Eintritt in St. Petersburg

Petersburg, die Hauptstadt eines Reiches, das hart an Deutschland grenzt, Petersburg, das über 40.000 Deutsche unter seinen Einwohnern zählt, von denen doch ein großer Teil mit ihren Angehörigen und Freunden im Vaterlande korrespondiert, Petersburg, das jährlich mindestens einige Hunderte von Deutschen als Gäste besuchen, — es ist und bleibt uns so fremd, als ob es jenseits des Mondgebirges läge, und die Berichte davon klingen so fabelhaft, dass man bei späterer Anschauung dem Zeugnis der eigenen Augen kaum zu trauen wagt.

Selbst nach den Schilderungen, die die Herren Kohl und Pelz (Treum und Welp), die doch lange dort gelebt, davon entworfen, fürchtet man noch auf dem Newsky-Prospekt die Begegnung eines Bären, oder den Besuch eines. ausgehungerten Wolfes in seinem friedlichen Hause. Man wähnt sich in die Barbarei versetzt, mit dem ersten Blick das Centrum eines unzivilisierten Landes zu überschauen und Befangenheit und Angst sind die mildesten Eindrücke, mit denen man sich der Zarenstadt naht.


Wie überraschend ist dagegen die Wirklichkeit, wenn man — besonders zur See — in die Hauptstadt gelangt. Die Schönheit der Einfahrt findet wohl nicht leicht ihres Gleichen. Schon die Großartigkeit Kronstadts überrascht mit seinem Hafen voll zahlloser Schiffe, seinen endlosen Docks, den merkwürdigen Türmen und Werken, die sich aus den Tiefen der offenen See wunderbar in Kraft und Schönheit erheben; nicht weit davon das herrliche Schloss Peterhoff mit seinen anmutigen Gärten, dem reizenden Parke, den feenhaften Gebäuden. Nach mehrstündiger Fahrt, stromaufwärts an dem herrlichen Bergkorps vorüber, gelangt man an den majestätischen englischen Quai. — Hier legt das Dampfschiff, der Börse gegenüber, die an Pracht ihres Gleichen sucht, vor der Donane an.

Die Verzögerung, welche das Revidieren der Pässe verursacht, nach welchem man erst das Schiff verlassen kann, sowie das spätere Visitieren der Effekten auf der Douane ist unangenehm, besonders bei der, nach dem Anblick des Landungsplatzes unausbleiblich erregten Begierde, die Stadt so bald als möglich näher zu sehen, aber sie wird durch die höfliche Zuvorkommenheit gemildert, mit welcher die funktionierenden Beamten ihre Pflicht erfüllen, und selbst nach Vollbringung derselben dem Fremden beim Einpacken und Ordnen der Sachen auf das Dienstlichste zur Hand gehen. — Ist an den, oft gehörten, Schrecknissen der russischen Douane etwas Wahres, so müssen sie sich lediglich auf die an den Landgrenzen beziehen, wo vielleicht noch die Kosaken ihren Einfluss üben; von der Seeseite in Petersburg wird nur, nach vorhergegangener Denunziation, mit rauer Strenge verfahren, sonst aber im allgemeinen mit einer Humanität, die z. B. den kleinlichen Schikanen der österreichischen Mauten als glänzendes Beispiel vorleuchten könnte. Ist man nun expediert, so erreicht man in der Regel noch am hellen Tage das Innere der Stadt. Fast alle Fremden führt ihr Weg den Quai entlang über den Isaacks-Platz, an der herrlichen Statue Peter des Großen, an dem imposanten Gebäude der Admiralität, der wundervollen Isaacks-Kirche vorüber in die Newsky-Perspektive. Von der unvergleichlichen Schönheit dieser Straße, der immensen Breite derselben, deren doppelte Reihe von Fahrwegen mit Holz gedielt ist, während 10—12 Fuß breite Trottoirs zu beiden Seiten vor den großartigsten Palästen und palastähnlichen Häusern den Fußgängern die bequemsten Promenaden bereiten; von der Eleganz der Ladenreihen, die fast ununterbrochen zu beiden Seiten der endlosen Straße hinlaufen, durchgängig mit den hellsten Spiegelscheiben versehen, Abends von der strahlenden Gasbeleuchtung beschienen, mit den kostbarsten Gegenständen des ausgesuchtesten Luxus gefüllt und den prachtvollsten Schaustücken verziert und behangen sind; — vor allem aber von dem unsäglichen Gedränge der Menge, die hier, wie eine brausende Flut, auf den Trottoirs und den Fahrwegen, zu Fuß, zu Pferd, in Wagen, Sechsspänner, Vierspänner, kleineren Kutschen jeder Gattung, Droschken und Istworstschicks durcheinander wogt; von diesem Tumult, Gebrause, dieser, die Sinne betäubenden, Bewegung muss selbst der Habitué von Paris und London, wie von Zauberkraft berührt, überrascht und ergriffen werden. Findet der wohl adressierte Fremde nun aus diesem berauschenden Taumel im „Hôtel Coulon oder Demut", die beiden einzigen ausländischen Gasthöfe, Aufnahme und mäßigen Platz, so kann er bis zu seiner getroffenen häuslichen Einrichtung ganz erträglich leben; führt ihn aber Raummangel an den besagten Orten oder Lokal-Unkenntnis in ein russisches Hôtel, so hat er gleich bei seinem Eintritt Gelegenheit, eine Seite und zwar eine de la plus honteuse der Residenz zu studieren. Für den Fremden kann es — eine Waldhöhle etwa ausgenommen, — nicht leicht etwas Abschreckenderes geben, als den Anblick dieser seiner Wohnung; nicht leicht etwas Unheimlicheres, als deren Beziehung. Große Räume, denen die sorgfältig säubernde Hand der reinlichen Wirtin zu mangeln scheint, empfangen ihn gewöhnlich bei nicht blendender Beleuchtung; was den Meubles an Überfluss gebricht, wird selten durch deren Schönheit ersetzt; der stete Mangel eines Bettes ist nur ihm fühlbar, denn der russische Reisende führt das seinige immer mit sich, wie Maximilian der Erste seinen Sarg, und macht es so den Hôtel-Besitzern entbehrlich, die denn, auf heftiges Dringen des ausländischen Gastes, auch nur mühsam nach langem Zaudern eins ins Leben rufen, das allerdings dem bequemen Deutschen ein „memento mori", seinen Sarg, ins Gedächtnis ruft. Ist endlich der peinliche Eindruck des ersten Empfanges ein wenig gedämpft, so beherrscht ihn der nicht minder unangenehme einer schrecklichen Bedienung. In solchem russischen Hotel ist selten ein Mensch, der, außer seiner Landessprache, eine Ahnung von einer andern hat; der Engländer, Franzose und Italiener ist unrettbar verloren; dem Deutschen aber erblüht noch ein Hoffnungsstrahl, wenn sein guter Stern ihn in die Küche führt, denn dort befindet sich vielleicht unter dem weiblichen Dienstpersonal eine Finnländerin, die geübte Köchinnen sind, und mit wenigen Ausnahmen ziemlich verständlich deutsch sprechen; aber sein Souper dürfte ihm deshalb nicht besser munden, denn da er die russischen Namen der ihm empfohlenen Speisen nicht kennt und deren wohlklingendsten gewöhnlich die fürchterlichsten sind, so hat er hinlänglich Muße, um Geduld und Appetit auf die Gastfreiheit seiner Landsleute zu verweisen, die untrüglich Beide im reichsten Maße entschädigen werden. Ist der Fremde, wie bei der großen Masse der Petersburg Besuchenden doch anzunehmen ist, mit einigen, ja nur mit einer Empfehlung versehen, so ist er nach Abgabe derselben auch sofort seiner häuslichen Hölle entrückt, denn entweder öffnet sich ihm gleich das Haus des Gastfreundes, oder dieser trifft Anstalt, ihm eine chambre garnie anzuweisen, deren es in Menge, namentlich bei Deutschen, gibt, und wo der Fremde in der Regel sich wohl und behaglich fühlt. Ist aber ein Leser dieser Zeilen einst so unglücklich, in Petersburg, als Fremder, dem Mangel an Bekanntschaften nicht durch Empfehlungen begegnen zu können, so gehe er getrost in das erste beste Weinhaus oder Restaurations-Keller, die er um so sicherer auffinden wird, da es deren eine Unzahl gibt, und vorzugsweise die Schilder, welche Ess- und Trinkwaren feil bieten, sämtlich nächst den russischen auch deutsche Inschriften tragen: ein zartes russisches Kompliment, das zugleich ein tiefes Ergründen unserer hervorspringendsten Charakteristik bezeichnet. An solchen Orten befindet sich fast immer, aus schuldiger Rücksicht gegen die Haupt- und Stammgäste, ein deutsch sprechender dienstbarer Geist. Der Fremde setze sich an den ersten besten Tisch, auch ganz allein, er bestelle sein Frühstück mit etwas lauter Stimme in deutscher Sprache und sei versichert, dass er es nicht zur Hälfte beendet, ohne dass er, bei einiger Aufmerksamkeit, den Kellner auf den Wink eines oder des andern anwesenden Gastes zu diesem springen sieht, der ihn beim Ohr nimmt, es zu seinem Munde führt und ihm heimlich vier Worte zuflüstert. Der Kellner beantwortet sie mit der Pantomime eines deutschen Kammerherrn, den der Fürst fragt, warum das Volk nicht Vivat schreie, und wendet sich weg. Nach Empfang dieser achselzuckenden Erklärung leert der Stammgast sein Glas, spricht noch Einiges mit seinen Tischgenossen, füllt es dann aufs Neue und tritt zu dem Fremden, ihn als Landsmann begrüßend. Er wechselt einige Worte mit ihm und verrät des Fremden Sprachweise, Geschäft, Vaterland, Reisen oder seine Eigentümlichkeit irgend etwas, das Interesse erregen kann, so ist zu wetten, dass, bevor sein Allokutor das Glas geleert, er ihn bereits an den Societätstisch geladen, und rechtfertigt er da nur einigermaßen die von ihm gehegte Erwartung, so folgt die Bitte um einen Besuch, und dann hängt es nur noch von dem Fremden ab, das Haus des Gastfreundes alsbald wie das Seinige zu betrachten. Viel Umstände werden mit Niemandem gemacht. Man bittet den Fremden nur ein Mal zu Tische. Gefällt er nicht, so bringt man wohl der Konvenienz noch einmal das Opfer, sich zu langweilen; im Gegenteil sagt ihm der Wirt beim Aufstehen vom Tische: „Nun erwarten Sie keine Einladung mehr; Ihr Couvert steht jeden Tag für Sie serviert; je öfter Sie uns beehren, desto mehr erfreuen Sie uns." Dabei schüttelt er ihm die Hand und der Gast kann versichert sein, dass diese Worte buchstäblich so gemeint waren, wie sie gesprochen worden. Dabei braucht der Gast nie zu fürchten, dass er geniere; er komme wann er wolle, er ist willkommen. Sein Couvert ist bereit; sind grade Austern und Champagner auf dem Tisch, so lächelt der Wirt vergnügt, dass er's so gut getroffen, aber Ihr seht der Wirtin auch nicht den leisesten Zug von Verlegenheit an, wenn die Schüssel nur Kartoffeln und Rindfleisch enthielte; genug ist immer da; wie die Wirtin das macht, weiß ich nicht, aber ein halbes Dutzend unvorhergesehener Gäste überraschen und genieren nie, und was sie vorsetzt, macht die Wirtin, wie gesagt, nie verlegen, wäre es auch das einfachste Mahl; denn wie sie ohne Ansprüche gibt, rechnet sie auch auf die Anspruchslosigkeit des Empfängers. Wie würde die Petersburgerin lachen, sähe sie in einer deutschen Familie in Berlin oder Dresden z. B. die tödliche Angst der Hausfrau, wenn der Mann zur Mittagsstunde unverhofft einen oder gar zwei gute Freunde von der Börse mit zu Tische bringt. Das kennt man dort nicht; eben so wenig das kleinliche Trinkgeldgeben, mit dem man in Deutschland nach hergebrachter Sitte jede Mahlzeit gleichsam zu bezahlen pflegt. Zu Weihnachten und Ostern macht man Visiten in den Häusern seiner Bekanntschaften und da beschenkt man die Dienstboten, und reichlich; zehn, zwanzig R. B. Jedem, auch noch mehr, nach Mitteln und Belieben; kommt das am Ende auch auf Eins heraus, so ist die Sitte der Russen doch gewiss anständiger und bequemer.

Die geistige Unterhaltung ist nicht sehr mannigfach, wozu schon die Sonderung der Geschlechter das Ihre beiträgt. Man merke wohl, dass ich hier die Sitten des Mittelstandes schildere. Wer die des Adels, des russischen wie des übrigen Europa, kennen lernen will, der beobachte die Gebräuche der Pariser Société und er kennt die aller Übrigen. In den bürgerlichen Gesellschaften gruppieren sich in der Regel die Geschlechter für sich; selbst an der Tafel nehmen die Damen die eine, die Herren die andere Hälfte derselben ein. Ich will diese gesellige Einrichtung nicht geradezu loben, sicher aber erspart sie manchem greisen Knasterbart oder prozent- und agioerfüllten Kaufmann die Verlegenheit, eine 16jährige schmucke Nachbarin zu unterhalten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Unpolitische Bilder aus St. Petersburg.
Russland 003. Petersburg, Altes Michael-Palais (Ingeneurschloss)

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Russland 002. Petersburg. Der Taurische Palst (Gebäude des Reichsduma)

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Russland 002. Petersburg, Winterpalast, Architekt Rastrelli

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Russland 003. Petersburg, Denkmal Peters des Großen

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Russland 004. Petersburg, Blick von der Newa auf die Isaakskathedrale und den Palast des Heiligen Synod

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Russland 007. Petersburg, Alexandersäule, errichtet von Nikolaus I. zur Erinnerung an den Sieg über Napoleon

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Russland 007. Petersburg, Vorhalle der Isaakskathedrale

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Russland 008. Petersburg, Ein Landhaus in der Umgebung

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Russland 008. Petersburg, Holzbarken auf der Newa im Sommer

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Russland 008. Petersburg, Teebude in einer Vorstadt

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Russland 009. Petersburg, Am Hafen

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Russland 009. Petersburg, Das Straßenpflaster

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Russland 010. Petersburg, Der Buddhistentempel

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Russland 010. Petersburg. Der Peterspalast im Winter

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Russland 011. Eine Nebenbahn

Russland 011. Eine Nebenbahn

Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)

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