Ukrainische Geschichte - die Ukraine im Wirtschaftsleben Russlands

Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1914
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
Die Ukraine ist die reichste Provinz, die Kornkammer Russlands, die wichtigste Einnahmequelle des russischen Staates. Seit jeher galt die Ukraine als ein gesegnetes Land, dank ihrer schwarzen Erde und ihrer glücklichen geographischen Lage. In letzter Zeit schwang sich die Ukraine zum Industrieland auf.

Bei der Statistik der wirtschaftlichen Lage der Ukraine kommen in Betracht die Gouvernements: Kijew, Podolien, Wolhynien, Cherson, Jekaterinoslaw, Poltawa, Tschernihow und Charkow mit kompakter ukrainischer Bevölkerung, sowie Taurien und das Kubangebiet, in denen die ukrainische Bevölkerung an die absolute grenzende relative Mehrheit erreicht hat, die auch wirtschaftlich mit den erstgenannten enge zusammenhängen. Im Ganzen 10 Gouvernements gegenüber 53 Gouvernements des übrigen europäischen Russland mit 27% der Gesamtbevölkerung des europäischen Russland.

In Bezug auf die Landwirtschaft stehen uns Daten aus dem Jahre 1908 zur Verfügung. Danach lieferte die Ukraine in diesem Jahre an Wintersaatgut 22%, an Frühjahrssaatgut 50%, an Hafer 20%, an Erdäpfeln 26%, im Durchschnitt 33% des gesamten Ernteertrages Russlands. Diese kolossale Bedeutung der Ukraine auf dem Getreidemarkt Russlands wird noch durch den Umstand erhöht, dass im Getreidebau der Ukraine die Weizenproduktion dominiert und 60% der gesamten Weizenproduktion Russlands darstellt. Derselbe Prozentsatz (60%) entfällt auf den ukrainischen samten russischen Getreideexport, wobei noch zu bemerken ist, dass das ukrainische Getreide auch nach Polen und nach dem Norden Russlands exportiert wird. Was das Ausland als russisches Weizenbrot genießt, kommt durchwegs aus der Ukraine. Der Viehstand für das Jahr 1908 wird durch folgende Ziffern gekennzeichnet: 23% Hornvieh, 28% Pferde, 33% Borstenvieh, 20% Schafe des gesamten russischen Viehstandes besitzt die Ukraine. An Kleinvieh und Geflügel liefert die Ukraine 50%.

Kolossale Flächen, vornehmlich in den Gouvernements Kiew, Podolien, Wolhynien und Tschernihow, dienen dem Rübenanbau und es wurden im Jahre 1910 von der Ukraine. 88% der gesamten Zuckerproduktion Russlands geliefert. In der Ukraine befinden sich auch die reichsten Weinberge in Russland.

Unermesslich sind die Reichtümer der Ukraine an Erzen und Kohlen. So wurden im Jahre 1906, hauptsächlich im Gouvernement Jekaterinoslaw, über 219 Mill. Pud*) Eisenerz oder 68%, der gesamten Eisenerzgewinnung Russlands gewonnen. An Manganerz liefert Podolien über 11 Millionen Pud. Die in der westlichen Ukraine (Krywyj Rih) konzentrierte Gusseisenfabrikation betrug in demselben Jahre in der Ukraine über 102 Millionen Pud oder 62% der gesamten russischen Produktion, die Eisenproduktion fast 6 Millionen Pud oder 38%, die Stahlproduktion über 80 Millionen Pud, die Hälfte der gesamten russischen Stahlproduktion. Der größte Teil der Fabriken entfällt auf Jekaterinoslaw.

*) Pud = 16,38 Kg.

An Stein- und Braunkohle, Antracyt und anderen mineralischen Brennstoffen, wurden im Jahre 1913 in der Ukraine, vornehmlich im Donetzgebiete, über 1 ½ Milliarden Pud gewonnen, oder über 75% der gesamten Kohlengewinnung Russlands (Koks wurde überhaupt nur in der Ukraine produziert )

Überdies lieferte die Ukraine an Salz 35%, an Phosphoriten über 750.000 Pud oder 89% im Vergleich zu ganz Russland. Quecksilber findet man in Russland nur in der Ukraine, ebenso Kaolin. Eine besondere Erwähnung verdient die Gewinnung von Petroleum, Erdwachs u. s. w. Im Bergbau und in der Industrie (Maschinenbau, feuersichere Erzeugnisse, Email, Glasfabrikation etc.) der Ukraine waren im Jahre 1906 gegen 180.000 Arbeiter tätig.

In seiner „L'industrie dans la Russie Méridionale. Rapport présenté a. M. le ministre etc. Par M. Lauwick“ sagt der belgische Verfasser von der ukrainischen Industrie folgendes: „Das kaum vor 20 Jahren geborene Kind der Steppe nimmt Anlauf, die zum Untergang verurteilten alten Eltern (Ural, das Moskauer Gebiet und Polen) gewaltsam zu untergraben. Die Kohlenproduktion im Donetzbassin übertrifft, dank der Entwicklung der Eisenindustrie und fremden Kapitales, alles, was bisher in Europa nach der Richtung beobachtet werden konnte.“ Diese Erfolge führt der belgische Verfasser auf die Teuerung des Heizmaterials in den alten Industriezentren Russlands zurück. Seinem Buche entnehmen wir auch, dass in der ukrainischen Industrie der elfte Teil des gesamten belgischen Kapitals investiert ist.

Die Stellung der Ukraine im Wirtschaftsleben Russlands ist geeignet, den Gegensatz Südrusslands zu Nordrussland gewaltig zu vertiefen. Die Ausbeutung des Südens (der Ukraine) durch den Norden, ist seit jeher System der russischen Wirtschaftspolitik. Diese Tendenz äußert sich in der russischen Agrarpolitik, im Steuer- und Akzisen wiesen, in der Tarifpolitik usw. Die Ukraine besitzt die günstigsten Voraussetzungen für den Handelsverkehr. Schon die Länge der Wasserwege in der Ukraine erreicht 700 km, d. h. soviel wie in Österreich-Ungarn. Maßgebend ist hierbei selbstredend die Lage am Schwarzen Meere, welches mehr als die Hälfte der gesamten russischen Handelsflotte beherbergt und gegen 70% des russischen Exportes vermittelt. Aber die russische Politik verfolgt den Zweck, mit Nachteil für die ukrainischen Häfen (Odessa, Nikolajew, Cherson u. a.) die Ostseehäfen zu beleben. Wie die auf Förderung der Ostseehäfen gerichteten Tarife beschaffen sind, wollen wir an wenigen Beispielen schildern: der Weizentransport von Romen (Gouvernement Poltawa) bis Libau (1.077 Werst) beträgt samt Nebenauslagen pro Pud 21 Kop., dasselbe auf der 429 Werst langen Strecke nach Nikolajew am Schwarzen Meere 18 Kop. In den Tarifbestimmungen, die für die ukrainischen Kohlenbergwerke in Betracht kommen, findet man Positionen von 1/100 Kop. bis 25 Kop. pro Pud und Werst für den Transport nach dem nächsten ukrainischen Hafen, wogegen der Transport von allen ukrainischen Stationen bis Libau, Gattschina, Reval etc. pro Pud und Werst mit 1/125 Kop. festgesetzt ist. So ergibt sich beispielsweise für die Mokiewer Kohlenbergwerke das Kuriosum, dass der Kohlentransport von hier nach dem nächsten Schwarzen Meerhafen (118 Werst) 325mal teurer ist, als nach dem nächsten nördlichen Hafen (750 Werst)!

Womöglich noch bezeichnender ist die russische Steuerpolitik in der Ukraine. Es genügt festzustellen, dass die 10 ukrainischer Gouvernements über 26% aller russischen Staatseinkünfte aufbringen. Die Ukraine deckt nicht allein die Staatsausgaben für ihre eigenen Bedürfnisse, sondern opfert noch fast die Hälfte der von ihr eingebrachten Staatseinkünfte für die anderen Provinzen des Reiches (näheres darüber in der Ukrainischen Rundschau 1909, Nr. 3).