Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 16. Kutscher und Kuriere.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Bietet die Residenz von der Seeseite unstreitig den glänzendsten Anblick dar, so ist doch der von den Landstraßen nicht minder interessant, wenn gleich weniger großartig. Besonders imposant ist das erste Auftauchen der Stadt, wenn es dem Fremden, der vom Süden kommt, entgegentritt. Die Moskower Sastawa ist ein Triumphbogen, zu Ehren der Truppen errichtet, welche die letzten Feldzüge im Orient mitgemacht haben. Er ist außerordentlich hoch, verhältnismäßig breit, ganz aus Gusseisen geformt, die Verzierungen sind von Bronze, und das Ganze macht, in seiner einfachen Größe, einen erhebenden Eindruck. Durch diese Ehrenpforte gelangt man unmittelbar in das Weichbild der Stadt, aus der die unzähligen vergoldeten Kuppeln der Kirchen, wie eben so viele Flammenzeichen am Horizonte, den Eintretenden zu bewillkommen scheinen.

Was sonst den Fremden beim ersten Anblick einer großen Stadt oft so unangenehm berührt, der Schmutz der Handwerker, der Geruch der Lohgerbereien, der Eisenhammer u. d. m,, das ist Alles aus der Nähe der Stadt verbannt; nur eine Schaar junger Wäscherinnen empfängt ihn an den Ufern der Newa, oder an den Quais, wo sie selbst im strengen Winter vor einem, ins Eis gehauenen, Loch ihre reinliche Arbeit verrichten, und den empfindlichen Frost, oder das Stechen der glühenden Sommerhitze, durch heitern Gesang oder durch fröhliches Geplauder, hinweg zu scherzen sich bemühen.

Überhaupt gibt es wohl kein Volk der Erde, das so fröhlich bei der Arbeit ist, als der Russe. Singen muss er, sonst geht ihm kein Werk von Statten. Er singt beim Ackern, wie beim Ernten, singt beim Flaschenzuge auf dem Schiffe, wie beim Flaschenzuge in der Kneipe, er singt auf dem Korn- wie auf dem Post-Wagen, er legt singend die beschwerlichsten Märsche zurück, er geht singend in die Schlacht, und kommt er mit geraden Gliedern wieder aus derselben zurück, dann singt er erst recht, denn Gesang und Wodka — „mehr braucht er nicht, um glücklich zu sein." — Diese angeborene Heiterkeit seines Temperaments ist es auch, die ihn die grausamsten Beschwerden mit Leichtigkeit ertragen lässt. Wahr ist's, von Natur ist der Russe träge; des gemeinen Mannes liebste Beschäftigung wäre, sich einen Rausch trinken, ihn verschlafen, und nach dem Erwachen denselben Weg zu demselben süßen Ziele wieder betreten. Aber zwingt ihn die Notwendigkeit zur Arbeit, so trotzt er auch mit unnachahmlicher Ausdauer jeder Beschwerde.

Betrachtet mir wohl jenen stattlichen, sechs Schuh hohen, im richtigen Verhältnis arrondierten Mann, mit dem vollen Gesichte und noch vollerem Barte, in dem feinen grüntuchenen Kaftan und der viereckigen, mit Pelz verbrämten, roten Samtmütze! Der Mann führt, für gewöhnlich, das allerbequemste Leben, das dolce far niente ist sein Handwerk von Profession, und nur von Zeit zu Zeit hat er einige kleine übermenschliche Anstrengungen. Das ist des Kaisers Leibkutscher! — Er lebt, außer seinem Dienste, wie ein vornehmer Herr. Ihr meint zwar, des Kutschers Aufenthalt sei der Stall! aber — irren ist menschlich! unser Wagenlenker hat ihn seit seiner letzten Anstellung mit keinem Auge gesehen. Ob die Wagen in gutem Stande, die Pferde fett oder mager gefüttert, wie das Riemenzeug der Bespannung beschaffen — um das Alles kümmert er sich nicht. Wie ein Kammerherr zum Kaiser tritt mit den Worten: „Sire! Der Wagen ist vorgefahren!" so tritt ein Kutscher zweiten Ranges zu dem Oberhaupte der Stallbedienung und sagt: „Alexei Iwanowitsch, es ist angespannt!" und der wohlbeleibte Bartmann erhebt sich, leert das vor ihm stehende Glas, und geht bedächtigen Schrittes hinab in den Hof; dort bietet ihm ein Stallbedienter den Arm, auf den gestützt er gemächlich den Bock besteigt, sich in gehörige Positur stellt und winkt. Auf diesen Wink reicht ihm ein Anderer die Zügel, er windet sie sich in genau berechneter Entfernung von den zu leitenden Rossen um die Hände, streckt dann beide Arme kerzengrade vor sich hinaus, stellt sich fest in den Bock — denn sitzen kann und wird er nie — und, stolz wie der Kaiser auf seinem Thron, fährt er vor. Man kann wirklich sagen, der Mann rührt selbst in seinem Dienste weder Hand noch Fuß; letzteren kann er kaum rühren, denn er steht fest gestemmt darauf, und von der Bewegung der Ersteren werdet Ihr nichts gewahr, denn er lenkt die feurigen Rosse unscheinbar mit dem Druck des kleinen Fingers, und wirft sich nur aus Affektation beim plötzlichen Halten mit dem ganzen Oberkörper zurück, die Arme, wie beim Schwimmen, fest an die Brust schließend. Nach einer Promenade von einer halben Stunde kehrt er zurück. Sobald der Kaiser ausgestiegen, fährt er auf den Hof. Dort erwartet ihn bereits ein Stallbedienter, der die Pferde beim Zügel fasst; ein anderer reicht ihm die Hand; er stützt sich darauf zum Herabsteigen vom Bock, und ist das vollbracht, wirft er einem Kutscher die Zügel zu und — geht von dannen, denn sein Tagwerk ist vollbracht. Er hat den Kaiser gefahren, darin besteht sein Geschäft. — Dabei hat der Mann Offiziersrang, mehrere Tausend Rubel Gehalt, und lebt, wie man zu sagen pflegt, wie Gott in Frankreich. — Aber die Medaille hat auch ihre Rückseite; denn so gut der Kaiser ihm befiehlt, nach Kamini-Ostrow zu fahren, ruft er ihm auch gelegentlich beim Einsteigen wohl zu: „nach Moskau", und wie es die sieben Werst dorthin ging, so geht es auch die 726 ½ Werst hierhin, und der Weg wird zurückgelegt, ohne auszuruhen, ohne abzusteigen, ohne etwas zu genießen, ohne nur ein Auge zu schließen.

Zwar sind auf dem ganzen Wege in gewissen Entfernungen kleine Absteighäuser für den Kaiser Alexander erbaut worden, aber Nicolai bedient sich deren nicht, er steigt in der Regel in Moskau zum ersten Male wieder aus, und da auf den Stationen das Umspannen mit Blitzesschnelle geschieht, so hat der Kutscher kaum Zeit, ein Glas Wodka hinabzustürzen. Auf jeder Station steigt ein anderer Postillon zu ihm auf den Bock, doch dieser darf höchstens die Pferde antreiben; die Zügel gibt jener nie aus der Hand, und so legt er die hundert und vier deutsche Meilen zurück, stehend, mit ausgestreckten Armen, ohne Nahrung, unter der angespanntesten Aufmerksamkeit, jeder zufälligen Witterung Preis gegeben, so gut auf dem Bock des Wagens bei 24 Grad Hitze, als auf dem des Schlittens bei eben so viel Grad Kälte; auch war der Fall schon da, dass, in Moskau angelangt, er unfähig war, vom Bock zu steigen; vier Menschen hoben ihn herunter, der ganz steif geworden, dem die Augen weit aus dem Kopfe gequollen waren, dem zur Ader gelassen, und in ein Bad gelegt werden musste, um den erstarrten Gliedern, den überreizten Nerven nur wieder Leben und Geschmeidigkeit zu geben. Kein Deutscher hielte solche übermenschliche Strapazen aus; der Russe tut es mit Leichtigkeit, wenn er muss, er, der sein ganzes Leben lang am liebsten gar nichts täte, wenn er dürfte.

Ein ähnliches Bewandtnis wie mit den Kutschern hat es mit den Kabinetts-Kurieren. Deren zwei sind fortwährend du jour im Kabinett des Kaisers. Ein Adjutant bringt einem solchen um zwei Uhr Nachts eine Depesche nach Lissabon oder Neapel, und eine halbe Stunde darauf hat derselbe bereits die Hauptstadt im Rücken. Und wohl ihm, wenn solche Reisen ihn treffen; das sind Erholungstouren, denn bis zur Grenze gelangt er bald, und dann macht er sich's bequem, benutzt Eisenbahnen und Post-Chaisen, die, selbst wenn sie überall so schlecht wären, wie auf dem Wege von Wien nach Prag, doch immer noch Staatskarossen sind gegen eine russische Britschka. Auf solch einem hölzernen Wagen, ohne Lehne, ohne Federsitz, in gleicher Höhe mit den Seitenleitern, auf einem Brett sitzend, das nur mit einem dicken ledernen Polster bedeckt ist, fährt so ein Mann im gestreckten Galopp auf den elendesten Wegen, ohne Ruhe noch Rast, nach Odessa, nach Chiwa, ja nach Peter-Paulshaven, 12.800 Werst von Petersburg. Dabei darf der Kurier, so lange er im Reiche ist, bei Kassation kein Auge zum Schlafen schließen. Bei so angestrengten Reisen, wie die letztgenannte, übermannt denn doch endlich die Natur den Diensteifer, und gönnt sich einige Ruhe; dessen ungeachtet ist der Fall schon öfter eingetreten, dass die Depesche am Ort ihrer Bestimmung ankam, aber von ihrem Träger nicht übergeben ward: der lag als Leiche im Wagen.

Minder beschwerlich als dieses Kurier-Reisen, aber für den Fremden immerhin nicht angenehm, ist das Reisen mit Extrapost oder Diligence. Bei Ersterem ist er sehr dem Zufall Preis gegeben. Reist er von Petersburg mit einem guten Padroschnick (amtliche Anweisung auf Pferde) versehen, und trifft keine Konkurrenz auf den Stationen, so kommt er ganz leidlich fort. Hat er jenen nicht, oder stößt er auf Pferdemangel bei den Postämtern, so kann er getrost alle Berechnung seiner Reise-Route streichen und statt deren ein: „Wie Gott will!" hinschreiben. Ja, hat er endlich seine Pferde und ist schon weit von der Station entfern, so kann ihm deshalb Niemand verbürgen, dass er nun direkt die nächste erreiche, denn begegnet ihm ein Kurier, oder ein Offizier, der in Dienstsachen reist, und es ist diesem irgend ein Unfall mit seinen Pferden begegnet, so spannt er ihm, ohne lange zu fragen, die seinen aus, und lässt ihn, unbekümmert über sein Schicksal, ohne Pferde mitten auf der Landstraße liegen. Wer zu Schlitten, nur von Riga bis Petersburg, auf einer, doch noch menschlichen Straße fährt, der kann von Glück sagen, wenn er in der Nacht nicht verloren geht, und muss sich beim feinen Gehör seines Postillons bedanken, wenn der sein Geschrei vernimmt, anhält und wartet, bis der Abgeflogene sich wieder in den Schlitten gefunden hat. Wer daher von Petersburg um nach Moskau, oder nach der preußischen Grenze, fahren will, dem rate ich unbedingt zur Diligence, die sowohl nach Moskau, als auf diesem Wege bis Tauroggen, sehr bequem und ganz auf deutsche Weise eingerichtet ist; dabei fährt man ungemein rasch und äußerst billig. Die Person kostet von Petersburg bis Tauroggen etwas über dreißig Taler Pr. Courant. — Wer aber tief ins Innere des Reiches reisen muss — den mag Gott geleiten!

Steigt der Fremde nun müde und zerschlagen in Petersburg von seinem Reisewagen, so hat er noch wieder ein kleines Wagnis zu bestehen, bis er, auf einer Droschke, in sein Quartier gelangt. Dieses Fahrzeug besteht aus einem, vier Schuh langen, gepolsterten Sitz, der hinten eine, einen Schuh hohe Lehne, und an beiden Seiten Spritzleder hat, die den Schmutz der Räder abwehren. Am sichersten sitzt er noch à cheval darauf, denn von der Seite sich platzierend, ist es mehr ein Hängen oder Schweben, das jeden Augenblick sich in ein Liegen auf dem Pflaster auflösen kann. Letzteres ist sehr schlecht, obschon es fast fortwährend repariert wird; der, teils sandige, teils morastige, Boden ist Ursache davon, dass ihm nie eine dauerhafte Unterlage gegeben werden kann. Dagegen sind verschiedene Straßen, wie die Newsky-Perspektive, die große und kleine Morskoje und einige andere mit Holz gepflastert, was für die Fahrenden, so wie für die Häuserbesitzer in diesen Straßen, höchst angenehm ist, denn wo diese Pflasterungsart nicht existiert, leiden, besonders in nicht sehr breiten Straßen, die Häuser durch die Erschütterung, welche das immerwährende Fahren verursacht, ungemein. Selbst der Newsky verlor dadurch eine seiner schönsten Zierden; er war zu beiden Seiten mit einer Allee Bäume bepflanzt, denen aber das fortwährende Wagengerassel so unleidlich wurde, dass, um ihm zu entfliehen, sie samt und sonders — ausgingen.

Die Holzpflasterung ist, von dem Nutzen für Wagen und Gebäude ganz abgesehen, sowohl den Fahrenden selbst, der gleichmäßigen, angenehmen Bewegung wegen, als den Bewohnern jener Straßen, des verminderten Geräusches halber, höchst willkommen. Für die Pferde dagegen ist sie sehr gefährlich, besonders bei feuchter Witterung, wo sie leicht ausgleiten und dadurch beschädigt werden können. Dieses Pflaster ist höchst kostspielig, sogar in Petersburg, wo das Holz doch in keinem Preis-Verhältnis zu Deutschland steht. Auch ist die Arbeit sehr mühsam. Zuerst wird eine Lage von Mauersteinen, oder besser von viereckig gehauenen Holzklötzen, von einem Kubikfuß ungefähr, dicht an einander gefügt; dann werden sämtliche Ritzen mit Pech ausgefüllt, und die ganze Lage damit übergossen; hierauf kommt nun das eigentliche Pflaster von Holz. Es besteht wiederum aus ähnlichen Holzklötzen, wie die erste Lage, und wird ganz in derselben Art behandelt. Die Holzklötze werden ganz einfach mit dem Beil behauen, aber es ist bewundernswert, mit welcher Genauigkeit dies geschieht; sie gleichen sich durchgängig, wie ein Tropfen Wasser dem anderen, und sind so glatt, als ob der Hobel mit großer Vorsicht angewendet worden wäre. Dies Pflaster hält länger, als das gewöhnliche von Stein, indessen sieht man doch auch fortwährend daran bessern. Louis Philipp machte einmal den Vorschlag, ganz Paris für seine Rechnung mit Holz zu pflastern; die Großmut spielte dabei wohl keine Rolle, und eben so wenig die Aussicht auf Bequemlichkeit; ihm lag nur daran, dem Barrikaden-Pflaster ein geringeres Gewicht zu verleihen.

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

012 St. Petersburg, Droschke

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Armenisches Büffelgespann

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Tarantaß - Russlands Postkutsche

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Pferdeschlitten

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Drohsky-Fahrer bei der Teepause

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Eine Troika

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