Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 11. Speisen und Getränke.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Wien ist seiner Gourmandise wegen berühmt, und doch — welches Verhältnis bietet es hierin zu Petersburg? — Hier isst man viel und gut, und durch die Billigkeit der Lebensmittel ist gut essen zur Gewohnheit geworden. Keines von denen, welche das Land erzeugt, ist teuer, und was erzeugt dieses Land nicht? — Von Kartoffeln bis zu den edelsten Trauben ist hier, mit wenigen Ausnahmen, Alles vorhanden, was nur das südliche Deutschland erzeugt; Kirschen und Pflaumen nehme ich jedoch aus, die aus dem südlichen Russland nicht nach dem Norden transportiert werden können, und hier nicht fortkommen. In Treibhäusern hat man deren, und sie übertreffen an Größe und Schönheit alles, was ich in der Art im Vaterland gesehen, aber auf das Ansehen muss man sich auch beschränken; — es sind nur Schaugerichte. In den Treibhäusern der Gräfin Samailow bei Pawlowsky, drei Werst von Sarskoje-Sélo, sah ich Herzkirschen von so wunderbarer Größe und Schönheit, dass mir schien, als verdiente von allen, die ich je erblickt, keine den Namen in so voller Wahrheit; ich brach einige vom Baume, sie waren vollkommen reif und weich; aber ihr Geschmack? wie hatte mich der Schein betrogen! — eine wässerige Frucht, ohne Aroma und Saft; es schien mir, als würden hier zu Lande Kirschen — nachgemacht. Da hingegen hat man hier herrliche Wassermelonen, wie ich sie in Ungarn nicht größer und schöner gesehen; Granatäpfel von wunderbarer Schönheit, und krimmische Trauben, an Form und Größe den Cap-Trauben ähnlich; doch unterscheidet der Geschmack dieser Trauben vom schwarzen Meere, der jenen ziemlich gleich ist, sich von ihnen durch eine Herbheit, die wahrscheinlich die Frucht des allzu frühen Abpflückens ist, denn um sie transportieren zu können, werden sie noch vor der Reife vom Stock genommen, was allerdings bei den Cap-Trauben auch der Fall ist, die aber so viel natürliches Feuer in sich haben, dass sie in den Hobelspänen reifen, in die sie verpackt werden, während jene des Sonnenbrandes nicht entbehren können, und durch das Liegen wohl weich werden, aber doch nie zur eigentlichen Reife gedeihen. Dagegen gibt es in Petersburg eine solche Fülle der vortrefflichsten Orangen, dass sie förmlich verschleudert werden. Wer auf die Gefahr hin, dass sie teilweise auch verdorben sein können, eine noch ungeöffnete Tonne voll kaufen will, erhält eine solche, von der, auch bei uns üblichen Größe, um 6 Rubel B. (etwa 1 ½ Thlr. Pr. C.). Im Ausverkauf kosten, zur Orangenzeit, zehn Stück sechzig bis neunzig Kopeken B. (durchschnittlich etwa das Stück 6 Pf.). In noch ungleich erhöhterem Maße ist ein Überfluss an Fischen und Wildpret vorhanden, der sich kaum beschreiben lässt; Hirsche und Rehe fehlen indes dort gänzlich; allein Wildschweine und Hasen gibt es in Menge, und mit Hasel- und Birkhühnern, Auerhähnen und anderem Geflügel wird man bis zum Überdruss gefüttert.

Die kaiserliche Küche ist gut, sehr fein, aber außerordentlich mager; da die Herrschaften fast in einem fort essen, so muss darauf gesehen werden, dass die Speisen sämtlich sehr leicht verdaulich, mithin durchaus nicht fett zubereitet werden. Ich speiste in Peterhof von der kaiserlichen Tafel, und häufig bei einem Hofbeamten, der seinen Tisch von der zweiten Station erhielt) das Dessert war stets magnifique, aber was die Speisen betrifft, so gestehe ich, dass mir die Küche bei St. George, einem berühmten Petersburger Restaurateur, ungleich besser gemundet.

Mit den „Stationen" hat es folgende Bewandtnis: Die Kaiserin erkundigte sich einmal nach ihrem Haushalts-Etat, und fand die Summe etwas bedeutend. In einer Anwandlung von Hausfrauenlaune ließ sie sich die täglichen Rapporte mit den Spezifikationen vorlegen, und fand auf dem ersten, nach welchem sie griff, — eine Flasche Rum für den Naslednik (Thronfolger). Das frappierte sie und reizte ihre Neugierde, weiter zu blättern; aber was glich ihrem Erstaunen, als sie Jahre lang hinaus täglich eine Flasche Rum für Rechnung des Naslednik aufnotiert fand. Eine Flasche Rum täglich! Ihr jugendlicher Sohn ein so kolossaler Trinker; und zurück, und immer mehr zurück bis zur Zeit seiner Kindheit, bis zu dem schuldlosen Wiegenlager, — bis zum Tage seiner Geburt. Unerklärlich! Doch noch ein Blick auf die vorgehende Seite: Schon am Tage vor seiner Geburt! Nun war das Rätsel gelöst; ein Anderer musste gemeint sein; man forschte rastlos weiter, so gelangte man bis in die Neunziger Jahre, hier war die Flasche zum ersten Mal notiert, und eine Marginal-Note bemerkte: Wegen heftigen Zahnschmerzes auf Befehl des k. k. Hof-Medikus einen Teelöffel voll mit Zucker zu nehmen!! — Da ging der Kaiserin ein Licht auf. Weil der Kaiser Alexander als Naslednik in den Neunzigerjahren wegen Zahnschmerzen einen Teelöffel voll Rum genossen, und dieser deshalb aus dem kaiserlichen Keller geliefert worden, musste, auf alle seine Nachfolger hinab, der jedesmalige Naslednik täglich eine Flasche voll Rum leeren, mindestens ward sie auf seinen Namen notiert. Nun forschte man dem Unfug auch in anderer Beziehung nach, und das Resultat war, dass die Rechnungen aufs Haar stimmten, und auch nicht ein Kopeken verzeichnet war, der nicht verausgabt worden. — Aber wie! Das war der Kaiserin zu bunt; sie teilte diese Entdeckung ihrem Gemahle mit, der las und las, und rechnete und rechnete, und sann lange nach; endlich sagte er mit dem Ausdrucke eines Mannes, der eine tiefe Überzeugung in sich aufgenommen hat: „Das ist stärker als ich; geht's so fort, muss ich mein Land versetzen, um meine Tafel zu bestreiten. Dem Dinge will ich ein Ende machen: ich gebe mich in die Kost."

Gesagt, getan! Am andern Tage existierte keine kaiserliche Küche mehr.

Von Stunde an verdingte der Kaiser sich und sein ganzes Hans. Es war eine Art Magenpacht; der ganze Hof wurde auf Leibrente gefüttert. Ein Pächter übernahm das gesamte Winterpalais vom Georgensaal bis in den Stall en bloc, und teilte es in „Stationen" ein. Der Kaiser und die Kaiserin zahlten per Kopf für ihre Kost fünfzig Rubel; für die Großfürsten und Großfürstinnen, nebst Allen, die an ihrem Tische essen, wurde per Kopf fünfundzwanzig Rubel gezahlt; für die Hofdamen und Kavaliere zwanzig, für das diensttuende Personal fünfzehn, für die Unterbeamten zehn, für die Bedienung fünf, für die Stallleute drei Rubel. — Da trat plötzlich eine wunderbare Veränderung im ganzen Winterpalais ein; der Kaiser behauptete, nie so gut gespeist zu haben; der Hof freute sich der angenehmeren Unterhaltung, denn man saß der zahlreicheren Gänge wegen länger bei Tafel; die Hoffräuleins bekamen blühendere Farben, das Beamten- und Dienst-Personal rundere Gesichter, und am blühendsten war der Haushaltungs-Etat, obgleich er um die Hälfte zusammenschrumpfte; kurz, alle Welt war zufrieden, bis auf Kellermeister und Koch; —und alles das die Wirkung einer Flasche Rum, wovon Kaiser Alexander als Naslednik einst einen Teelöffel voll mit Zucker genossen hatte, um auf Ordonnanz des Arztes sich die Zahnschmerzen zu vertreiben.

Ich genoss, wie gesagt, oft die zweite Station, die aus sechs Schüsseln und ganz vortrefflichem Dessert bestand. Als Getränk gehörten dazu eine Flasche roten, und eine weißen, Weines, zwei Flaschen Bier, eine Flasche Kislitschi und Quass ad libitum.

Der Wein war ein gewöhnlicher leichter Burgunder, das Bier hingegen ungemein schwer; das Kislitschi ist ein süßsaures Getränk, von Honig, Wasser, Zitronensaft und einem Absud von Kräutern bereitet; der Quaß ist das einfachste und billigste, daher das im Volke am meisten gangbare Getränk; es ist ein Absud von Malz; auch der Brotrinde bedient man sich dazu; im Anfang ist sein Geschmack ganz unausstehlich; man gewöhnt sich aber schnell daran, und zieht es, besonders an heißen Sommertagen, der angenehmen Kühlung wegen, die es gewährt, jedem anderen Getränke vor. Da es vollkommen gesund, nicht berauschend und das billigste von Allen ist, so ist es auch das Hauptgetränk des Volkes.

In der ganzen Welt wird wohl nirgends mehr Eis konsumiert als in Petersburg, nicht nur natürliches, sondern auch künstlich bereitetes.

Bei schlechten, d. h. milden, Wintern ist an Ersterem oft großer Mangel, denn man füllt sämtliche Keller der Stadt, und die aller Datschen damit an.

Ist die Newa bis zu einem und einem halben, auch zwei Fuß Dicke gefroren, so werden große Tafeln von fünf Schuh Länge und drei Schuh Breite auf derselben ausgehauen, und die Keller damit gefüllt. Man legt aber nicht die ganzen Tafeln hinein, sondern man schlägt sie in kleine Stücke, die dann im Keller festgetreten werden, aufs Neue frieren, und so eine kompakte Masse bilden, die sich in guten Kellern der Art vereinigt, dass die tiefste Lage, zwei bis drei Fuß hoch, gar nie herausgenommen, sondern nur jeden Winter aufs Neue wieder, fünf bis sechs Schuh hoch, überschüttet wird. Eis ist in Petersburg ein solches Bedürfnis, dass die schönste Wohnung keinen Mieter findet, wenn der Eiskeller schlecht ist. Ohne Eis kann man dort buchstäblich nicht bestehen. Man bedient sich desselben fortwährend. Zuvörderst werden alle Speisen, Fleisch, Milch, Butter usw. im Eiskeller aufbewahrt. Dann mischt man es mit Wasser, Bier, Quaß, ja mit fast allen kalten Getränken; hat man Überfluss daran, so stellt man es sogar zur Abkühlung auf die Öfen und unter die Bettstellen. Zu viel kann man demnach nie davon haben.

Aber auch künstliches Eis wird in ungeheuren Massen verbraucht; nicht nur in Gesellschaften, im Theater und zum häuslichen Gebrauch, nein! Kommissionäre durchziehen die Straßen, haben große Gefäße auf dem Rücken, die sie als Widerstandsmittel gegen die Sonnenhitze stets mit feuchten Tüchern umwickeln und bedecken, und so schreien sie auf den Straßen das Eis aus, wie bei uns weiland die Jungen „saure Gurken", und noch heut zu Tage „Neunaugen" ausrufen.

Dieses Eis, ich habe es nur einmal versucht, hat keinen angenehmen Geschmack; doch soll man sich schnell an denselben gewöhnen, was ich glaublich finde, da ich eine ähnliche Erfahrung an dem Quaß gemacht.

Frisches Obst essen die Russen nicht eher, bis es von dem Priester eingesegnet worden; eine höchst zweckmäßige Sanitätsmaßregel, denn es wird nicht eher eingesegnet, bis es vollkommen reif ist; dann wird es zur Kirche gebracht, wo die Zeremonie mit großer Feierlichkeit begangen wird. An allen kirchlichen Gebräuchen hängt der Russe ungemein; er würde dies Gebot um keinen Preis übertreten; er würde vor keiner Kirche vorbei fahren, gehen oder reiten, ohne sein Kreuz zu schlagen; ja, vor dem Bilde seines Schutzpatrons steigt er vom Pferde, dies Zeichen seiner Andacht zu verrichten; dagegen geht kein Pope an ihm vorüber, ohne dass er ausspeit. Er tut dies nicht aus Verachtung oder Hass; es ist nun einmal Gewohnheit, und ich glaube, er selbst weiß die Ursache und den Ursprung derselben nicht; mir wenigstens war es, trotz der angestrengtesten Bemühung, nicht möglich, ihn zu erforschen.

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

045 Bauer in Wintertracht

045 Bauer in Wintertracht

047 Großrusssin

047 Großrusssin

048 Dorfmusikant

048 Dorfmusikant

066 Russland, Ein Hausierer

066 Russland, Ein Hausierer

058 Russen auf der Straße

058 Russen auf der Straße