Ukrainische Geschichte - die neuere Geschichte der Ukraine

Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
Das ukrainische Mittelalter nimmt mit dem Unionsvertrag der Ukraine mit Polen 1569 sein Ende. Zum Träger der ukrainischen Geschichte wird an Stelle der warägo-russischen Fürsten und der ukrainisierten Fürsten Litauens das ukrainische Volk selbst. Als der bedeutendste Repräsentant der Nation tritt zunächst der damals auf hoher Stufe stehende ukrainische Bürgerstand, der durch seine dem Schutz der nationalen Kirche geltenden Kircheninnungen nicht allein das religiöse, sondern auch das politische Gebiet des Lebens der Nation beherrschte, auf den Plan. Ihm zur Seite erwächst gleichsam ein Exekutivorgan des Willens der Nation, der ukrainische Kriegerstand. Das Zeitalter der Kosakenherrlichkeit bricht an.

Es war ein Gebot des Selbsterhaltungstriebes der Nation, an der Ostgrenze der Ukraine zum Schutze vor den hereinbrechenden Nomaden schon seit dem 10. Jahrhunderte ständig Wache zu halten. Aus den kriegsgewohnten Land- und Kaufleuten erwächst im 16. Jahrhunderte ein nach der Art der westeuropäischen Ritterorden organisierter Kriegerstand, die Kosaken. Ihr nomineller Herr war der König von Polen, doch erkannten die unterhalb der Stromschnellen des Dniepr ein befestigtes Kriegslager unterhaltenden Saporoher- oder die Sitsch-Kosaken seine Herrschaft nie an. Ihr Lebenszweck war Schutz des Heimatlandes. Sie unternahmen auf ihren leichten Kähnen Kriegszüge gegen die Türkei, drangen oftmals bis Konstantinopel vor und verheerten dessen Hafen, folgten dem Rufe Kaiser Rudolfs II. zum Kampfe gegen die Türken und verheerten die Moldau, kämpften vielfach an Seite der polnischen Könige gegen die Türken und retteten 1621 unter ihrem Feldherrn, dem Hetman „zu beiden Seiten des Dniepr“ Sahajdatschnyj Polen vor dem Anstürme der Tataren bei Chotin, halfen den Polen Moskau bekriegen und folgten noch Ende des 17. Jahrhunderts dem Rufe König Sobieskis zum Entsatze Wiens, dessen Gelingen ein Werk der ukrainischen Kosaken war.*)

*) Ein Ukrainer war auch der seither in Wien angesiedelte Begründer des Wiener Kaffeesiedergewerbes Kolschitzky.

Die Bemühungen der polnischen Regierung, die Kosaken für Zwecke der polnischen Politik dauernd zu gewinnen, scheiterten zuletzt an deren Streben nach Selbständigkeit. Die Tatsache, dass sich die Kosaken der von den polnischen Gutsherrschaften flüchtigen ukrainischen Leibeigenen annahmen, vermehrte den Konfliktstoff. Zunächst als Anwälte der Befreiung des Bauernstandes, aus welchem ihre Reihen ergänzt wurden, und Beschirmer der ukrainischen Kirche auftretend, geben sie sich mit der Zeit als Vertreter der allgemein nationalen Interessen im Verein mit dem ukrainischen Priesterstande und erheben die Forderung, „dass unserem ukrainischen Volke die ihm gebührenden Rechte und Privilegien zuteil werden“, bis sie sich entschließen, dieselben mit der Waffe in der Hand zu erfechten. So nehmen die Kämpfe der Kosaken gegen Polen ihren Anfang, bis es dem Hetman Bohdan Chmelnickyj gelingt, knapp um die Mitte des 17. Jahrhunderts dem ukrainischen Volke die politische Freiheit wiederzugeben. Chmelnickyj nennt sich „ukrainischer Selbstherrscher“ und begründet unter Berufung des ukrainischen Staatsrechtes ein „ukrainisches Reich bis Lemberg, Halitsch und Cholm“.