Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 19. Konzerte.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Ich schilderte früher die Unterhaltungen der Residenz, komme aber nochmals darauf zurück, um ausführlicher einer derselben zu erwähnen, die eine Hauptrolle unter ihnen spielt: die Konzerte. Diese sind das ganze Jahr über verpönt, und ihr Erscheinen, während desselben, gehört zu den sehr seltenen Ausnahmen; mit den Fasten hingegen beginnt ihr eigentliches Regiment, und wie die strengen Herrscher kurz regieren, regiert gewöhnlich auch ein kurzes Regiment streng; das der Konzerte mindestens nimmt in den 7 Wochen, welche die Fasten währen, den Kunstsinn der Petersburger auf eine so barbarische Weise in Anspruch, dass sein Heißhunger in der Tat, für die ganze übrige Jahreszeit, hinlänglich gesättigt sein kann. Während der Fasten sind alle Theater geschlossen, Tanzmusik ist untersagt, und so behaupten die Konzerte ganz ausschließlich das Feld. Auch genießt man deren in dem angegebenen Zeitraum täglich, ja oft zwei- bis dreimal, denn sie beginnen in der Mittagsstunde und enden oft erst tief in der Nacht. Ein halbes Dutzend Konzerte an einem Tage gehört nicht zu den auffallenden Tageserscheinungen. Das Merkwürdigste bei der Sache ist nur, dass trotz dieser Überflutung sie doch sämtlich, mehr oder minder, stark besucht werden. Freilich drängt sich um diese Zeit ein förmliches Virtuosenheer aus allen Teilen Europas nach der Hauptstadt des Reiches. Gewöhnlich kommen die Gaste schon einige Wochen früher, geben ihre Empfehlungen an die Dilettanti ab, introduzieren sich in musikalische Zirkels legen dort Proben ihres Talentes ab, und gewinnen sich so, bereits vor ihrem öffentlichen Auftreten, ein Publikum. Die Salons der Grafen Wilhorsky und Lwoff bieten ihnen hierzu hinlängliche Gelegenheit, und ein wirklich ausgesprochenes Talent darf bei dem Kunstsinn der Petersburger auf diesem Wege seines Erfolges gewiss sein.

Doch ein gewöhnlicher Erfolg ist in Petersburg keiner. Beifall findet, bei der großen Delikatesse des vornehmeren Publikums, auch die Mittelmäßigkeit; doch die ist auch vergessen, bevor man das nächste Konzert besucht. Aber einen wirklichen Erfolg haben, Eklat verursachen, das ist in Petersburg schwer und nur Talenten erster Größe vorbehalten. Die Gräfin Rossi feierte einen solchen Triumph, doch können wir ihren Erfolg nicht nach dem gewöhnlichen Maßstab öffentlich produzierender Künstler bemessen; die Region, in der sie sich bewegte, schloss sie von dieser Klasse aus, und auch der tiefste Kenner hätte die Influenz der Gräfin auf die Sängerin nicht zu bestimmen vermocht. Aber eine andere Renommee tauchte am Künstler-Horizonte auf und übergoss ihn mit den Gluten seines Genius. Im Januar 1842 erscholl plötzlich das Gerücht in St. Petersburg: Er kommt! — Wer? fragte Niemand! In dem „Er" lag sein Name, seine Bedeutung. Die ganze Hauptstadt harrte in gespannter Erwartung, nur der Modus des Empfanges hatte seine Schwierigkeit. Sollte ihn das Künstlerkorps der Residenz einholen? Diese Idee lag am nächsten. Aber würde die Dorpater Universität nicht Einspruch getan haben? er war ja ein Graduierter! Und würde dieser nicht das Militär den Rang abzulaufen sich bemüht haben? denn der Held des Pianos war ja auch der Mann des Säbels: noch durchbrauste die Stadt die Freude von diesem Nationalgeschenk, das der junge Ungar dankerfüllt aus den Händen der Magyaren empfangen und sein Nationalgefühl in französische Worte kleidend, die Versicherung entgegnet hatte: er würde es nötigenfalls für Ungarns Freiheit ziehen. Endlich wollte die Petersburger Jugend der Berliner nicht nachstehen, und zweitausend Jünglinge verabredeten sich, Relais zu bilden, um ihn von Narva bis zur Hauptstadt an Postgaulsstelle persönlich zu ziehen. Graf Wilhorsky schickte ihm einen Kurier entgegen, ihm sein Hôtel als Absteigequartier zu offerieren, aber der Virtuos dankte, lehnte jeden feierlichen Empfang ab und entschuldigte sich mit der Gewohnheit, in stiller Zurückgezogenheit sich und der Muse zu leben. So beschränkte man sich darauf, drei Tage lang die Straßen zu blockieren, die nach dem Hôtel de Coulon führten, wo ein Expresser Quartier bestellt. — Endlich ertönt ein Posthorn; es klang so melodisch; so bläst nur ein Postillon, der Liszt kutschiert. Die vier Gäule schwenken um die Ecke des Newsky, halten vor dem Hôtel de Coulon. Ein Bedienter springt vom Bock, öffnet den Schlag; lächelnd steigt ein junger Mann aus dem Reisewagen, der Schuppenpelz verbirgt die Gestalt, aber die herabflatternden Haare, die aus dem Pelzärmel hervorragenden langen Finger verraten ihn. „Er ist's," tönt es durch die Straßen, über den Newsky, nach der Morskoy, bis zur Admiralität; die vornehmen Equipagen fliegen vor, die elegante Welt drängt sich in die Antichambre, aber — mit langen Gesichtern und verdrießlich kehrt sie zurück. Er war es nicht, es war nur Signor Pantaleone, Liszt's guter Sekretär und schlechter Sänger, der als Fourier vorangeeilt war, Quartier zumachen und St. Petersburg ein wenig zu foppen. Der bescheidene Künstler traf erst mit einem andern Vierspänner, nebst seinem Geschäftsführer, Kammerdiener, Bedienten und Jäger, still und ohne Empfang nach Mitternacht ein.

Der Tag der Tage erschien. Liszt gab sein erstes Konzert im adligen Klub. Der Kaiser, der ganze Hof, die höchste Noblesse, sämtliche Kunstnotabilitäten der Hauptstadt, ein ausgewählter Damenkreis schmückten den Saal, und sonst noch war Jeder darin, dem es vergönnt war, ein Plätzchen zu erhaschen. Die Einnahme belief sich auf zwanzigtausend Rubel Banco, und der Beifall und Jubel auf zwanzigtausendmal so viel. Lisztgilt für ein Genie, und bei allen Musen! er ist auch eines; aber das große Publikum kennt es nicht in seinem vollen Werte; für Entrée-Billets ist es nicht wahrnehmbar. Wer Liszt's wahres, großes, ganzes Genie kennen lernen will, der muss es belauschen, der muss es ihm abstehlen, der muss, wie mir vergönnt war, nicht darauf zu achten scheinend, in eine Sofaecke seines Zimmers gedrückt, sich aus seinem ambulanten Zigarren-Magazin bedienend, ein Journal durchblättern, während Liszt, von der Muse berührt, zum Klavier taumelt, den Barbaren nicht beachtend, der die Débats lesen kann, wenn er in Tönen schwelgt; — so, allein, sich unbeachtet glaubend, ohne Affektation, ohne Koketterie, nur sich selbst überlassen und dem Gott, der ihn begeistert, da in die Tasten greifend, sich in einem Meere von Gefühlen badend, die Leidenschaften in allen Gradationen durchwühlend, Himmel und Hölle erstürmend mit der Gigantenkraft seines Genies — da ist Liszt herrlich, da ist er erhaben, — da ist er à la hauteur de son rénom. — Aber vor dem Publikum! Nein! da kämpft nur sein inneres besseres Selbst gegen seine Unarten, und dessen Fülle besiegt sie, ohne sie ganz bemeistern zu können. Möchte Liszt den Rat befolgen, den Herder irgendwo den Schauspielern gibt: „O! möchtet Ihr doch vergessen, dass Ihr vor dem Publikum steht!" Könnte Liszt sich zu dieser Selbstbeherrschung erheben, das Publikum würde sein Genie erkennen, wie ich es erkannte, die Bewunderung würde eine unvergleichlich tiefere und reinere sein.

Liszt gab wohl ein Dutzend Konzerte, der Jubel war stets derselbe, und seine Einnahmen waren enorm; dennoch blieb ihm nur der geringste Teil davon; mit fürstlicher Großmut überhäufte er Freunde und Landsleute mit Geschenken an Geld und Geldeswert; seine Freigebigkeit, sein Edelmut wurden sprichwörtlich und erhöhten nicht wenig seinen Ruhm. Wahr ist's, er ist nobel, bis zum Exzess: aber vor Allem der Wahrheit die Ehre! Liszt wirft sein Geld mit vollen Händen weg, aber (ohne seiner Generiosität zu nahe treten zu wollen) er wirft es am liebsten dahin — wo es klingt. — Das bescheidene Wohltun ist weniger seine Sache.

Mit Lorbeeren der reinsten Art geschmückt, verließ der Künstler St. Petersburg. Sein Name wäre dem lebenden Geschlechte dort unvergesslich geblieben — wäre er nicht wieder zurückgekehrt. Für seinen Ruhm wäre es besser gewesen, er hätte eine Sonate von Beethoven weniger gespielt, und in der Zeit eine deutsche abgedroschene Komödie gelesen. Solche alte Scharteken enthalten neben vielem Unsinn manchmal beherzigenswerte Wahrheiten. So sagt die alte Zigeunermutter in der„Preziosa" einmal: „Wird man wo gut aufgenommen, soll man ja nicht wiederkommen." Der Spruch gilt in der ganzen Welt, aber nirgends so vollwichtig wie in Petersburg. Die Stadt ist ein wahrer Haifisch im Renomée-Verschlingen. Ihr Beifall gleicht ihren Jahreszeiten; da fällt man aus der Gluthitze des Sommers über Nacht in den eisigen Winter, und Schneelagen bedecken die Wiesen, die gestern noch in Sommerschöne prangten. Der Russe lebt schnell, und wie er sein Leben schnell verbraucht, verbraucht er alles schnell, was sein Leben verschönt und erheitert. — Liszt kam ein Jahr später zum zweiten Male nach Petersburg; sein Genius blieb ihm treu, seine Virtuosität war dieselbe, seine hohe Kunst, wenn möglich, noch vollendeter, und dennoch dem Publikum gegenüber: ce nètait qu'un artiste de plus.

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg