert, das Bischöfe hatte, deren Gebet solche Kraft hatte! Da die tyrannischen Franzosen so vielen deutschen Wein verdorben haben, so ist es schade, daß von den vielen ausgewanderten französischen Bischöfen nicht ein einziger die Weinstöcke zu Hochheim und Bacherach, deren Weine sie doch jetzt trinken, durch sein kräftiges Gebet vor der Wut der Ohnehosen, die ärger ist als Sturmwind und Platzregen, hat bewahren können. Ich hätte dem Bischof gerne meine Stimme zur Heiligsprechung gegeben. Der heilige Urban von Langres war ein gar anderer Bischof! Er wurde billigerweise für sein wohltätiges Gebet in den Himmel gesetzt, hat aber das Unglück, daß ihm der 23. Januar zum Heiligenfest angewiesen ist, eine Zeit, in der die Weingärtner hinter dem Ofen liegen. Diese vergessen ihn deshalb und rufen noch immer am 25. Mai den heiligen Papst Urban an, der aber zum Heiligen emporstieg, weil er sich tüchtig ausprügeln ließ und hernach enthauptet wurde und, nachdem er schon lange tot war, so manchen Lahmen oder Gichtbrüchigen heilte, nie aber auf das Gedeihen des Weins und Obstes Einfluß hatte. So kommt der heilige Bischof Urban um seine Verehrung, und der heilige Papst Urban kann den Weingärtnern nicht zu gutem Wetter verhelfen. Aber auch diesen heiligen Papst Urban haben die Jesuiten in Vergessenheit gebracht und den 25. Mai einem anderen, ihnen viel lieberen Heiligen eingeräumt. Ich finde weder den Namen des heiligen Papstes Urban noch den des heiligen Bischofs Urban, des Weinbeschützers in Pater Matthäus Vogels Legende der Heiligen, dieses sonst in allen Heiligenfragen klassischen Buches. Pater Matthäus setzt auf den 25. Mai den heiligen Papst Gregor VII., den Hildebrand, durch dessen so listig erdachte geistliche Herrschaft nichts gedeiht, sondern die Gewalt der rechtmäßigen, weltlichen Regenten ungerechterweise geschmälert wird und das wahre Wohl aller Stände welkt, wie von den kalten Nordwinden das erquickende Obst und der alles belebende Wein.

Wir fuhren in einem fruchtbaren Tal weiter und wünschten St. Urban, dem Champagnerpatron, einen guten Abend, auf daß er Wein und Obst dennoch gut gedeihen lasse, obgleich er am Himmelfahrtstag, dem 24. Mai, einen schweren Nachtfrost nicht hatte verhindern können, der in einem großen Teil Deutschlands alle Blätter hatte einschrumpfen lassen. Nahe bei Stuttgart öffnete sich nach links abermals eine herrliche Aussicht. Über Weingärten und Maisfelder hinweg, weilte das Auge auf sehr hohen grünenden Hügeln, deren weit ausgebreitete grüne Decken nur spärlich von einzelnen, verstreuten Häusern und Schlössern unterbrochen wurden. Bald erschien rechts die Stadt Stuttgart, aus der die hohen Türme der Stiftskirche hervorragten. Im Gasthof des Herrn Rall am unteren Graben stiegen wir ab.

Unser Wegmesser zeigte folgende Wegstrecken:
Von Ulm bis Neuwesterstetten 11 ¼ Meilen
bis Geislingen 21 ½ "
bis Göppingen 6 ¼ "
bis Plochingen 9 ¼ "
bis Stuttgart 12 ¾ "

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unter Bayern und Schwaben