Die Watten. Entstehung derselben
Ein Halligknabe las einmal an einem Sonntagnachmittage dem alten Großvater aus der Hausbibel vor, was der Prophet Hesekiel in dem sechsundzwanzigsten Kapitel seines Buches von der großen und reichen Stadt Tyrus weissagt: „Ich will sie zu einem Wehrd im Meer machen, darauf man die Fischgarne ausspannt, denn ich habe es geredet, spricht der Herr, und sie sollen den Heiden zum Raube werden."
Der Halligknabe hielt inne und fragte den Alten, was denn ein Wehrd sei.
„Ein Wehrd, — das ist ein Watt", sprach der Alte und fing an, seinem Enkel von dem friesischen Tyrus, woraus ein Watt geworden sei, zu erzählen. Unter dem friesischen Tyrus verstand der bibel- und geschichtskundige Alte das längst untergegangene Städtlein Rungholt, das im alten Nordstrand lag und seines Reichtums wegen berühmt, der Gottlosigkeit seiner Bewohner wegen aber eben so berüchtigt war. Hören wir der Erzählung des Alten zu.
„Wo jetzt der Rungholter Sand oder das Rungholter Watt ist, war vor Anno 1300 festes Land. Das Land Nordstrand umfasste in jener Zeit mehr als dreißig Kirchspiele. Alle Halligen bildeten mit Nordstrand ein großes fruchtbares Land, die Perle Nordfrieslands, und jenes Nordstrand war nur durch schmale Wasserstraßen von Föhr und Amrum getrennt. Der westliche Küstensaum Nordstrands war damals mit Sanddünen besetzt, die das Land gegen den Andrang der Wogen und Wasserberge des Meeres schützten. Wo das Land aber an Wasserstraßen grenzte, oder wo die Dünen durchbrochen waren, schützten Deiche und Dämme die Fennen und Wiesen gegen die Überschwemmungen der See.
„Die Insassen des Landes Nordstrand waren größtenteils reiche Leute, sonderlich die Rungholter. Rungholt selbst war ein schönes Städtlein mit großen Häusern und stattlichen Kirchen, deren hohe Türme dem Schiffer auf der See schon in weiter Ferne den Weg wiesen in die Schmaltiefe und den Hewerstrom. In Rungholt wurden die Produkte des Landes auf den Markt gebracht, wo sich Käufer aus allen Gegenden Nord-, Ost- und Westfrieslands, aus Sachsenland, Holstein, Schleswig und Grimmahorna — wie die Alten Dänemark nannten — einfanden und jeder an seinem Teil dazu beitrug, Rungholt angesehen und reich zu machen. Aber wie das so geht, die reich und angesehen gewordenen Rungholter vergaßen in ihrem Wohlleben und eben wegen ihres Wohllebens das Beten und Arbeiten und lernten Gott und sein Wort, die Kirche und ihre Diener verachten.
„Was von den Überschwemmungen in alter Zeit den Rungholtern erzählt wurde, das hielten sie für Fabeln und Märchen und meinten, so etwas passiere heut' nicht mehr, die Deiche und Dünen seien jetzt auch viel stärker und höher, als ehemals, und es müsse eben alles so bleiben, wie es jetzt sei.
„Wenn sie ihre Freudengelage und Feste hielten — es waren nicht die heiligen Feste der Kirche — und toll und voll geworden waren, vermaß sich mancher, den „blanken Hans" mit gotteslästerlichem Wort herauszufordern: „Kahm nu, blanke Hans!"
„Die See wurde der blanke Hans genannt, weil sie nach den Erzählungen der Alten die Deiche durchbrechen und die eingedeichten Strecken des Landes so mit Wasser überschwemmen könne, dass von den grünen Fennen und weißen Kornfeldern nichts mehr zu sehen, sondern alles in eine blanke Wasserfläche verwandelt wäre.
„Die Toren. Der „blanke Hans" war und ist nichts; aber der lebendige Gott, der die Wasser der Erde in einen Schlauch fasset und sie wieder ausströmen lässt, war damals, ist noch jetzt und wird immerdar sein der allmächtige Gott, der Wolken, Flut- und Winde nach seinem Willen lenkt und sich nicht spotten lässt von den schwachen Menschenkindern. Wenn nun jene Toren den „blanken Hans", der nicht war und ist, zu necken meinten, spotteten sie mit solchem Wort des Herrn, der da war und ist ein lebendiger Gott, ein Rächer denen, die ihn verachten, und ein Nothelfer denen, die ihn furchten.
„Der „blanke Hans" kam. Er gehorchte einfach dem, der ihn kommen hieß.
Ein heftiger Nordwest trieb die Wogenberge der Nordsee gegen die Dünen, Deiche und Dämme des Nordstrandinger Landes, dass sie zerbrachen und zerbröckelten. Da stürzten die wilden Finthen herein in das bedeichte flache Land, warfen Häuser, Kirchen und Mühlen um, begruben Menschen und Tiere unter den Trümmern und verwandelten den Rungholter Koog in einen blanken See, auf welchem Leichname von Menschen und Tieren, Trümmer von menschlichen Wohnungen, Haus- und Feldgeräte wunderbar durcheinander gewürfelt umherschwammen im Mondenschein der kalten Winternacht.
Die Bewohner der Köge in der nächsten Umgebung Rungholts hatten vollauf zu tun, die Deichbrüche an ihren eigenen Kögen zu verstopfen, ihre vom Sturm und Meer beschädigten und zerstörten Wohnungen wieder auszubessern und neu aufzubauen. Wie Rungholt sich in den Tagen seiner Wohlmacht um andere Menschen wenig gekümmert hatte, also kümmerte sich nach Rungholts Verödung kein Mensch um die Stätte, wo Rungholt gestanden; nur der im Übermut angerufene „blanke Hans" hielt alltäglich zweimal als Flut- und zweimal als Ebbstrom seinen Ein- und Auszug im Rungholter Koog, also dass die Deichbrüche und Dünenrisse sich zu Seetoren und Gaten erweiterten und die Flut immer ungehinderter ein- und auspassieren konnte. Dann kam der Frost und verwandelte bei stillem Wetter den See des blanken Hans in eine spiegelblanke Eisfläche, die erst zur Zeit der Frühjahrsstürme mit wunderbarem Klingen zerbarst. Aus den mächtigen Rissen stürzten die vom Meere versorgten Wasser der Tiefe hervor. Die Eisschollen wogten auf und ab, fegten den Boden rein, rissen alle Spuren einer Grasnarbe mit sich fort, wühlten den Kleiboden auf und trieben den Morast in gewaltigen Massen vor sich hinaus in die Seegaten und von dort weiter fort in die Tiefen der Nordsee.
„Also ward Rungholt mit seiner Umgebung eine Sand- und Schlammbank, ein Watt, und ich meine, wir Halligleute müssen unwillkürlich bei den Worten des Propheten Hesekiel an Rungholt denken, das wie Tyrus um seiner Sünden willen verödet zu einem Wehrd im Meere geworden ist."
So weit die Worte des Großvaters, welche dir sagen, wie die Watten entstanden sind.
Der Halligknabe hielt inne und fragte den Alten, was denn ein Wehrd sei.
„Ein Wehrd, — das ist ein Watt", sprach der Alte und fing an, seinem Enkel von dem friesischen Tyrus, woraus ein Watt geworden sei, zu erzählen. Unter dem friesischen Tyrus verstand der bibel- und geschichtskundige Alte das längst untergegangene Städtlein Rungholt, das im alten Nordstrand lag und seines Reichtums wegen berühmt, der Gottlosigkeit seiner Bewohner wegen aber eben so berüchtigt war. Hören wir der Erzählung des Alten zu.
„Wo jetzt der Rungholter Sand oder das Rungholter Watt ist, war vor Anno 1300 festes Land. Das Land Nordstrand umfasste in jener Zeit mehr als dreißig Kirchspiele. Alle Halligen bildeten mit Nordstrand ein großes fruchtbares Land, die Perle Nordfrieslands, und jenes Nordstrand war nur durch schmale Wasserstraßen von Föhr und Amrum getrennt. Der westliche Küstensaum Nordstrands war damals mit Sanddünen besetzt, die das Land gegen den Andrang der Wogen und Wasserberge des Meeres schützten. Wo das Land aber an Wasserstraßen grenzte, oder wo die Dünen durchbrochen waren, schützten Deiche und Dämme die Fennen und Wiesen gegen die Überschwemmungen der See.
„Die Insassen des Landes Nordstrand waren größtenteils reiche Leute, sonderlich die Rungholter. Rungholt selbst war ein schönes Städtlein mit großen Häusern und stattlichen Kirchen, deren hohe Türme dem Schiffer auf der See schon in weiter Ferne den Weg wiesen in die Schmaltiefe und den Hewerstrom. In Rungholt wurden die Produkte des Landes auf den Markt gebracht, wo sich Käufer aus allen Gegenden Nord-, Ost- und Westfrieslands, aus Sachsenland, Holstein, Schleswig und Grimmahorna — wie die Alten Dänemark nannten — einfanden und jeder an seinem Teil dazu beitrug, Rungholt angesehen und reich zu machen. Aber wie das so geht, die reich und angesehen gewordenen Rungholter vergaßen in ihrem Wohlleben und eben wegen ihres Wohllebens das Beten und Arbeiten und lernten Gott und sein Wort, die Kirche und ihre Diener verachten.
„Was von den Überschwemmungen in alter Zeit den Rungholtern erzählt wurde, das hielten sie für Fabeln und Märchen und meinten, so etwas passiere heut' nicht mehr, die Deiche und Dünen seien jetzt auch viel stärker und höher, als ehemals, und es müsse eben alles so bleiben, wie es jetzt sei.
„Wenn sie ihre Freudengelage und Feste hielten — es waren nicht die heiligen Feste der Kirche — und toll und voll geworden waren, vermaß sich mancher, den „blanken Hans" mit gotteslästerlichem Wort herauszufordern: „Kahm nu, blanke Hans!"
„Die See wurde der blanke Hans genannt, weil sie nach den Erzählungen der Alten die Deiche durchbrechen und die eingedeichten Strecken des Landes so mit Wasser überschwemmen könne, dass von den grünen Fennen und weißen Kornfeldern nichts mehr zu sehen, sondern alles in eine blanke Wasserfläche verwandelt wäre.
„Die Toren. Der „blanke Hans" war und ist nichts; aber der lebendige Gott, der die Wasser der Erde in einen Schlauch fasset und sie wieder ausströmen lässt, war damals, ist noch jetzt und wird immerdar sein der allmächtige Gott, der Wolken, Flut- und Winde nach seinem Willen lenkt und sich nicht spotten lässt von den schwachen Menschenkindern. Wenn nun jene Toren den „blanken Hans", der nicht war und ist, zu necken meinten, spotteten sie mit solchem Wort des Herrn, der da war und ist ein lebendiger Gott, ein Rächer denen, die ihn verachten, und ein Nothelfer denen, die ihn furchten.
„Der „blanke Hans" kam. Er gehorchte einfach dem, der ihn kommen hieß.
Ein heftiger Nordwest trieb die Wogenberge der Nordsee gegen die Dünen, Deiche und Dämme des Nordstrandinger Landes, dass sie zerbrachen und zerbröckelten. Da stürzten die wilden Finthen herein in das bedeichte flache Land, warfen Häuser, Kirchen und Mühlen um, begruben Menschen und Tiere unter den Trümmern und verwandelten den Rungholter Koog in einen blanken See, auf welchem Leichname von Menschen und Tieren, Trümmer von menschlichen Wohnungen, Haus- und Feldgeräte wunderbar durcheinander gewürfelt umherschwammen im Mondenschein der kalten Winternacht.
Die Bewohner der Köge in der nächsten Umgebung Rungholts hatten vollauf zu tun, die Deichbrüche an ihren eigenen Kögen zu verstopfen, ihre vom Sturm und Meer beschädigten und zerstörten Wohnungen wieder auszubessern und neu aufzubauen. Wie Rungholt sich in den Tagen seiner Wohlmacht um andere Menschen wenig gekümmert hatte, also kümmerte sich nach Rungholts Verödung kein Mensch um die Stätte, wo Rungholt gestanden; nur der im Übermut angerufene „blanke Hans" hielt alltäglich zweimal als Flut- und zweimal als Ebbstrom seinen Ein- und Auszug im Rungholter Koog, also dass die Deichbrüche und Dünenrisse sich zu Seetoren und Gaten erweiterten und die Flut immer ungehinderter ein- und auspassieren konnte. Dann kam der Frost und verwandelte bei stillem Wetter den See des blanken Hans in eine spiegelblanke Eisfläche, die erst zur Zeit der Frühjahrsstürme mit wunderbarem Klingen zerbarst. Aus den mächtigen Rissen stürzten die vom Meere versorgten Wasser der Tiefe hervor. Die Eisschollen wogten auf und ab, fegten den Boden rein, rissen alle Spuren einer Grasnarbe mit sich fort, wühlten den Kleiboden auf und trieben den Morast in gewaltigen Massen vor sich hinaus in die Seegaten und von dort weiter fort in die Tiefen der Nordsee.
„Also ward Rungholt mit seiner Umgebung eine Sand- und Schlammbank, ein Watt, und ich meine, wir Halligleute müssen unwillkürlich bei den Worten des Propheten Hesekiel an Rungholt denken, das wie Tyrus um seiner Sünden willen verödet zu einem Wehrd im Meere geworden ist."
So weit die Worte des Großvaters, welche dir sagen, wie die Watten entstanden sind.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Umwelt und Natur - Halligenbuch