Ukrainische Geschichte - die Lage der Ukrainer in Russland

Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
Der Verfall des nationalen Lebens der Ukrainer zu Beginn des 19. Jahrhunderts war so groß, dass es den Anschein hatte, als ob die Ukraine als politische und nationale Einheit zu bestehen aufgehört hätte. Wohl wird berichtet, dass noch im Jahre 1791 ein Delegierter des ukrainischen Adels, Graf Kapnist, am Hofe des Königs von Preußen erschienen sei, um dessen Hilfe gegen die „russische Tyrannei“ zu erflehen. Diese Tat war aber nur ein Aufflackern des verglimmenden Lichtes. Die letzte Erinnerung an die große Vergangenheit der Ukraine wurde der lebenden Generation durch jene greisen Banduraspieler vermittelt, welche von Hof zu Hof die wunderbaren Epen vergangener, ruhmreicher Zeiten zum Vortrage brachten. Aber unter dem Hauche der großen, das Zeitalter bewegenden nationalen Ideen sollte auch in der Ukraine die Flamme der nationalen Begeisterung aufleuchten.

Was stellt die Ukraine von heute als national-politische Einheit vor? Sie ist ein Volk, das aus dem Schlafe erwacht, den Entwicklungsgang einer modernen Nation zu betreten Anlauf genommen hat, hieran aber mit allen Mitteln der russischen Autokratie gehindert wird.

Schon die ersten Anzeichen des wieder erwachenden Lebens der Ukrainer um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begegneten dem harten Widerstand der russischen Regierung, welche nicht um die Frucht einer jahrzehntelangen nationalen Vernichtungsarbeit gebracht werden wollte. Das Schlagwort, unter welchem die Verfolgung der Ukrainer und die Niederringung ihrer Nation seit dem vorigen Jahrhundert betrieben wurde, war nicht, wie im 18. Jahrhundert, die politische Einheit Russlands, welche die Niederwerfung von bestandenen Autonomien verlangte, sondern der Aufbau eines russischen Nationalstaates aus dem Nationalitätenstaat, also der Panrussismus, welcher als Panslawismus und Neoslawismus bis auf den heutigen Tag fortwirkt.

Im Jahre 1914 wollte die Ukraine die Jahrhundertfeier ihres größten Nationaldichters Schewtschenko begehen, aber das Zarat verhöhnte die heiligsten Empfindungen der Nation, indem es diesen Akt der Pietät zum Staatsverrat stempelte. Taras Schewtschenko war nämlich der Prophet seiner Nation, der ihr neue Wege wies und als wertvollste unter den ukrainischen Opfern der zarischen Wut verfiel. Nach der Entdeckung einer von Schewtschenko und seinem Freunde Kostomarow 1846 gebildeten politischen Organisation, welche ukrainische Unabhängigkeitsziele verfolgte, begann eine neue Periode der Unterdrückung der national wiedergeborenen Ukrainer des 19. Jahrhunderts. Die russische Regierung fand sich damals veranlasst, die Ukrainer selbst vor dem Gebrauch der Worte „ukrainisch“ und „Hetman“ zu warnen. Dennoch dauerte die nationale Bewegung der Ukrainer, aber auch die Verfolgung der Ukrainer fort. Die ukrainische Bewegung wurde mit dem Polenaufstand von 1863 in Zusammenhang gebracht und eine Reihe Unterdrückungsmaßnahmen eröffnet. Die ukrainische Presse wurde unterdrückt und in demselben Jahre das Verbot ausgesprochen, ukrainische Gebet- und Erbauungsbücher, sowie solche wissenschaftlichen Inhaltes zu veröffentlichen.

Im Jahre 1876 wurde aber der berühmte Ukas erlassen, welcher den Gebrauch der ukrainischen Sprache für Literaturzwecke ganz verbot. Dieser Ukas war der Ausfluss der Theorie des russischen Ministers Walujew, dass es „keine ukrainische Sprache und Literatur geben dürfe“. Weder im öffentlichen Leben, noch in der Schule, auch nicht im Theater durfte das ukrainische Wort erklingen. Selbst aus der Kirche war die ukrainische Sprache verbannt. Die russische Regierung hatte alles getan, was sie im 18. Jahrhundert versäumt zu haben glaubte. Die bei dem ukrainischen Volke hoch in Ehren stehenden Volkssänger und Kobsaspieler, deren Repertoir historischer Lieder dem Volke teuer sind, wurden als die Träger eines gefährlichen, nationalen Agitationsstoffes für Vagabunden erklärt und mit der ganzen Schwere des Gesetzes verfolgt. Ukrainische Ortsbezeichnungen wurden russifiziert, jeder Ukrainer, welcher auf eine Anstellung im Staatsdienste Anspruch machte, musste seither seinem Namen eine russische Endung beifügen.

Das Volk wurde in tiefer Finsternis belassen; die ihm unverständliche, russische Vortragssprache in der Schule verhinderte jede Aufklärung. Aber auch die russischen Schulen sind in der Ukraine dünn gesät. Während Paul von Aleppo von den Ukrainern zu Beginn des 18. Jahrhunderts erzählt, dass es fast in jedem ukrainischen Dorf eine Schule gab und fast alle Leute lesen und schreiben konnten, leben heute in der Ukraine 80% Analphabeten.

Eine natürliche Folge dieser gegenüber den Ukrainern betätigten Politik war, dass die energischen Elemente der ukrainischen Intelligenz in das Lager der Revolution getreten sind. In der ukrainischen Intelligenz dominierte der Gedanke, dass zuerst das absolutistische Regiment zu Boden geworfen werden müsse, ehe die Nation sich ihrer Rechte bemächtigen kann. Die Ukraine war in den Mittelpunkt der russischen Aufruhrbewegung getreten. Von der Ukraine ging die Losung für die Agrarunruhen aus. Sie gab auch Führer der bekannten Verschwörungen und Anschläge unter den beiden Alexander. Auch der bekannte Pope Gapon war ein Ukrainer. Die Revolution der Schwarzen Meerflotte in den Jahren 1905, 1912 und 1914 war gleichfalls ein Werk der ukrainischen Revolutionäre. Aber aus denselben revolutionären Reihen ging auch die Losung der „Unabhängigkeit der Ukraine“ hervor. Die „Befreiung der Ukraine“ ist Gemeingut aller ukrainischen Parteien. Eine derselben warf das chauvinistische „Ukraine für Ukrainer“ ins Volk.

Wohl brachte die Revolution des Jahres 1905 den Ukrainern manche nationale Erfolge, aber diese waren nur scheinbar. In die erste und zweite Reichsduma konnten über 40 Abgeordnete gewählt werden, die sich unter der Losung der Autonomie für die Ukraine organisierten, aber die oktroyierte Wahlreform von 1907 vereitelte die Wahl sei es nur einer kleinen ukrainischen Gruppe. Es durften anfänglich Vereine gegründet werden, die jedoch bald sämtlich aufgelöst wurden. An hundert periodische Druckschriften wurden seither gegründet, aber kaum zwei oder drei dürfen ihr klägliches Dasein fristen.

Denn wehe einem Geistlichen oder Lehrer, einem Beamten oder Gewerbetreibenden, wenn er ein ukrainisches Blatt zu abonnieren wagt. Denn wie jeder Hausverwalter als Vertrauensmann der Polizei die Pflicht hat aufzupassen, wer von den intelligenten Ukrainern das Ukrainische als Muttersprache gebraucht, so muss jeder Postvorstand ein genaues Verzeichnis jener führen, die ukrainische Blätter und Bücher zugeschickt bekommen und darüber genau Bericht erstatten. Wohl hat die heilige Synode gestattet, eine von einem ukrainischen Bischof hergestellte Bibelübersetzung herauszugeben, aber die Lektüre derselben wird mit Strafe belegt. Denn gefährlich ist alles, was ukrainisch ist oder nur daran erinnert. Gefährlich ist ein ukrainisches Buch über das Genossenschaftswesen und Astronomie, gefährlich illustrierte Erzählungen für die Kinder aus dem Tierleben.

Ein Wald von Ausnahmegesetzen richtet sich gegen das ukrainische Volk. Als es Stolypin darum zu tun war, den ukrainischen Vereinen den Garaus zu machen, da gab er 1909 einen Erlass heraus, nach welchem die Gründung von Vereinen fremdsprachiger Stämme, die nationale Tendenzen verfolgen, insbesondere aber ukrainische Vereine, nicht zu gestatten sei. Daraufhin wurden sämtliche bestehenden ukrainischen Vereine aufgehoben und selbst die Gründung von wirtschaftlichen Genossenschaften nicht gestattet. In diesem Falle wurden also die Ukrainer als ein fremdes Volk behandelt. Als es aber der russischen Regierung darum zu tun war, sich ebensowohl gegen die Einfuhr von Russland nicht genehmer russischer Bücher aus dem Auslande, als auch insbesondere gegen die Einfuhr ukrainischer Bücher aus Galizien zu schützen, da wurde im Zollvertrag mit Österreich 1906 festgesetzt, dass für jedes Kilogramm russischer Literatur 1 Rubel Zoll zu entrichten sei und ukrainische Bücher als russisch dieser Zollbestimmung unterordnet. So gilt die ukrainische Sprache einmal als russisch, einmal als fremd, je nachdem es der Regierung bequem ist.

Die ganze bürokratische Maschine Südrusslands und die zahlreichen Exposituren der russischen Nationalisten wurden gegen die Nationalbewegung der Ukrainer losgelassen. Als Programm der russischen Nationalisten erschien im Jahre 1912 ein umfangreiches Buch von Schtschogolew unter dem Titel: „Die ukrainische Bewegung als gegenwärtige Etappe des südrussischen Separatismus“, welches detailliert Mittel und Wege zur Ausrottung der ukrainischen Bewegung angibt und ein umfangreiches Namensverzeichnis sämtlicher ukrainischer Intelligenzler enthält, die sich irgendwie an der nationalen Bewegung beteiligen. Das Buch wurde von amtswegen der Polizei Südrusslands empfohlen und das Namensverzeichnis wird sorgsam ergänzt.

Dem Absolutismus in Russland, als Feind der Ukraine, gesellt sich ein zweiter ebenbürtiger Gegner, der russische Nationalismus, als dessen Träger bisher die orthodox konservativen Elemente galten, die nun von den Liberalen abgelöst werden. Die liberalen Elemente, von denen Fürst Meschtscherskij sagt, dass sie „viel nationaler und nationalistischer sind, als die Reaktion selbst“, sind auf dem besten Wege, ihre reaktionären Gesinnungsgenossen zu überflügeln.

Aber vergeblich sind alle Bemühungen des Zarismus und des russischen Nationalismus, das ukrainische Volk im russischen Meere aufgehen zu lassen. Der trotz fürchterlichen Druckes großartige Aufschwung des national-politischen Bewusstseins der Ukrainer straft die Märe von der nationalen Einheitlichkeit der Russen und Ukrainer Lügen. Der Kadettenführer Miljukow hatte in der Dumasession im März v. J. die ganze Tragweite der ukrainischen Frage als einer ausgesprochen politischen Frage aufgerollt und auf die Gefahren hingewiesen, die Russland von dieser Seite drohen. Das war tags darauf, als die ukrainischen Demonstranten auf den Straßen Kijews Heilrufe auf Österreich ausriefen.