Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 14. Justiz.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Eine gleiche Bewandtnis, wie mit der Polizei, hat es in Russland mit der Justiz. Die russischen Gesetze sind größtenteils vortrefflich, nur scheitern die Intentionen der Legislatoren häufig an den Personalitäten der Exekutoren. Von diesen hängt nun freilich in der ganzen Welt die wahre Wirkung der Gesetze ab, und hier ist die Stelle, wo der untergeordnetere Grad der Kultur in Russland am deutlichsten hervortritt. Auch ist die Handhabung der Justiz daselbst durch den Umstand sehr erschwert, dass seine gesamte Gesetzgebung auf Massen beruht, deren im Laufe der Jahrhunderte eine so ungeheure Masse angewachsen, dass Hunderte von Frachtwagen kaum zureichen würden, sie sämtlich zu fassen. Natürlich finden sich darunter sehr viele im kontradiktorischen Sinne, und da, besonders in früherer Zeit, der Erlass einer neuen Ukase die, auf denselben Gegenstand im widerstreitenden Sinne sich beziehenden, früheren nicht immer ausdrücklich aufhob, so besteht die hauptsächlichste Rechtswissenschaft in der Kenntnis all dieser Ukasen, von deren Berufung aus einer früheren Zeit oft das richterliche Urteil abhängt, das nach den allgemein bekannten und herrschenden Gesetzen wohl ein ganz entgegengesetztes gewesen wäre. Der Kaiser, diesen großen Missstand fühlend, ernannte auch gleich nach seiner Thronbesteigung eine eigene Revisions-Kommission, deren Aufgabe es war, all diese verschiedenen Ukasen zu sondern, zu ordnen, in Harmonie mit einander zu bringen, und aus ihnen ein allgemeines Gesetzbuch zu entwerfen, das in der Tat vor mehreren Jahren zu Stande kam und einen Umfang von mehr als zwanzig Folianten bildete. Eine zweite Kommission ist nun zeither beschäftigt, diese volumes compendieux zu bearbeiten, und nach diesem Maßstab fortschreitend, darf Russland mit der Zeit einer geregelten Gesetzgebung entgegensehen, die dem allerdrückendsten Bedürfnisse abhelfen dürfte, welches es bisher fühlt.

Doch selbst in ihrem jetzigen Zustande sind die russischen Gesetze nicht nur dem Geiste und Charakter des Volkes angemessen, sondern die meisten derselben sind auch human, humaner als man, nach der über Russland verbreiteten Meinung, glauben sollte. So herrschen z. B. bei sämtlichen Gerichten keine Sporteln. Die Stempelgebühr abgerechnet, kostet gesetzlich die Durchführung eines Prozesses bis zu dessen letzter Entscheidung die Parteien keinen Kopeken. So will es das Gesetz! Wie wird dies aber gehandhabt? — Bei der geringsten Beschwerde, die der Kläger einreicht, findet schon der sie in Empfang nehmende Aktuar oder Sekretär, dass die Form gänzlich verfehlt sei, und erbietet sich sehr artig zu einer regelrechten Abfassung. Das ist nicht mehr noch minder, als ein indirektes Gesuch um zwanzig Rubel Banco. Der in die Verhältnisse nicht Eingeweihte, der die Abfassung seiner Bittschrift — denn dort ist Alles „Bittschrift" — in gehöriger Ordnung findet und auf deren Annahme besteht, kann versichert sein, dass seine Eingabe in gehöriger Ordnung — ad acta gelegt wird; der Eingeweihte aber wartet diese bedeutsame Kritik seiner „Bittschrift" nicht ab, sondern fügt ihr sofort die rektifizierenden zwanzig Rubel bei, und — die Sache geht ihren Gang; nur ist zu bedauern, dass der geringste Prozess wohl zwanzig und mehr solcher „Bittschriften" erfordert, deren jede erst einem Encouragement von zwanzig Rubeln ihr Entstehen verdankt, wodurch oft die Summe eines vollständig gewonnenen Prozesses, ohne alle gerichtliche Kosten, die Höhe der gehabten Monierungs-Spesen nicht zur Hälfte erreicht. Gehen die Beamten bei diesem Verfahren von dem moralischen Grundsatz aus, dem Volke das Prozessieren zu verleiden, und es so viel als möglich auf den Weg des gütlichen Vergleiches hinzuweisen, so erreichen sie vollkommen ihren Zweck.

Sprichwörtlich ist es in Russland: Recht bekommt Jeder — der es erlebt; und in der Tat ist sein Recht erkämpfen oft minder schwer, als das Erkämpfte zu erhalten. So hatte Jemand einen Prozess in aller Form gewonnen, aber in Besitz des Urteils zu kommen, gelang seinen angestrengtesten Bemühungen nicht. Endlich nahm er seine Zuflucht zur List; er suchte den Referenten in seiner Sache auf, trug ihm sein Gesuch vor, und nachdem er sich von demselben ausführlich die Schwierigkeiten hatte herzählen lassen, die bei den gedrängten Geschäften der Erfüllung seines Wunsches sich entgegenstellten, zog er die Brieftasche hervor, nahm ein Päckchen Banknoten heraus, riss es von oben nach unten in der Mitte durch, und die eine Hälfte dem Manne des Rechtes überreichend, sagte er: „da jeder Hälfte die an der andern Seite gleiche Nummer fehlt, so nutzen sie uns Beiden nichts; meine Hälfte gebe ich verloren, bei Ihnen steht es, der Ihrigen die volle Valuta zu verschaffen." — Anderen Tages empfing er den Besuch eines sehr freundlichen Mannes, der ihm den wohlwollenden Vorschlag machte, das mitgebrachte, rechtskräftig ausgefertigte, Urteil gegen die, ungültig gewordene, Hälfte nichts bedeutender, alter Banknoten umzutauschen.

Wie selbst Männer von anerkannt rechtlichem und hochachtbarem Charakter das Recht handhaben, wie sie ihm den materiellen Vorteil des Staats selbst auf Kosten einzelner Individuen vorziehen, davon liefert nachstehender Fall aus dem Geschäftsleben des berühmten Finanzministers Cancrin einen sprechenden Beweis.

Einer seiner Spione — denn kein Verwaltungszweig in Russland ermangelt derselben — hinterbrachte ihm die Nachricht, dass einer der öffentlichen Geld-Einnehmer bedeutende, ihm überlieferte, Summen angegriffen.

In Deutschland würde auf solche Denunziation sofort Kassen-Revision erfolgen. Cancrin beeilte sich damit nicht, sondern trat in sein Bureau, und rief einem, am untern Ende des Saales arbeitenden, Sekretär laut zu: er möge die betreffenden Beamten unterrichten, dass über acht Tage sämtliche öffentlichen Kassen der Residenz inspiziert werden würden. Natürlich erfuhr der Denunzierte eine Stunde später die ihm so hochwichtige Nachricht. Er lief nun eilig zu Juden und Türken und borgte auf einige Tage die fehlende Summe. Die Woche ging hin und die Revision begann. Zu dem Denunzierten kam der Finanzminister in eigener Person. Die Bücher wurden kontrolliert, und der Bestand mit dem der Kasse verglichen. Dank seinen getäuschten Geschäftsfreunden, stimmte die Kasse auf einen Kopeken. Mit zufriedenem Blick ließ Cancrin die Gelder wieder in den eisernen Koffer packen, schloss eigenhändig zu, und — steckte den Schlüssel in die Tasche.

Eine Stunde darauf empfing der receveur-général seine Demission.

Ein pflichtvergessener Beamter war der Spazierfahrt nach Sibirien entgangen, dem Rechte sein Opfer, und mehreren ehrlichen Männern ihr Eigentum, als Lohn zutrauensvoller Gefälligkeit, — aber dem Staate war die angegriffene Summe gerettet, und dem Minister seine Responsabilität. So werden in Russland die Gesetze umgangen, doch nicht in allen Füllen mit gleicher scheinbarer Milde.

Die Humanität der russischen Gesetzgebung hat längst die Todesstrafe abgeschafft, mit alleiniger Ausnahme bei Fällen des Hochverrats. Selbst nach der großen Militär-Verschwörung von 1825 büßten nur sieben der Häupter derselben ihr Verbrechen mit dem Leben: für eine so weit verzweigte Verschwörung sicher eine nur geringe Zahl. Freilich ist die, die Todesstrafe ersetzende Knute fürchterlich; aber auch hier erheischen die darüber verbreiteten Begriffe eine Berichtigung. Russland und Knute sind bei uns so identische Begriffe geworden, dass man geneigt ist, zu glauben, das geringste Versehen gegen die bestehenden Gesetze, dessen auch der rechtlichste Mann sich schuldig machen kann, brächte mit der Knute in nähere Berührung, oder jedem subalternen Polizei-Offizianten stände es zu, sie nach Belieben zu manipulieren. Nun aber kann die Knute bei keinem anderen Verbrechen in Russland zuerkannt werden, als worauf in Deutschland gesetzlich der Tod steht, und die Vollstreckung des Urteils, ohne eigenhändige Unterschrift des Kaisers, niemals vollzogen werden. Die Zahl der zuerkannten Streiche übersteigt selten deren sechs; allerdings ist manchmal der erste zur Tötung eines Menschen genügend; indessen sind Beispiele vorhanden, dass Verbrecher deren zehn überstanden, und dann noch ein langes Büßerleben in den Bergwerken Sibiriens verbracht. Das Schreckliche der Knute, woher auch ihre traurige Berühmtheit stammen mag, war deren früherer Missbrauch, denn noch zu Kaiser Pauls Zeiten emanierte das Urteil oft einfach und direkt aus der Kammerjustiz. So ward auf seinen Befehl ein Pope, der einen Lesekreis hielt, wegen Verbreitung eines verbotenen Buches zur Knute und lebenslänglichen Verbannung nach Sibirien verdammt; so sprach der, mit der äußersten Strenge gepaarte, Gerechtigkeitssinn jenes Zaren einen ähnlichen fürchterlichen Spruch über den Urheber eines Vergehens aus, das sich in der Garnison zugetragen, eine delikate Angelegenheit betraf, und dem Kaiser wohl entstellt zu Ohren gekommen sein mochte. Inzwischen hatte er im ersten Zorne sein Wort verpfändet und eine Untersuchungs-Kommission ernannt, der der wahre Schuldige schwerlich, oder unmöglich, hätte entgehen können. Diesem fürchterlichen Unglücke vorzubeugen, opferte sich großmütig ein Unteroffizier der preobressent’schen Grenadiere für seinen jungen Chef und gab sich selbst als Schuldigen an. Die ahnende Kommission, von einer drückenden Last entbunden, beschleunigte Untersuchung und Exekution; einflussreiche Vermittlung machte die körperliche Züchtigung zu einer abschreckenden Form, und der großmütige Grenadier wanderte nach Sibirien, wo er in Überfluss lebte, bis ein Kabinetts-Kurier des neuen Kaisers ihm seine Rückberufung und Versorgung überbrachte. Die Unterzeichnung dieses Kabinettsschreibens soll der erste Akt des jungen Regenten gewesen sein.

Solche Eigenmächtigkeiten finden nicht mehr statt, und eher möchte des Kaisers allzu große Nachsicht zu tadeln sein, als seine Strenge. Namentlich wäre, was die Bürokratie betrifft, Peters des Großen „Dubina" gar häufig an ihrem Platze. Ich leugne es nicht: Justiz und Polizei ist die partie honteuse des russischen Reiches. Lässt sich da auf eine Vortrefflichkeit der Beamtenwelt schließen? Der Kaiser, der, wie gesagt, Alles weiß, aber nicht Allem abhelfen kann, tut sein Möglichstes, dem Übel zu steuern, und hat vor ungefähr sieben Jahren, durch Ernennung des herrlichen Perowsky zum Minister des Innern, einen bedeutenden Schritt zur Abschaffung der größten Übelstände getan; aber wird dieser seltene Mann bei der Korruption des Beamtenstandes fähig sein, hinlänglich und dauernd durchzugreifen? wird er den Intrigen und Kabalen entgehen, die das alte, durch ihn in seinen innersten Grundfesten bedrohte, Regime gegen ihn spielen lässt? Im Beamtenstande findet er seine erbittertsten Feinde und nur die Gunst des Kaisers kann ihn halten, während die Wünsche des Volkes, das ihn anbetet, für die Dauer seines Regiments zum Himmel steigen. — Die Polizei zu überführen, was für feile Beamte in ihren Reihen sich befinden, ließ er einst den Chef derselben zu sich entbieten, und teilte ihm die, ihm gemachte, Anzeige mit, dass allnächtlich in einem designierten Hause hochverpönte Hazardspiele stattfänden. Er verlangte zwei der zuverlässigsten Beamten und entsendete sie in der Nacht nach dem bezeichneten Hause. Dieses ward cernirt, und nun begaben sich die Diener der öffentlichen Ordnung in die bezeichneten Lokale. Sie fanden dort an einem runden Tische eine Gesellschaft von sechs bis acht Herren, in enger Vertraulichkeit mit dem König Pharao, der eben von dem, auf dem Tische aufgehäuften, Golde je nach seiner Laune unter seine Günstlinge die Gaben des Glückes verteilte. In flagranti ertappt, sollten die überraschten Glücksritter eben den Saal der Freude mit der Hauptwache vertauschen, als es einem derselben gelang, den beiden Polizei-Tyrannen begreiflich zu machen, dass „Ecarté", wag sie eben gespielt, ein sehr unschuldiges Vergnügen gewähre, dass das, auf dem Tische aufgehäuft liegende, Geld nicht gegen sie zeuge, da sie gewohnt seien, dies Commerce-Spiel zu hohen Summen zu spielen, und um den Beweis dieser Behauptung zu liefern, bot er jedem von ihnen eine Partie „Ecarté" zu tausend Rubeln an. Die Herren nahmen den Vorschlag an, so wie die tausend Rubel, ekartirten sich, und andern Morgens stattete der Chef des Bezirks dem Minister Rapport ab, wie seine Beamten an bezeichnetem Ort die denunzierten Herren allerdings gefunden, aber nur in einem freundschaftlichen Commerce-Spiele begriffen. Perowsky ließ beide Polizei-Offizianten kommen, ihre Aussage wiederholen, und, sich darauf zu ihrem Chef wendend, sagte er: „So lernen Sie die Zuverlässigkeit der Männer kennen, denen Sie Ihr Vertrauen schenken, und die die Wächter des öffentlichen Wohles sein sollen." Damit öffnete er eine Seitentür und zeigte den bestochenen Dienern des Staats im Nebenzimmer, rund um einen grünen Tisch sitzend, dieselben Männer von gestern Nacht, in derselben Ordnung und dasselbe Hazardspiel spielend. — Verkleidet, mit langem Barte angetan, ging Perowsky in Läden und Buden, kaufte Zucker, Fleisch und Butter, und untersuchte nach abgeschlossenem Handel das Gewicht. Mancher Laden wurde geschlossen, aber alle Hausfrauen jubelten über die plötzliche Zunahme von Maß und Gewicht.

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

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Gefangennahme von Zivilisten 1913

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Auf dem Weg zur Hinrichtung

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