Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 09. Findelhäuser.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Das großartigste Institut, dessen sich die Haupt- und Residenzstadt unter allen Kron-Anstalten erfreut, ist das Hotel des Findelhauses. Von jeher reichlich dotiert, verdankt es seinen kolossalen Reichtum der Milde und ganz besonderen Fürsorge der verstorbenen Kaiserin Maria. Durch sie ward, unter andern Begünstigungen, dem Hause das Monopol der Spielkarten zu Teil. Die Stempeltaxe ist enorm; irre ich nicht, per Spiel 50 Kopeken Silber, etwas über einen halben Thaler preußisch Kourant. Nun glaube ich keine zu kühne Behauptung zu wagen, wenn ich der Ansicht bin, dass im ganzen übrigen Europa vereint nicht so viel Karten konsumiert werden, als in Russland allein. Nicht nur die langen Winterabende, also resp. die langen Dreivierteljahres-Abende, sowie der angeborene und anerzogene Hang der Russen zum Spiel, fördern den Kartenabsatz auf eine unglaubliche Weise, sondern auch der Luxus trägt das Seine dazu bei, ihn ins Ungeheure zu steigern. In vornehmen Häusern wird mit einer Karte nie mehr als eine Partie l'Hombre, Whist u. dergl. gespielt, ja selbst in den bedeutenderen Klubs wird stets nach der dritten Partie die gebrauchte Karte gegen eine neue vertauscht. Diese Extravaganz dürfte in Deutschland befremden, und doch gibt sie nur ein schwaches Bild des dort herrschenden Luxus, und doch ist dessen gegenwärtige höchste Blüte nur ein matter Schatten des früher allgemein üblichen. Vor ungefähr acht Jahren gab die reizende Gräfin Woronzow Daschkow ein großes Fest, und da die Caprice der Wirtin dies im altfranzösischen Geschmacke bereiten wollte, verwandelte das Zauberwort ihres Befehls für diesen Abend das ganze Haus, nebst allem Zubehör, in die Zeiten Louis XIV.; Korridors, Treppen, Säle, Boudoirs trugen den Charakter der damaligen Zeit; Wände und Plafonds, Fußböden und Fenster, die Möbelgarnituren, sämtliche Service, bis auf die Livreen der galonierten Bedienten mit ihren gepuderten und allongirten Perücken, ihren Kleidern mit Pochen, — war alles Rokoko. Der Spaß währte vier Stunden, kostete mehrere hunderttausend Rubel, und am andern Morgen, schon ganz in der Frühe, wurde alles zerstört und abgerissen, um das Haus so schnell als möglich wieder in den früheren Zustand zu versetzen. — Jedes vornehme Haus wird alljährlich von A bis Z nagelneu möbliert, um auch nicht eine Saison hinter der dernière mode de Paris zurückzubleiben; und doch, — was ist das Alles gegen die Verschwendungswut einer früheren Zeit? — Vor der Thronbesteigung Alexanders hätte ein vornehmer Russe es für Entweihung der Gastfreundschaft gehalten, die Service, mit denen er bei einem Gastmahle die Honneurs des Festes gemacht, zu anderweitigem, ja zu noch einmaligem Gebrauche, zu verwenden. Dem vorzubeugen, bemächtigte sich, unmittelbar nach dem Aufbruche der Gäste, die Dienerschaft der sämtlichen Geräte des Festes, der Flaschen, Gläser, Couverts, Assietten, Leuchter, Tischgeräte, Service, Wäsche jeder Art, und bombardierte alles auf die Köpfe des, auf der Straße versammelten jubelnden, Volkes. Was man jetzt für Wahnsinn halten würde, war damals guter Ton. Möge das Urteil der Nachwelt über unseren guten Ton einst milder richten.

Das enorme Kapital, in dessen Besitz das Findelhaus zu Petersburg sich befindet, bietet ihm im Überfluss die Mittel dar, sich zu der Höhe der ersten Wohltätigkeitsanstalten der Welt zu erheben, und die Fürsorge der Krone hat ihm in der Tat diesen Platz eingeräumt. Das Institut steht unter dem unmittelbaren Protektorate der regierenden Kaiserin, die es, namentlich in Begleitung der Herzogin von Leuchtenberg häufig besucht, mit weiblicher Sorgfalt das Ganze überwacht und durch ihren mächtigen Schutz stärkt und erhebt. Mit dem Eintritt in dieses Haus der Humanität ist nicht nur für der Waise zarteste Kindheit, nein, für ihr ganzes Leben gesorgt. Weder sichtbar noch sehend empfängt die Wächterin im Innern des Gemaches das kleine, von der übrigen Welt hilflos verlassene Wesen, auf das Geläut an der Torglocke dreht sie die äußere Hälfte eines Kastens nach Innen und hört kaum den letzten Segenswunsch, mit dem die oft verzweifelnde, Mutter ihr Liebstes auf der Welt, einen Teil ihres eigenen Seins, der Fürsorge fremder Menschen anheimstellt. Unmittelbar nach dem Empfange wird das Kleine ärztlich untersucht; über jedes Merkmal an seinem Körper, seiner Wäsche, oder über alles, was sonst seine erste Wanderung begleitet, wird ein genaues Protokoll aufgenommen; es wird sofort gebadet, neu bekleidet, mit einer Nummer versehen und der, stets bereit gehaltenen, Amme übergeben. Rührend ist es zu sehen, wie am heiteren Frühlingsmorgen, oft in langen Zügen, verschlossene Wagen durch die Straßen langsam ziehen, die Ammen mit ihrer unschuldvollen Bürde hinaus aufs Land zu führen. Hier bleiben die Kleinen jahrelang, unter Aufsicht von Ärzten und Beamten der Anstalt, die ihre Pflegerinnen regelmäßig und streng inspizieren. Nach den glücklich zurückgelegten ersten Jahren werden sie ins Findelhaus zurückgebracht und nun beginnt das Werk ihrer Erziehung. Den Maßstab dazu bieten einzig ihre Fähigkeiten und ihre Neigungen. Diese Anstalt liefert so gut tüchtige Grobschmiede und Ackerbauer, als aus ihr schon ausgezeichnete Offiziere, Bildhauer und Musiker hervorgegangen sind; die Köchinnen des Findelhauses sind gesucht; seine Gouvernanten die beliebtesten in der ganzen Residenz. Hat der Jüngling in dem Hause selbst, welches das hilflose Kind empfing, seine Erziehung vollendet, so steht ihm die Wahl des künftigen Berufes frei; natürlich bilden Fähigkeiten und Betragen den Maßstab der Bewilligung. Er kann sich den Wissenschaften, Künsten, der Technik, dem Militär, dem Seewesen, dem Handwerk widmen, ganz nach Belieben, und seine weitere Ausbildung geschieht, wie bisher auf Kosten des Findelhauses, von da an auf Kosten der Krone, der er alsdann allerdings eine Zeit lang die erworbenen Kenntnisse im Staatsdienst widmen muss; aber diese Beschränkung ist keine so harte, denn es ist am Ende nichts, als wonach sich so viele Tausende jahrelang vergebens sehnen — eine Staatsanstellung, unmittelbar nach Vollendung ihrer Bildung. Früher konnten diese Findelkinder von den Eltern jederzeit reklamiert werden; in jüngster Zeit jedoch hat eine Ukase die Rücknahme erschwert, oder gar unmöglich gemacht, um dem übergroßen Missbrauche zu steuern, zu dem die leichte Art, das zarteste Lebensalter neuer Weltbürger zu sichern, gewissen- und herzlose Eltern verleitete, auch ohne dringende Not die Stimme der Natur zu unterdrücken, und das Pfand, oft priesterlich geweihter Liebe, der Sorge des Staates temporär anzuvertrauen.

An auffallenden Gegensätzen fehlt es in Petersburg nicht. Eines Morgens vor vier Uhr fuhr ich nach den Bädern der Newa; an der Camino-Most, der steinernen Brücke, wurde ich durch einen langen Zug dieser kleinen Auswanderer aufs Land in meinem Kurs gehemmt, den die endlose Wagenreihe durchkreuzte. Noch ganz voll des Eindrucks, den dies Schauspiel auf mich gemacht, die Gefahren überdenkend, denen die Kinder, namentlich die Töchter mittelloser Eltern, in dieser Zeit der Üppigkeit und Korruption ausgesetzt sind, fuhr ich an der prächtigen Kasansky vorüber und erreichte den Newsky-Prospekt, der in seiner unabsehbaren Länge, in der tiefen Ruhe seiner Umgebung, einen feierlichen Eindruck erzeugt. Plötzlich bot sich meinen überraschten Blicken die seltsamste Scene dar. Ich glaubte mich einem Balle im Freien zu nähern, Damen in den elegantesten Toiletten zu erblicken, die mit köstlichen Shawls bedeckt und in üppigen Federhüten prangend, die seltsamsten Touren aufführten, von stets wiederkehrenden bückenden Bewegungen begleitet, wie kein mir bekannter französischer oder deutscher Tanz sie bedingt. Sollten dies russische National-Touren sein, dachte ich, aber am hellen Tage, mitten auf dem großen Fahrwege, und ein Ball ohne Herren, deren einige anwesende nur Zuschauer abzugeben schienen. Ich stieß meinen Isworstschik freundlich an, wies auf die Gruppe hin und machte eine fragende Bewegung; der erklärte mir die Sache sehr umständlich, ohne Zweifel auch sehr deutlich, und ich würde ihn sicher vollständig begriffen haben — hätte ich ihn nur ein Wort verstanden. So blieb mir nichts übrig, als durch ein kräftiges „Pachol" ihn zur Annäherung an den seltsamen Ball zu treiben, bevor die ermüdeten Paare auf den Ecksteinen die nötige Erholung suchten. Wir kamen näher und näher, doch vernahmen wir keinen Ton von Musik; endlich erreichten wir den Anitschkowschen Palast und befanden uns im Bereich dieser schauervollen Tätigkeit. Welch ein Anblick, zugleich des Ekels und Entsetzens! — Ein paar Dutzend junger Mädchen, dem Anscheine nach frisch und blühend, mit rosenroten Wangen, von denen ich, bei ihrer stets wiederkehrenden gleichförmig bückenden Bewegung, nicht zu unterscheiden vermochte, ob die Purpurröte ihres Antlitzes eine Folge strotzender Gesundheit, der Anstrengung oder Schminke war, mit reizenden Toiletten, Geschmeide, Federhüten und Shawls — fegten hier den Fahrweg des Newsky unter Aufsicht der sie bewachenden Polizeidiener und Budschnicks. Einige schienen von Scham tief niedergebeugt, andere starrten mich, den Isworstschik und den Gaul mit ganz gleicher Gemütsruhe an, und schienen sich unserer Dazwischenkunft zu freuen, die die schmachvolle Beschäftigung für einen Augenblick suspendierte. Es waren jene nächtlichen Zugvögel, welche auf der zu späten Heimkehr von ihren traurigen Verirrungen den Patrouillen in die Hände gefallen waren, den Rest der Nacht auf der Wache zugebracht hatten und jetzt die nächtlichen Streifzüge am hellen Tage durch Straßenfegen büßten. Ich eilte doppelt schnell ins Bad, den Schmutz dieser Erinnerung von mir zu spülen.

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

012 St. Petersburg, Droschke

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Nikolaus I. (1769-1855), russischer Zar

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Pferdeschlitten

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Eine Troika

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