Ukrainische Geschichte - die Russifizierung der Ukraine

Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
Mit Peter dem Großen, welcher sein Reich zuerst als „Rossia“ bezeichnete — bis dahin hatte es die Welt mi einer „Moscovia“ zu tun gehabt*) — setzt der Russifizierungsprozess der Ukraine ein. Eines halben Jahrhunderts seit der Vereinigung des Moskowiterreiches mit der Ukraine hatte es bedurft, bevor der Gedanke auftauchte, unter dem Titel der Erbschaft des warägo-russischen Fürstentums die Ukraine als nationales Erbgut zu behandeln.

*) Diese Neubenennung hätte bald zu einem diplomatischen Konflikte seitens Frankreich geführt, dessen Gesandte am Hofe Peters des Großen mit Vollmachten für Moskovien ausgestattet waren.

Karte: Das Wohngebiet der Ukrainer in Europa. Verlag der „Ukrainischen Rundschau“, Wien. Kartogr. Anstalt G. Freytag & Berndt, Ges. m. b. H., Wien.


So ward der Imperialist Peter der Große auch Schöpfer der panrussischen Idee und in weiterer Konsequenz hiervon Vater des heutigen Panslawismus. Auf Veranlassung seiner weitblickenden Ratgeber wird unter Zurückgreifen auf den alten Namen der Waräger Dynastie für die Bezeichnung der Ukrainer der Name „Kleinrussen“ zurechtgelegt, während den Moskowitern der Name „Großrussen“ beigegeben wird. Eine Bezeichnung, die beiden Völkern ebenso wildfremd war, als sie sich einander fremd gegenüberstanden.

Schon vor dem Anschluss der Ukraine an Russland befanden sich Gegenden mit ukrainischer Bevölkerung in den Grenzen Moskowiens, deren Verordnete auf ihrem Landtag von 1642 gegen „die Unbilden der moskowitischen Eindringlinge“ laut Klage erhoben. Nach dem Anschluss der Ukraine konnte daselbst der Serbe Krizanic eine starke politische Häresie konstatieren, deren Meinung dahin ging, „dass es unter der orthodoxen Herrschaft Moskaus schwerer zu leben sei, als unter der türkischen Sklaverei oder den Plagen Ägyptens“. Ein so wildfremdes Volk waren die Ukrainer für die Russen, dass ihnen die exotischesten Namen, wie Tscherkassen und Chachol oder aber auch „Polen“ oder „Litauer“ gegeben wurden. So berichtet um jene Zeit der Moskauer Wojwode Scheremetjew, dass es „der unbedingte Wunsch der Tscherkassen sei, dass es russische Leute in der Ukraine nicht gäbe, weil sie mit ihnen nicht leben wollen“. (Solowjew: Istoria Rossiji, XI., 70-71.) Kein Wunder! Das Russentum jener Zeit, an das die Ukrainer gefesselt waren war dergestalt, dass es vom russischen Gelehrten Buslajew als ein halbwildes, halbtatarisches Kriegslager bezeichnet wird.

Nicht gegen die Ukrainer allein wendete sich die Russifizierungspolitik Moskaus, sondern gegen alle nichtrussischen Völkerschaften Russlands, vornehmlich gegen solche, die sich politischer Ausnahmestellung erfreuten. Die Entnationalisierung derselben wurde schon damals als das beste Mittel erkannt, die politische Vereinheitlichung des russischen Imperiums durchzuführen. Der dieser Politik zugrunde liegende, in den nichtmoskowitischen Provinzen des Reiches zur Geltung zu bringende Regierungsgedanke fand seinen Ausdruck in der folgenden Instruktion der Zarin an ihren Bevollmächtigten Wiasemskij: „Kleinrussland, Lievland und Finnland sind Provinzen, die auf Grund von anerkannten Privilegien regiert werden. An den letzteren gleich zu rütteln wäre nicht opportun, aber sie als fremd zu behandeln, wäre mehr als ein Fehler, nämlich Torheit. Diese Provinzen sind mit leichten Mitteln dazu zu bringen, dass sie sich russifizieren und aufhören, wie Wölfe aus dem Walde herzuschauen.“ (Solowjew, XXVI., 31 — 39.)

Allerdings erleichterte die Anwendung dieses Vorsatzes in Bezug auf die Ukrainer die Verwandtschaft beider slawischen Idiome, vor allem aber der ähnliche kirchliche Ritus. Schon Peter der Große erteilte dem Hetman Mazepa den Auftrag, dass sich „das ukrainische Volk mit allen Mitteln mit dem Großrussentum zu vereinigen habe, vornehmlich durch eheliche Bande, ferner Sorge dafür zu tragen, dass es verborgen bleibe, dass das kleinrussische Land dem Hetmansregime unterstünde“. Dem Hetman wurde weiter aufgetragen, sich Hetman Sr. Majestät des Zaren zu nennen und seine Obersten sowie das kleinrussische Volk als eins mit den Großrussen zu behandeln. Zar Peter ist es auch gewesen, welcher der ukrainischen Geistlichkeit anbefehlen ließ, das Kirchen-slawisch der heiligen Messe „mit den der russischen Sprache eigenen Lauten“ zu lesen. Auch hat er angeordnet, dass an der Kiewer Akademie das Ukrainische nach und nach durch das Russische zu ersetzen sei. Da diese Maßregeln nicht den gewünschten Erfolg hatten, fand sich Katharina II. bestimmt, ihrem Bevollmächtigten in der Ukraine einzuschärfen, „dass sich das kleinrussische Volk mit dem großrussischen eins zu fühlen habe und der innere Hass gegen das Großrussentum ausgerottet werden soll“.

Es war nichts Geringes, von einem alten Kulturvolke zu verlangen, dass es in Barbarei aufgehe. Entgegen den Russifizierungsukasen haben sich die ukrainischen Hetmane und Mäzene ukrainischer Kultur alle Mühe gegeben, die Kiewer Akademie immer besser auszugestalten und zeichneten sich, besonders Mazeppa, als Schulgründer aus. Wie schon vorher Wyhowskyj die Forderung nach Gründung zweier ukrainischer Universitäten erhob, so äußert später Hetman Graf Rasumowskyj gegenüber der Zarin Katharina den Wunsch, in Kiew und in seiner Residenz Universitäten zu gründen. Nicht ohne Erbitterung schrieb der Präsident des Kleinrussischen Kollegiums Graf Rumjanzow an die Zarin Katharina von den Ukrainern, dass sich dieselben „als Leute betrachten, die sich von der ganzen Welt abheben möchten und der Ansicht seien, dass niemand stärker und niemand gescheiter sei als sie, dass es nirgends etwas Schöneres und Besseres und nirgends mehr Freiheit, die ihnen allein frommt, gäbe, kurz, dass alles, was bei ihnen ist, auch das Beste sein muss“. So durften auch die Ukrainer von sich gegenüber den moskowitischen Barbaren urteilen, in deren Land sie freiwillig und zwangsweise das Licht der Kultur trugen, wo sie Gründer der elementarsten und der höchsten Schulen gewesen und den Grundstein für ihre Kultur und Literatur gelegt haben

Indes sollte die zähe Widerstandskraft des ukrainischen Volkes doch zuletzt gebrochen werden. Das Jahrhundert der gewaltsamen Russifizierung zeitigte seine traurigen Früchte. Die gebildeten Volkschichten als Träger des kulturellen Lebens wurden teils durch massenhafte Verbannung, teils durch Güterkonfiskation vernichtet, diejenigen, die geblieben waren, terrorisiert und russifiziert. Die im Gegensatz zur moskowitischen Kirche auf demokratischer Basis organisierte orientalische Kirche der Ukrainer, jene zäheste Vertreterin der Unabhängigkeitsidee der Ukrainer, wurde, seitdem sie dem Moskauer Patriarchen, dann aber der heiligen Synode unterstellt wurde, immer mehr zum Organ der Russifizierung. Die Befürchtungen des Kiewer Metropoliten, welcher seinerzeit Chmelnickyj vor den Gefahren eines Bundes mit Moskau warnte, erfüllten sich vollständig, und ins 19. Jahrhundert traten die Ukrainer, ihrer natürlichen geistigen und politischen Führer beraubt. In keiner Schule erklang das ukrainische Wort mehr. In keiner Kirche hörte der Ukrainer um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts Predigten in seiner Muttersprache. Ein Verfall des ukrainischen Lebens trat ein, dessen Erinnerung uns grauen macht.