Ukrainische Geschichte - die Ukraine als Faktor der internationalen Politik.

Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
Wird die Ukraine als eine geographische und ethnographische Einheit begriffen und als eines der von der Natur gesegnetsten Länder erkannt, so ergibt sich ihre Stellung als politischer Faktor im Leben der Völker von selbst. Seit unvordenklichen Zeiten spielte das Schwarze Meer und das Dnieprbassin eine große Rolle in der Geschichte. Schon die Richtung der persischen Expansion war nach dem drei Weltteile erschließenden Schwarzen Meere gerichtet. Griechenland bedeckte die nördliche Küste dieses Meeres mit seinen Kolonien und holte sich den Weizen vom Dniepr-Boristhenes. Die hellenistischen Staaten und das römische Reich sowie seine östlichen und westlichen Erben suchten hier Stützpunkte für Handel und Politik.

Vom Norden kommen die Normannen her, die im Dnieprbecken ein mächtiges ruthenisches Staatswesen anlegen und unausgesetzt den Weg nach dem alten Knotenpunkte des wirtschaftlichen und kulturellen abendländischen Lebens suchen und finden. Aus dem Besitz des Schwarzen Meeres schöpfte das altruthenische Reich seine wirtschaftliche Kraft und seine geistige Kultur. Es war das goldene Zeitalter des altruthenischen Reiches — dessen Denkmäler uns in den Handelsverträgen der Kiewer Fürsten mit Griechenland erhalten sind — als dasselbe die Küsten des Schwarzen Meeres besaß.

Die Einfälle der asiatischen Nomaden drängen die ukrainische Bevölkerung immer mehr vom Schwarzen Meere zurück, machen sich breit und sprengen die alte Kulturbrücke zwischen Europa und Asien. Aus innerer Schwäche kann Polen nicht zum Schwarzen Meer, dem Ziele der alten Kulturvölker, gelangen. Das ukrainische Kosakentum, trotzdem es oft das Schwarze Meer beherrschte, kann sich auf die Dauer als Staatswesen nicht halten. Dies gelingt erst der Herrschaft Moskau in leichtem diplomatischem Spiel und hierdurch erwächst die halb wilde Staatsorganisation plötzlich zu ungeahnter Macht, wird in den Bereich der Weltpolitik einbezogen und bekommt die Stoßkraft zur Einleitung einer imperialistischen Politik.

Schon Peter der Große sah sich in seinem Traume als Herr über die Dardanellen und die Legende seines politischen Vermächtnisses lässt erkennen, von welchen Absichten seither die russische Politik beseelt ist.

Ohne den Besitz des Schwarzen Meeres wäre Russland nie ein europäischer Staat geworden und nie hätte Europa etwas von einem Panslawismus gehört. Europa wusste, was es tat, als es Russland das Protokoll betreffend die Garantie des Bestandes der Türkei unterschreiben ließ.

Aber das war nur eine Palliativmaßregel, die es nicht verhindern konnte, dass Europa wieder in Waffen steht. Erst die Verdrängung Russlands vom Schwarzen Meere eröffnet das politische Gleichgewicht unseres Weltteiles, aber auch die Aussicht auf die Wiederbelebung der großen Kultur des angrenzenden Asien. Mit Bewunderung für seine Voraussicht großer politischer Entwicklungen lesen wir von der durch Eduard v. Hartmann mitgeteilten politischen Idee Bismarcks, den alten Kiewer Staat wieder herzustellen. Diese Idee Bismarcks ist die Knochen der ukrainischen Soldaten wert! Pygmäenhaft tritt vor dieser Idee das Balkanproblem zurück, denn die Lösung des ukrainischen Problems bedeutet auch seine Lösung.