Ukrainische Geschichte - die Ukrainer und die Habsburgische Monarchie

Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
In dem Momente, als in Russland die letzten Reste der staatlichen Unabhängigkeit vernichtet, das ukrainische Volk ins russische Joch gezwängt wurde, kam jener Teil des ukrainischen Volkes, welcher seit vier Jahrhunderten von der politischen Gemeinschaftlichkeit mit dem Mutterlande ausgeschaltet, an dessen Freiheitskämpfen keinen Anteil nahm, und arm und unwissend nur seinem Glauben die Konservierung seiner nationalen Eigenart verdankte, unter die Schutzfittiche der habsburgischen Doppeladlers. In dem Momente, wo das ukrainische Bauernvolk Russlands, welches im 17. Jahrhunderte das Joch der Leibeigenschaft in Polen von sich warf, unter Katharina II. in das noch ärgere Joch der russischen Leibeigenschaft gezwängt wurde, eröffnet die Kaiserin Maria Theresia und ihr ausgezeichneter Sohn das edle Werk der Entmündigung des ukrainischen Bauernvolkes, welchem der kaiserliche Beamte der beste Anwalt vor Ausbeutung und Unterdrückung wurde.

In demselben geschichtlichen Momente, als Russland glauben konnte, das schmähliche Werk der Entnationalisierung und kulturellen Degradierung der Ukraine vollzogen zu haben, machte es sich die österreichische Regierung zu ihrer Aufgabe, das in tiefer geistiger Finsternis übernommene ukrainische Volk Galiziens und der Bukowina kulturell zu heben; sie erkennt die Ukrainer als Nation an, gewährt ihnen eigene Schulen und beschäftigt sich eingehend und wohlwollend mit den neuen Untertanen. Schon zu Ende des 18. Jahrhunderts wurde die ukrainische Sprache als Vortragssprache an der Universität anerkannt und aus den ukrainischen Lehrkanzeln an der theologischen und philosophischen Fakultät in Lemberg für eine Zeit lang ein besonderer akademischer Körper gebildet.

Und zur selben Zeit, als die stolze Geistlichkeit der Ukraine, die geistige Führerin und Mitarbeiterin an den ukrainischen Freiheitskämpfen gegen Moskau in die Untertänigkeit der heiligen Synode kommandiert und die noch vor kurzem unabhängige ukrainische Kirche in ein Werkzeug der Russifizierung umgewandelt wurde, wird in Österreich der bisher erniedrigte, in den Bauernstand herabgedrückte, kaum des Lesens kundige ukrainische Seelsorger aus seiner Erniedrigung und Tiefe in die Höhe der gebildeten Stände emporgezogen. Es wird die Konfession der Ruthenen der Staatsreligion gleichgestellt und mit Autonomie ausgestattet.

Nicht ohne Rührung lesen wir die Geschichte des ukrainischen Volkes nach dem Anschluss Galiziens an Österreich und die Äußerungen der Gefühle der dankbaren ukrainischen Bevölkerung gegenüber dem Kaiserhause. Schon im Jahre 1809 hatte sich die ukrainische Geistlichkeit mit ihrem Metropoliten an der Spitze und hinter sich das ganze ukrainische Volk als die tatkräftigste und treueste Vertreterin des österreichischen Staatsgedankens erwiesen. Treu zum Kaiserhause hielten die Ukrainer in den Revolutionsjahren und in jeder Zeit, als sich das Vaterland in Gefahr befand.

Wohl war das Schicksal der Ukrainer Österreichs ein wechselvolles. Wohl wurde die Linie der ungeteilten Unterstützung des ukrainischen Stammes nicht immer konsequent eingehalten, vielleicht konnte sie — infolge der Schicksalsschläge, die der Monarchie nicht erspart blieben — nicht konsequent eingehalten werden. Aber ein Grundsatz lässt sich bei Betrachtung des ganzen Verhältnisses der Ukrainer zur Monarchie aufstellen: Je stärker die Monarchie, desto besser ist die Lage der Ukrainer immer gewesen.

Über alle Kritik erhaben ist jedoch die Tatsache, dass das österreichische Galizien und die Bukowina der einzige Fleck auf Gottes Erdboden ist, auf dem das ukrainische Volk sich national entwickeln und politisch betätigen durfte, auf dem die Ukrainer ein anerkanntes Volk sind, wo in Amt, Schule und Kirche die ukrainische Sprache erklingt, wo eine schöne Literatur in dieser Sprache erblüht.

Seit vielen Jahrzehnten, insbesondere aber seit dem schändlichen Verbot des Gebrauches der ukrainischen Sprache, waren die Augen der russischen Ukrainer immer auf Galizien gerichtet. Nach Galizien musste sich der russische Ukrainer flüchten, um sich national betätigen zu können. Nach Galizien flüchtete sich der verfolgte ukrainische Schriftsteller, hier deponierte der russische Ukrainer seinen nationalen Steuerpfennig, aus welchen Burgen nationaler Kultur und Emanzipation erstanden. Selbst Bauernsöhne aus der Ukraine bringen ihre Söhne in ukrainische Erziehungsanstalten in Galizien. Begierig hört der russische Ukrainer in Galizien und der Bukowina von der Kanzel und dem Katheder seine Sprache, in welcher mit Gott zu reden ihm daheim als Verbrechen angerechnet wird. Das vor kurzem kulturell und wirtschaftlich rückständigste Land ukrainischer Zunge, Galizien, trägt die Fahne des nationalen Selbstbewusstseins voran. Galizien wurde zum ukrainischen Piemont.

So schrieb der Charkower „Snip“ am 2. Juni 1912: „Seit Jahrzehnten sind wir gewohnt, Ostgalizien als ein ukrainisches Piemont zu betrachten; wir haben gesehen, dass das ukrainische Volk in einem halbdeutschen Staat besser gedeiht, als im slawischen Russland. Wir sahen die Ukrainer dort doch immer wieder neue kulturelle Errungenschaften erreichen und wir hegten Hoffnung, dass dort in Österreich den Ukrainern endlich einmal alle Bedingungen für eine allseitige nationale Entwicklung gegeben werden. Allein die österreichische Regierung zögert.“ . . . Diese offene Sprache kostete dem ukrainischen Blatte seine Existenz.

In viel einfachere Worte kleidete dieses politische Glaubensbekenntnis der ukrainische Gelehrte Schyteckyj, der, wie A. Barwinskyj in seinen Memoiren mitteilt, vor 25 Jahren den galizischen Ruthenen zurief: „Fraget dort euren Kaiser, wann gedenkt er schon einmal zu uns zu kommen!“ Als Kaiser Franz Josef vor zwei Jahren seine Botschaft an die Ukrainer verkünden ließ, kamen aus mehr als hundert Ortschaften der Ukraine an den Obmann des Ruthenenklubs im Reichsrate begeisterte Sympathiekundgebungen. Als zu Beginn dieses Jahres die Regierung des Zaren es verbot, den großen ukrainischen Dichter Taras Schewtschenko zu feiern, da gaben die gekränkten Ukrainer in Tausenden von Zuschriften ihre Sympathien für das Land kund, „in welchem die Ukrainer nicht verfolgt werden.“

Diese Gefühle des ukrainischen Volkes sind der russischen Regierung gewiss sehr unangenehm und steigern ihren Willen, dieser Wechselwirkung beider Teile der Nation ein Ende zu bereiten. Die Erwerbung Galiziens wird als eine historische Aufgabe Russlands hingestellt, für die bereits zur Zeit Iwan III. das Schlagwort vom „Sammelwerk russischer Länder“ d. h. Länder des heil. Wladimir, als deren rechtmäßige Erben die russischen Zaren gern gelten möchten, geschmiedet wurde. Schon nach der ersten Teilung Polens ist sich Russland des Umstandes bewusst geworden, dass die Überlassung Galiziens an Österreich ein Fehler war. Später versuchte es Alexander I., Galizien von Österreich gegen Schleswig und Bayern, dann gegen die Moldau einzutauschen. Nikolaus L wollte Galizien gegen einen Teil Polens als Entschädigung erwerben.

Da dies nicht gelang, ließ Russland eine Schar Agenten über Galizien los, trieb hier fast durch ein ganzes Jahrhundert eine russophile Propaganda, um sich den Grund für die Okkupation vorzubereiten und bereitete sich für den Krieg vor, dessen wichtigstes Ziel es ist, Galizien zu erobern und das ukrainische Piemont zu vernichten. Nikolaus II. wurde die Rolle des letzten Sammlers „russischer“ Länder zugemutet.