Die Nordsee eine Mordsee

Die Nordsee wird häufig von den Bewohnern ihrer Küsten eine Mordsee und diese Küste selbst eine Schiffbruchküste genannt, und nicht mit Unrecht. Denn die vom wilden Sturme gepeitschten, aus den kalten Tiefen der Nordsee herauffahrenden Wogen kennen kein Erbarmen und wissen nichts von Schonung. Sie schonen weder das Menschenleben noch die Werke der Menschenhand.

Nicht genug, dass die Nordsee diese nicht schont; vergreift sie sich doch an ihren eigenen Werken und Gebilden. Sie selbst zerstört und zerreißt die Sandbänke, die Watten und Marschen, die sie gebildet hat; denn Verderben und Zerstören, Auflösen und Verschwindenlassen scheint nun einmal ihr Leben und ihre Lust zu sein.


Lass dir erzählen, freundlicher Leser, von den Schiffbrüchen und Strandungen an den Küsten der Nordsee, wo im Sande versunkene Gerippe großer Seeschiffe die Stelle bezeichnen, wo ein stolzer Ostindienfahrer zerschellt wurde und die Mannschaft desselben in Wogenbergen ihr Grab fand, — las dir erzählen von den Kostbarkeiten fremder Weltteile, die in Kisten und Ballen verpackt, mit langen Meergräsern und Seetang umsponnen, seit Jahrhunderten in der Tiefe liegen, — oder vernimm die Berichte, wie die Wogen der Nordsee diesem oder jenem Seemann, der sein nacktes Leben einem schwimmenden Wrackstück anvertraut hatte, seinen Halt und Hort entrissen und ihn hinabzogen in die Tiefe, wo er in einem Knäuel von Seetang und Seekrebsen neben anderem Gebein von Menschen und Tieren vom Flut- und Ebbstrom hin und her geworfen wird, — und du wirst mit mir sagen: die Nordsee ist eine Mordsee.

Sieh sie an, jene Küsten, wo sich’s dünt, wo die Umrisse der Sandberge aus dem grauen Nebel hervortreten, und lass dir erzählen von dem Zerbröckeln der Inselküsten und dem Zusammenstürzen der unterminierten Dünenwand, hinter welcher die gesegneten friesischen Marschen liegen, wo der friedliche Hirte seine Herde meidet und der singende Pflüger seine Furchen zieht, und dann lass dir sagen, was das Grollen und Toben der Nordsee zu bedeuten hat.

Sie sagt: Wartet nur, ihr Dünen und ihr Marschen, ihr sollt mein werden; wo du Hirte deine Herde weidest, wo du Pflüger deine Furchen ziehst, — da, eben da soll der Seehund sich sonnen auf der abgeplatteten Sandbank, und mein Flut- und Ebbstrom soll dort den Boden furchen; denn bin ich erst fertig geworden mit dem Zerstören der Dünenwand, so wird mir auch das Abnagen des Rasens und das Auflösen und Fortschwemmen der Tonmassen gelingen, damit der Sand des Marschgrundes mir bleibe als unbestrittenes Eigentum.

Weißt du, mein Leser, was eine Brandung ist? — Wenn nicht, so will ich dir's erklären. Wo die Wogenberge der Nordsee auf Widerstand stoßen, dass sie zusammenbrechen und zerstieben, da siehst du eine lange Reihe tanzender, mit Schaum bedeckter Wasserkegel mit weißen Häuptern, deren Sinken und Steigen in regelmäßigen Zwischenräumen abwechselt, — das sind die Brandungen.

Fragst du weiter, warum die brandenden Wasserkegel immer an einem und demselben Orte ihr wunderbares Spiel treiben, so lass dich weiter belehren, dass die langgestreckten unterseeischen Sandbänke jenen Widerstand leisten, der freilich schwach genug ist, da Sand auf Sand gebaut der Macht der Wogen nicht auf die Länge gewachsen ist.

Die Brandungen sind ein rechter Brand, der selbst den nassen kalten Meeresboden nicht schont, sondern wie ein Feuerbrand den Wald oder den Moorboden dort den sandigen Meeresgrund zerstört und das Bette des Meeres tiefer gräbt.

Dann sieht ein Sohn der Nordseeküste noch etwas ganz anderes in den weißen Kegeln der Brandungswogen. Ihm sind die weißen Wasserpyramiden die Leichensteine seiner Vorfahren, die in der Tiefe des Meeres begraben liegen, und das Tosen und Toben der Wellen und Wogen ist ihm ein Grabgesang, ein Grabgesang, der nicht bloß als Klagelied um Verstorbene angestimmt wird, sondern zugleich im Voraus schon die mit besingt und beklingt, die über kurz oder lang eine Beute der Nordsee werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Umwelt und Natur - Halligenbuch