Ebbe und Flut

Die Hebungen und Senkungen, das Steigen und Fallen der Wogen und Wasserberge sind so regelmäßig, wie der Odem eines Lebendigen.

Wie aber die einzelne Woge und Welle sich hebt und senkt, so hebt und senkt sich die ganze Wassermasse des offenen Meeres: Ebbe und Flut ist ein Atmen der See.


„Er fasset die Wasser in einen Schlauch!" — So sprechen wir lobpreisend von dem, der die Erde und das Meer und alles, was darinnen ist, gemacht und der Erde wie dem Meere Grenzen gesetzt hat. Er ist groß in seinen Werken, groß in seiner Unwandelbarkeit, der Wandelbarkeit seiner Werke gegenüber.

Durch die Ebbe werden die Wasser in einen Schlauch gefasst, dass das Meer zurückweichen muss von den Eilanden und Küsten, dass der Meeresgrund bloß gelegt werde mit seinen bunten Steinen und Muscheln, mit seinem gefurchten Sandboden und seinen grauen Watten und Schlammlagern.

Dieses Zurückweichen des Meeres dauert sechs Stunden und nach sechsstündigem Ebben tritt die tiefste Ebbe, die Hohlebbe ein, d. i. ein Stillstand, weder Ebbe noch Flut, dem zur Flutzeit die Hochflut entspricht.
Du wähnst, der bloßgelegte Meeresboden sei eine öde Wüste. Du irrst dich. Die Furchen des Seebodens und die größeren Rinnen und breiteren Tiefen durchziehen und durchschlängeln die gelbe und graue Sand- und Wattenfläche als silberne Adern, Bäche und Ströme, die schmaler und schmäler werden, wohl gar verschwinden und zur Zeit der tiefsten Ebbe nur noch als dunkler gefärbte Streifen und Schlangenlinien erscheinen, bis sie von der wiederkehrenden Flutwelle aufs Neue gefüllt werden, allmählich anschwellen, sich in einander verlieren und zur Zeit der unruhigen höchsten Flut durch kein Kennzeichen irgend einer Art ihr Dasein verraten.

Fragst du nach den Merkmalen der tiefsten Ebbe und der höchsten Flut, so kann jedes Halligkind dir Rede und Antwort geben.

Um hohe Fluten kümmert man sich mehr, als um hohle und tiefe Ebben, und von den Merkmalen der ersteren weiß man dir ungleich mehr zu sagen, als von den Merkmalen der letzteren.

Das ist auch ganz natürlich. Denn die Flut ist eine Feindin des Lebens, wenigstens des menschlichen und des Lebens der Landpflanzen, und die Menschen haben ein scharfes Auge für das, was ihnen Schaden bringt, und werden durch traurige Erfahrungen gewitzigt.

Der Halligknabe zeigt dir bereitwillig, was du sehen willst, — die Merkmale der höchsten Flut. Er macht dich aufmerksam auf einen dunklen Streifen mit weißen Punkten, der aus angeschwemmten Seegräsern und weißen Muscheln gebildet ist und die ganze Hallig umsäumt, er gibt dir damit das Merkmal an, mit welchem die letzte hohe Flut ihre Höhe selbst bezeichnet hat. Wenn du ferner wissen willst, wie hoch außergewöhnliche Flut den steigen, so sagt er dir, die Sturmflut des Jahres 1825 sei 20 Fuß höher gestiegen als die gewöhnliche, und damals hätten nur die Häuser und die Dächer der Häuser aus dem Hochwasser hervorgesehen, Alles sei eine wilde wogende See gewesen, und am Holzwerk seines Hauses und an der Mauer des Kirchleins sei die Höhe jener Flut durch einen grünlichen Streifen bezeichnet.

Von der Tiefe der größten Hohlebbe weiß man dir weniger zu sagen: „So weit das Auge reicht ist nichts als graues Watt zu sehen. Die Wattströme sind nur noch auf dem Grunde mit Wasser angefüllt. Die Wattenschiffe stehen auf ihrem Kiel im Trocknen, während der Wattenschiffer von der trocknen Muschelbank ganze Körbe voll weißer Muscheln holt, sein Schiff zu beladen. Nur von jener fernen Düneninsel aus soll man noch das Meer erblicken und den dumpfen Schall der fernen Brandung hören können." So lautet der einfache Bericht des Halligknaben über die Hohlebbe.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Umwelt und Natur - Halligenbuch