Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 13. Polizei.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Die Stellung der Polizei ist in diesem wunderbaren Lande eine ganz eigentümliche. Russland ist im strengsten Sinne des Wortes ein Polizeistaat, und wie sämtliche Einrichtungen der Aufsicht der Polizei unterworfen sind, ist auch ihre Verantwortlichkeit eine ungeheure. Sich derselben so viel als möglich zu entziehen, halten, besonders subalterne Beamten, sich buchstäblich an die, ihnen erteilten, Befehle, woraus oft die gröbsten Absurditäten entspringen. So existiert ein Polizeibefehl, dass bei Aufgang der Newa, so wie dies Ereignis der Polizei angezeigt wird, dieselbe sofort Posten an beiden Ufern derselben aufstelle, um zur Vermeidung jedes Unglücksfalles deren Überschreiten zu verhindern. Nun hat sich der Fall nicht selten ereignet, dass die, zur Ausführung dieser Ordre bestimmten, Budschnicks (straßenwachthabende Polizeidiener) dieselbe zu streng à la lettre nahmen, und nicht nur von ihrem Ufer aus jeden Übergang wehrten, sondern auch denen, welche sich bei Aufgang der Newa bereits auf derselben befanden und nun mit Lebensgefahr das Ufer erreicht hatten, gewaltsam das Landen verwehrten, weil sie Ordre hätten, Niemanden mehr das Eis passieren zu lassen. — Eine ähnliche, allzu buchstäbliche, Auslegung des Gesetzes über Feuersgefahr erzeugte ein ungeheures Unglück bei dem Brande der Lehmannschen Bude, wie unten mitgeteilt werden wird.

Wer hat nicht von den Schwierigkeiten gehört, die die Pass-Angelegenheit den Fremden verursacht? Und doch ist dem so leicht abgeholfen, kennt man nur erst den einfachen Gang dieses Geschäfts. Bei der Ankunft in Petersburg wird dem Fremden, gegen Empfang einer Aufenthaltskarte, der Pass abgenommen und im Archiv des Fremden-Büros, bis zu dessen Abreise, deponiert. Drei Wochen vor derselben hat er seine bevorstehende Entfernung aus Russland — denn Reisen im Inlande unterliegen durchaus keinen Schwierigkeiten — wöchentlich ein Mal in der Petersburger Zeitung bekannt zu machen; in dringenden Fällen kann diese Annonce auch in kürzerer Zeit erfolgen. Den Tag nach derem dritten Erscheinen legt er die Inserate dem Schasneprice (Viertels-Kommissarius) vor. Hat sich auf die Veröffentlichung Niemand bei diesem gemeldet, der Schulden, oder sonstiger Ursachen wegen, auf Beschlagnahme des Passes anträgt, so fertigt er hierüber eine amtliche Bescheinigung aus. Mit dieser geht nun der Fremde aufs Passbüro, wendet sich an den ausfertigenden Beamten, und überreicht ihm seine Aufenthaltskarte, das dreimalige Inserat, die Bescheinigung des Schasneprice und ein Billet — von zwanzig Rubeln B. Der Beamte nimmt Alles in Empfang und ersucht den Überreicher höflichst, sich Nachmittags drei Uhr gefälligst wieder herzubemühen, wo er versichert sein kann, auf das Artigste empfangen und auf das Schnellste expediert zu werden. Ist dies nicht der Fall, so trägt der Fremde allein die Schuld, denn dann hat er sicher eines der Beweisstücke abzugeben vergessen, und da der Beamte nur nach den drei ersten frägt, das vierte aber der freien Tätigkeit des Gedächtnisses überlässt, so hat der Fremde auch nur die Nachlässigkeit des seinen anzuklagen, wenn der Pass nicht eher erfolgt, bis ein reifliches Besinnen ihm das untrügliche Mittel zur schnellsten Ausfertigung des Passes eingibt.

Eine der Hauptaufgaben der Polizei betrifft ihre Tätigkeit bei Feuersgefahr. Die Löschanstalten sind im Ganzen in Petersburg vortrefflich. Von Feuerlärm weiß man nichts. An hohen Punkten, Türmen und Säulen, die dazu eingerichtet, sind Tag und Nacht Wächter aufgestellt, die bei entstehenden Feuerausbrüchen telegraphische Zeichen unter einander befördern, und so die Behörden auf das Schnellste und Sicherste unterrichten. Durch geregelte, rasch in einander greifende, Tätigkeit wird ein ausbrechender Brand gewöhnlich schnell gehemmt, und sind die Feuerschäden, seltene Ausnahmen abgerechnet, wie z. B. der unglückliche Brand im Winterpalais, selten von großer Bedeutung. Es brennt lichterloh im dritten Stock, aber deshalb fällt Niemandem ein, im zweiten zu räumen; freilich kommt hierbei den Löschanstalten die solide Bauart der Häuser zu Statten. — Sobald die Behörde sich auf dem Terrain des Brandes befindet, hört jede anderweitige Tätigkeit auf. Die beorderten Löscharbeiter schreiten sofort ein, und die Wirksamkeit wird mit so viel Umsicht und Eifer betrieben, dass dem verheerenden Elemente selten ein großer Spielraum verstattet wird. Überraschend bei diesen Löschapparaten ist die seltene Schönheit der Pferde vor den Spritzen. Man sieht deren hier oft von den edelsten Rassen, der schönsten Farbe und Gestalt, und das Merkwürdigste dabei ist, sie kosten den Behörden keinen Kopeken. Das Rätsel löst sich folgendermaßen. Geht Ihr mit einem Freunde durch das wogende Gedränge der belebtesten Straßen, sucht Ihr ängstlich und scheu Euch durch die Wagenburgen des Newsky, der Morskoy usw. einen Weg zu erschlängeln, und den jagenden Equipagen auf das Vorsichtigste auszuweichen, so geht der Petersburger mitten durch das Gedränge fest und unverzagt, und antwortet auf Eure ängstliche Besorgnis, von den Kutschern übergefahren zu werden, ganz kurz: „das dürfen sie nicht." Da die Regierung nämlich, und nicht mit Unrecht, von der Ansicht ausgeht, dass die meisten Unglücksfälle durch Überfahren ihren Ursprung in der Leichtfertigkeit der Kutscher haben, so ward ein Gesetz in dieser Beziehung gegeben, das kurzweg lautet: „Wer einen Menschen überfährt, wird sofort arretiert, geschoren und dem Militär eingereiht; Pferde und Wagen werden konfisziert und der Polizei übergeben, welche die ersteren den Feuerspritzen zuteilt. Ist der Übergefahrene bedeutend beschädigt oder gar getötet worden, so hat der Equipagenbesitzer die Kosten seiner Herstellung, event. die seiner Beerdigung und eine Entschädigungssumme für die Hinterlassenen zu zahlen." — Der erste Punkt kann mit Geld abgemacht werden, und der Fall war schon da, dass eine Herrschaft ihren, auf diese Weise der Strafe verfallenen, Kutscher mit tausend Rubeln, und auch mehr, loskaufte. — Das Gesetz ist etwas streng, aber zur Verhütung von Unglück heilsam und notwendig.

Dennoch wird Mancher, trotz dieser vorkehrenden Strenge, überfahren, dennoch entstehen, trotz der vortrefflichen Feuerverordnungen, zuweilen große Brände, die nicht selten gerade durch zu buchstäbliche Befolgung heilsamer Anordnungen unheilvoll und verheerend werden. Der nachstehende Fall liefert einen traurigen Beleg für diese betrübende Wahrheit.

Das größte und gewiss auch nationalste Fest der Russen findet in der Maslinizza (Butterwoche) statt. Es ist dies der Schluss des Karnevals, oder vielmehr der eigentliche Volks-Karneval. Er dauert eine ganze Woche hindurch und es finden hierzu die ungewöhnlichsten Vorbereitungen statt. Der Hauptschauplatz dieses großartigen Festes ist der Admiralitätsplatz; auf ihm werden schon vierzehn Tage vorher Buden der verschiedenartigsten Formen, Größen und Einrichtungen erbaut. Sieben dem einfachen Stand der Maronen- und Pfefferkuchen-Verkäuferin prangt der umfangreiche Circus eines de Bach oder Lejars; hart an der Bude eines Marionetten-Theaters erhebt sich die kolossale Bühne einer italienischen Pantomime; hier lehnt sich eine Schenkstube an die Wand einer Menagerie, dort gleitet man von den haushohen Rutschbergen bis an den Fuß eines Treibhauses herab. — Dieses scheinbar bunte Gewirr ist nach einem bestimmten Plane geregelt, und von Straßen für Fuhrwerke und Reiter, so wie von zahllosen Fußwegen durchschnitten. Mit dem frühen Morgen des ersten Tages der Maslinizza bevölkert sich dieser ungeheure Raum; ganz Petersburg ist auf den Beinen und strömt hier in immerwährender Abwechslung ab und zu. Alle Geschäfte sind unterbrochen, denn diese acht Tage sind ausschließlich dem lärmenden Volksvergnügen geweiht; während ihrer Dauer herrscht reine und unumschränkte démocratie sociale; kein Betrunkener wird bestraft, kein schwärmender Nachtvogel eingefangen; selbst Diebe überliefert man nur selten der Polizei und zieht es vor, an ihnen auf der Stelle eine gelinde Lynch-Justiz zu üben; doch lässt sich aus den, dabei tätigen, gewichtigen Fäusten schließen, dass die Patienten nie so sehnsüchtig Polizei-Bestrafung und Bewachung herbei wünschen mögen, als in solchen verhängnisvollen Augenblicken. Mit frühem Morgen erfüllt die niedrigste Volksschichte bereits die größten Räume dieses enormen Marktes; was ist gegen diesen Taumel, dieses Gedränge, diesen Zusammenfluss von Menschen eine Frankfurter oder Leipziger Messe, ein Markt von Beaucaire? Nur dass die Ausländer fehlen, deren Anwesenheit freilich das Charakteristische dieser merkantilischen Einrichtungen ist; aber an Tumult, Gedränge und Lärmen erreichen sie die Petersburger Maslinizza nicht. Gegen zwei bis drei Uhr speien nun sämtliche Theater, welche während dieser acht Tage täglich zweimal Vorstellungen geben, die ungeheure Masse ihrer Besucher aus, die nun in langen, dichtgedrängten Zügen nach dem Admiralitätsplatz wallen, und von den, vom großen Volke noch leer gelassenen, Räumen einen wandelnden Besitz nehmen. Bald darauf füllen die Equipagen der, ebenfalls aus den Theatern zurückkehrenden, vornehmen Welt die Fahrwege und bewegen sich — ein Corso im glänzendsten Style — langsam und reihenweise durch die künstlichen Straßen des Marktes, durch den dichten Knäuel der gedrängten Volksmassen. Der Hof fehlt selten in diesem, mit Jubel begrüßten, Zuge, und nach einer stundenlangen Fahrt in Schlitten und Wagen begeben sich die prachtvollsten derselben gewöhnlich nach dem Newsky-Prospekt, wo ihre Inhaber aussteigen zu dem glänzendsten Spaziergange, der sich denken lässt. Welch' ein kolossaler Reichtum wird da entfaltet, welch' ein auserlesener Geschmack zur Schau getragen! Millionen prangen da in dem Glanze der prachtvollsten Equipagen, deren Viergespann nicht selten den Wert eines mäßigen deutschen Bürger-Reichtums in sich fasst; in den kostbaren Pelzen, die an Leichtigkeit der persischen Shawls, durch ihre Wärme der Kälte des russischen Winters spotten. Von der Newsky-Promenade geht es zum Diner, auf das wiederum die Besuche der Theater und Konzerte folgen. Inzwischen bewegt sich die taumelnde Masse auf offener Straße bis tief in die Nacht. Wer dann sein Haus zu finden im Stande ist, kehrt jubelnd in dasselbe zurück; wer sein Lager wankend, strauchelnd, niedersinkend, unwillkürlich an irgend einem Eckstein oder in einer Straßenrinne sucht, wird nach Verlauf des Tumultes von den umherstreifenden Patrouillen und Polizeidienern auf die Wache gebracht, wo er die Seligkeit seines Rausches im warmen Zimmer auf einer Pritsche ausschläft, und, erwacht, am nächsten Morgen ungekränkt entlassen wird, um sich aufs Neue in den Arm der rohen Sinnlichkeit zu stürzen: eine Entlassung, die, außer der Maslinizza, regelmäßig von einem Denkzeichen an die Gastlichkeit der Wachtstube begleitet wird.

Vor zwölf bis vierzehn Jahren behauptete unter sämtlichen Produktionen des Admiralitäts-Platzes während der Butterwoche die berühmte Lehmann’sche Pantomime den unbestrittenen ersten Platz. Sie hatte nicht nur die Gunst, sondern die Bewunderung von ganz Petersburg erworben; und obgleich sich ihre Produktionen alle zwei oder anderthalb Stunden wiederholten, war der Zuschauerraum doch stets, zum Erdrücktwerden, gefüllt. In einer Mittagsstunde erscholl das Parterre eben vom Beifallsjubel der entzückten Zuschauer, als — schrecklicher Zufall! gerade der Harlekin auf die Bühne stürzte mit dem Rufe: Feuer! sauve qui peut! — Ein allgemeines Lachen folgte diesem scheinbar schlechten Witze, und raubte den Unglücklichen die letzten Momente einer möglichen Rettung; denn einige Augenblicke später brach schon das furchtbare Element in verheerenden Strömungen durch alle Kulissen des hölzernen Gebäudes; nun stürzten die, den Toren am nächsten Stehenden, im wilden Andrang auf dieselben zu; aber ach — unglückseliger Weise waren diese nach innen zu öffnen, und den Verzweifelnden so jeder Ausgang versperrt. Da trat einer der Arbeiter des Theatermaschinisten Roller, der bei dem Bau der Bude beschäftigt gewesen war, hinzu, und begehrte eine Axt, versichernd, dass er die Fügungen der Bretter und Balken genau kenne, und so im Stande sei, durch Einreißen einiger derselben den Bedrängten Luft zu verschaffen; aber der diensttuende Budschnick widersetzte sich jeder Einschreitung, bevor die Polizei gekommen, ihre Ordres zu erteilen. Die dringende Not überwand endlich jede Rücksicht, man beseitigte den, die Gesetze allzu buchstäblich befolgenden, Exekutor derselben, einige Männer ergriffen Äxte und bald sank eine Bretterwand des, in Flammen stehenden, Gebäudes:— entsetzlicher Anblick! ein dichter Qualmstrom drang den Rettenden entgegen, und als sich dieser verzogen hatte, sah man, in dicht gedrängten Reihen, Männer, Weiber, Kinder, Greise starr und regungslos sitzen, die, auf der Bühne gegenüber, wütende Flamme scheinbar anstierend. — Der plötzliche Rauch hatte sie erstickt; kein Einziger ward gerettet.

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Ganz privat - Teestunde am Samowar

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Russisches Bauernmädchen

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Reiterstandbild Peter I.

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