Ueber wahre Bildung

Eine Vorlesung gehalten den 28. April 1844 zu Bielefeld zum Besten der armen Spinner im Ravensbergischen.
Autor: Grün, Karl Theodor Ferdinand (1817-1887; Pseudonym: Ernst von der Haide) Journalist, Philosoph, linksdemokratischer Politiker, Professor und Vortragsreisender. Herausgeber des Nachlasses von Ludwig Feuerbach (1804-1872), Erscheinungsjahr: 1844
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Gesellschaft, Politik, Bildung, Philosophen,
Indem ich mich anschicke, zu Ihnen über das Wesen der wahren Bildung zu reden, fühle ich recht wohl, wie sehr ich den ungeheuren Stoff des hier zu Sagenden zusammendrängen, wie viel ich noch obendrein auslassen, wie ich gewissermaßen von Gedanke zu Gedanke springen muss. Es würde wenigstens zwanzigmal die Rede auf eine Stunde zu erneuern sein, um irgend gründlich, irgend wahrhaft erörternd über diesen Gegenstand werden zu können. Stellen wir uns daher gleich auf den richtigen Standpunkt, dessen ich bedarf, um mir selber nicht ungenügend vorzukommen, den Sie ins Auge zu fassen haben, um nicht schließlich in Ihren Erwartungen getäuscht zu sein. Ich will anregen, ich kann nur anregen, ich will und kann von dieser Stätte aus nur Samenkörner in Ihre Geister streuen, es dem guten Geschicke anheimgebend, ob dieselben aufgehen und Frucht tragen.

Bildung überhaupt ist die gesellschaftliche Blüte der Staaten, — das Wort Staat hindert uns, an nicht zivilisierte Epochen der Menschheit zu denken — Bildung ist Kulturblüte. Nur das gründliche Studium der gesellschaftlichen Blüte, der Bildung eines Volkes in seiner Haupt-Epoche ermächtigt uns zu einem Urteile über die Idee und Bestimmung dieses Volkes. Denn Bildung ist Resultat und Fruchtkeim zugleich, Frucht und Samen in Einem. Die historische Bedeutsamkeit aller vergangenen Epochen eines Staates setzt sich in seiner gegenwärtigen Bildung nieder und seine gegenwärtige Bildung ist wieder der Schlüssel zu seiner zukünftigen Geschichte. Aus den Sitten bilden sich Gesetze, die Gesetze, je nach ihrer Vollkommenheit und Weisheit, fördern das freie Staatsleben, die Festigkeit des Ganzen bei der Freiheit der Einzelnen; und diese Harmonie wölbt wieder den schützenden Baldachin über Kunst und Wissenschaft, so wie über die schönste aller Künste und Wissenschaften, über die Kunst des gesellschaftlichen Verkehrs. Diese drei aber machen historisch die Bildung einer Nation aus.

Wahre Bildung besteht in der Betätigung aller edlen Kräfte des freien Individuums. Um das freie Individuum herzustellen, bedarf es aber der freien Gesamtheit, des wahrhaften Staates; denn der wahrhafte Staat ist die wahrhafte Freiheit. Aristoteles sagt durchaus richtig: „Der Mensch ist ein politisches Tier“, d. h. das Wesen des Menschen offenbart sich vorzüglich darin, dass er nur im organischen Verbande, im Staate, seiner freien Menschheit inne werden kann. Also wird auch die höchste Kulturblüte, die gesellschaftliche Bildung, die wahre Kunst, die wahre Wissenschaft, die wahrhaft künstlerische Geselligkeit nur in einem freien Staate möglich sein. Unter diesem Gesichtspunkte die Sache betrachtet, kann man mit historischer Gerechtigkeit behaupten, dass wahrhafte Bildung nur ein einziges Mal in der Geschichte der Menschheit vorhanden gewesen ist; nicht die höchstmögliche überhaupt, denn sonst müsste die Geschichte unfehlbar dort still gestanden sein; wohl aber die bedingungsweise vollkommenste, die nach der damaligen Höhe der Entwicklung ausführbare. Diese wahre Bildung finden wir in Griechenland, auf jener glückseligen Inselgruppe im Südosten unsres Erdteils, der überhaupt für den Planeten zum Chorführer bestimmt ist. Griechenland und namentlich Athen war das Land des Ebenmaßes, der vollendeten Form, der Harmonie zwischen Geist und Natur. Hier war der Geist nichts Getrenntes, über den Wassern Schwebendes; sondern er war die Blüte der Natur; man konnte dort den rohen Stoff gar nicht anders auffassen und denken als in der Alles verklärenden Form, mit dem Auge der Schönheit. Der griechische Sehwinkel war gar nicht für Schroffheiten und Härten eingerichtet; er sah überall nur Wellenlinien und Ebenmaß. Dieser Rhythmus, dieses unverwirrbare Gefühl für Ebenmaß pulsiert durch Alles hindurch, was man Lebensäußerungen eines Volkes nennen kann. Er rauschte in den Oden und Chören der Dichter, er meißelte die marmornen Götterbilder, er schlug den Takt in den Reden der Volksmänner und Gesetzgeber, er glühte im heißen Kampfe fürs Vaterland, er durchzog die scharfsinnigsten Auseinandersetzungen der Philosophen, er herrschte in den Volksversammlungen, selbst wo es am meisten stürmisch zuging, er waltete auf den Übungsplätzen der Jugend und bei den Gastmählern der Erwachsenen, welche zu wahren Götterversammlungen wurden. Hier war kein Zwiespalt, kein Unglück, keine Sehnsucht. Die Götter, welche eine herrliche Phantasie in den Olymp versetzt hatte, konnte nur dieser Volksgeist erschaffen und sie gingen als Lebensmächte unsichtbar waltend durch die Welt der Griechen einher. Was da von Intelligenz schon herausgearbeitet war, das waltete auch im Herzen des Volkes; was da von Licht schien, das leuchtete auch als Wärme: es war die seligste, fröhlichste Kindheitsperiode des Geschlechtes, dessen wankende Hoffnungen schon hier allein gegen jeden Zweifel den festesten Anker finden könnten. Denn was die Menschheit einmal besessen, das bleibt ihr ewig unverloren und taucht zu seiner Zeit ganz gewiss wieder aus dem ewigen Borne empor, um, sei es auch nur als Element, mitzuwirken an der Neugestaltung der Menschheit.

Griechenland ging unter, es hatte weder das Herz ergründet, noch den denkenden Geist; was es fühlte und was es dachte, das durfte nicht tiefer sein als es war, sollte anders die Harmonie bestehen. Das Weib hatte an der griechischen Bildung keinen Teil, das Weib aber ist der Repräsentant des Herzens; in der Sentimentalität des Euripides zeigte sich die krankhafte Sehnsucht nach tieferem Gefühl; von Seiten des Geistes trat Sokrates auf und zerstörte das ruhige, objektive Dasein der Lebensmächte, welche die Griechen als Götter verehrten, er stürzte den ganzen Olymp in das menschliche Bewusstsein hinab und zeigte, wie hier die Götter als menschliche Gedanken und Gefühle entstehen und leben. Die das getan haben, haben noch immer den Fluch der Masse, den Fluch der konservativen Beschränktheit davongetragen. Aber das ist ihr Recht; Prometheus durfte den göttlichen Funken auch nicht umsonst unter das irdische Geschlecht tragen, er wurde an den Kaukasus genagelt, und ein Geier fraß ihm täglich die Leber aus, ihm, dem ersten der Märtyrer. Die alte griechische Welt, in der Verzweiflung der Selbsterhaltungssucht, reicht dem Sokrates den Schierlingsbecher. Den Propheten kann man zerstören, aber die Prophezeiung bleibt; Sokrates starb, aber das griechische Leben ging rettungslos scheitern.

Von jetzt an hat die Weltgeschichte wohl Bildung aufzuweisen, aber keine wahre Bildung, bis auf diesen Tag. Denn sie hat keine Epoche mehr gehabt, worin alle menschlichen Kräfte gleichmäßig ausgebildet gewesen wären, keine Epoche der Harmonie, keinen Staat mehr, der sich zum Träger des wahrhaft Menschlichen, der freien, schönen Individualität gemacht, der sein eignes Prinzip grade auf die Freiheit der Persönlichkeit der harmonischen Persönlichkeit gegründet hätte. Die Idee der Menschheit warf sich in lauter Abstraktionen auseinander, Abstraktionen voller Tiefe und Energie, welche in ihrer Erledigung dem Ganzen zu Gute kamen, die aber eben, weil sie Abstraktionen, Einseitigkeiten waren, keine wahrhafte Bildung, kein künstlerisches, plastisches Menschentum mehr aufkommen ließen. Die Weltgeschichte wusste, was sie tat; das Ideal, welches nach dem Griechischen zu realisieren war und noch immer zu realisieren steht, war etwas so unendlich Großes, Hohes, Vollkommenes, dass es sich wohl der Mühe lohnte, mehrtausendjährigen Schweiß und Kampf auf sich zu nehmen, um nur endlich zum Ziele zu gelangen.

Die erste Einseitigkeit war die römische. Rom hatte nur Eine Idee, nur Einen Zweck, dem alles Andere tyrannisch untergeordnet wurde, den Zweck des römischen Reiches, der römischen Weltherrschaft. Dieser Zweck war welthistorisch, weil er die erste rohe Andeutung des Kosmopolitismus, der Weltbürgerschaft war, der grade in dem Augenblicke seiner Ausführung am Nächsten stand, als die Geschichte ihr Urteil über die ganze Idee aussprach, zu Cäsars Zeiten, in dem Augenblicke als Markus Brutus den Dolch in das Herz des väterlichen Freundes stieß. Der einzelne Grieche war eine schöne Individualität, an und für sich selbst Zweck; nicht so der einzelne Römer, der nur groß wurde durch den Gedanken: Rom, die Republik. Der einzelne Römer ist nur groß, insofern er auf Rom steht, insofern er aufgeht in dem Zwecke der Freiheit und Herrlichkeit des Vaterlandes. Wo sind doch hier die schönen Persönlichkeiten von Hellas, diese Menschen, welche wie fertige Götterbilder dastehen, wo sind die Künstler, die Dichter, die Philosophen, die Gesellschafter? Hier sind die Fabier, Cincinnatus, Coriolan; hier sind Regulus, Cato, die Scipionen; aber was bewundern wir an den Fabiern, an Cincinnatus, an Coriolan, an Regulus, Cato und den Scipionen? Den Mut fürs Vaterland, die Aufopferung fürs Vaterland, das Sichhingeben für den Zweck der Größe Roms mit höchster Resignation der eignen Persönlichkeit. Setzt diese Helden von dem Piedistal Rom herunter, setzt sie auf die Fläche der allgemeinen Menschheit: was bleibt menschlich Schönes und Erhebendes an ihnen? Wo sind die Homere, die Pindar, die Anakreon, Äschylus und Sophokles; die Heraklit, Sokrates und Plato; die Phidias und Appelles; die Perikles und Alcibiades? Wo sind sie doch? Dass man zu den Zeiten des Verfalles Roms mit Kunst und Literatur großtat, nachdem man eben die Elemente von den Griechen überkommen hatte, dass man mit Horaz und Virgil und Ovid, mit den Sklaven, welche Schauspiele fabrizierten, mit Cicero und Andern prahlte, als ob sie den Griechen den Rang streitig machten, war eine lächerliche Anmaßung der Borniertheit. Man kann sich nicht gröber irren, als wenn man die römische Mythologie mit der griechischen für ziemlich gleich halt. Die griechischen Götter bildeten einen schönen, blühenden Götterstaat voll schöner Bewegung; die römischen Gottheiten bildeten eine Maschinerie, welche dem römischen Ehrgeize und der römischen Eroberungslust diente. Man glaubte nicht an die Götter, wenn die Priester nichts Schmeichelhaftes sagten; man brauchte die Götter. — Wie sollte hier wahre Bildung herrschen, da diese doch auf freier Persönlichkeit beruht; wo sollte hier schönes Leben bestehen, da alle Kraft der Einzelnen in den Ozean der Weltherrschafts-Idee mündete? Dem Einzelnen warf man das Privatrecht zu, das Recht zu besitzen und zu vererben: das ist Alles, was Rom von persönlicher Freiheit jemals gekannt hat. Als griechisches Leben sich nach Rom drängte, als die Persönlichkeiten hervortraten, als der asiatische Luxus persönliche Zwecke und Leidenschaften hervorrief: da stürzte Rom über seine eigene tönernen Beine; Brutus ging unter, der letzte Mann des alten Roms. Rom hatte Griechenland erobert, aber Griechenland hat Rom ruiniert. Cäsars Geist zerschlug sich in herrschsüchtig-schlaue und wollüstig-grausame Triumvirn und Kaiser. Von da geht es fort durch einen langen Prozess der Auflösung und Verwesung bis die alte Welt unter den derben Schlägen todesmutiger Barbaren zusammensinkt.

Die christliche Bildung tritt an die Stelle der reinmenschlichen. Die Unendlichkeit des Selbstbewusstseins, unendlich tiefer als das griechische, verlangt ihr Recht; das Gemüt, früher gefangen gehalten in plastischen Formen, zerbricht diese Formen und schwelgt im Abgrunde einer unendlichen Unglückseligkeit. Das Gemüt hebt die Welt und Wirklichkeit auf und erbaut sich ein jenseitiges Reich, höher und mächtiger als das römische. Aber dieses Reich ist nicht von dieser Welt; das in seiner ganzen Tiefe aufgeschlossene Gemüt wendet verachtungsvoll der Welt den Rücken und lebt in der überschwänglichen Sehnsucht des Jenseits. Der Mensch war in sich selbst zerfallen, so wie er die eine Seite seines Wesens für die Allheit seines Wesens ansah; die Harmonie der Bildung war aufgehoben, so wie die eine Kraft des Menschen allein wucherte. Das Mittelalter war eine großartige, eine riesenhafte Erscheinung, weil der Geist, selbst in seiner Einseitigkeit, selbst in seiner Verkehrung, immer bedeutungsvoll, immer der Geist bleibt; aber es war die Zeit der Widernatur, der Unnatur, die Zeit der Widermenschlichkeit und Unmenschlichkeit. Alle anderen geistigen Kräfte ruhten, der zergliedernde und ordnende Verstand, die menschlich-klare Phantasie, die Ideengebärerin Vernunft: nur das Gefühl, das phantastische Gemüt, das sich selbst vergötternde Gemüt beherrschte die Welt. Was sich in der Wirklichkeit zutrug, die Kämpfe und Entwicklungen der Staaten und Völker, die Philosophie, die Kunst, die Literatur, Alles bekam erst Ton, Farbe und Richtung von dem phantastischen Gemüte; es war dies Alles keine wirkliche, echtmenschliche Bewegung, keine wirkliche Philosophie, Kunst und Literatur, sondern die Bewegung phantastischer Gemüter, eine Scheinphilosophie, eine Traumkunst, eine Literatur, welche nur die Bestrebungen des Gemütes wieder abspiegelte. Zwiespalt und wieder Zwiespalt ging durch diese christliche Bildung hindurch. Kein Verhältnis des menschlichen Lebens kann genannt werden, das nicht diesen Zwiespalt, diese schroffe Abteilung in ein Diesseits und ein Jenseits an sich trüge, in ein verachtetes, sündhaftes Diesseits und in ein herrliches, über alle Maßen herrliches Jenseits. Was galten Staaten, Fürsten und Kaiser selbst neben der Kirche, den Bischöfen und dem Papste, dem leibhaftigen Stellvertreter Gottes auf Erden? Was ist die Liebe, dieser echte Prüfstein wahrer Bildung, dieser Maßstab, unter dem selbst die Griechen fallen, was ist sie in dieser Welt? Sie ist nicht das Gefühl des wahren und vollen Besitzes, des Habens und Genießens im Geist und im Fleisch zugleich: sie ist die Qual der Sehnsucht, ihr Zweck muss ewig ein jenseitiger bleiben. Die Schönheit des geschlechtlichen Verhältnisses bestand diesen Menschen in der Dauer seiner Unerfülltheit: da mussten riesenmäßige Aufgaben vollbracht werden, da mussten so viel Ritter aus dem Sattel gehoben, so viel Feinde erlegt werden, ja wohl gar Kreuzfahrten ins gelobte Land zur Vertilgung der Ungläubigen unternommen werden, bis man die Geliebte verdient hatte. Unterdessen konnte die Geliebte verzweifeln, eine falsche Todesnachricht in Erfahrung bringen: sie nimmt den Schleier, sie lässt sich einkleiden. Jetzt ist der Liebesbegriff dieses Zeitalters erst auf seiner wahren Höhe angelangt; der Liebende, der siegestrunken heimkehrt, unendliche Sarazenen erschlug, beharrt jetzt erst recht in seiner Sehnsucht; er siedelt sich dem Kloster gegenüber an, er lässt sein ganzes Geschäft darin bestehen, unverwandt nach der Zelle der Geliebten hinzuschauen, bis man ihn, den Helden, eines Morgens tot findet: „nach dem Fenster noch das bleiche, stille Antlitz sah.“ — Und doch wird diese Jenseitigkeit noch überboten; denn diese Liebe ist nicht einmal die wahre Liebe, es kleben ihr noch Schlacken der Endlichkeit an, sie ist noch nicht die wahre himmlische Liebe. Für die rechte Braut gibt es nur Einen Bräutigam, das ist Christus, nur Ein Hochzeitsbette, das ist der Sarg, die Brücke zur ewigen Seligkeit; ja die ganze Kirche ist ausdrücklich die Braut Christi. Die ganze Erde, das ganze Leben, Alles, was die Griechen so herrlich verklart hatten, ist nur ein Jammertal, ein Pilgergang, ein Prüfungsort geworden, der seinen einzigen Glanz, seine einzige Schönheit empfängt durch den himmlischen Abglanz, durch den Widerschein der jenseitigen Schönheit. Wir leben hier nur noch im Glauben, dort, jenseits soll geschaut werden; dort wird Alles ausgeglichen in dem milden Sonnenscheine, der Maria, Christus und die Heiligen umgibt. Alles hienieden ist nichts, Alles, was die Menschen hienieden vornehmen, kann nur dann Bedeutung haben, wenn es sich auf das Jenseits bezieht, wenn es das Jenseitige bedeutet. Die Poesie, welches Schmachten, welche Sehnsucht, welch feierliches Symbolisieren der Geheimnisse Gottes! Die Dome, was sind sie anders, als Angstseufzer der Sehnsucht, mit ihren gen Himmel atmenden Spitzen? Und die Plastik, welche sich solchem Streben ein für allemal nicht hergibt, weil ihre eigene Natur die Opposition dagegen bildet, wie platt und abgeschmackt seufzt sie aus den Sandstein - Missgeburten dieser Zeit heraus! Es war eine Bildung, die mittelalterliche, eine vollendete Bildung; aber nicht die wahre Bildung, nicht die menschliche Bildung, es war die Bildung der Verkehrung alles Echtmenschlichen, es war die großartigste Verirrung der Menschheit. Und doch war es eine notwendige Verirrung, die Schwärmerei der Jünglingsperiode, die einmal zeigen sollte, welche Tiefe des Gemüts, welcher Fonds von Gefühl in der Menschheit verborgen läge.

Dagegen musste rebelliert werden. Wie Sokrates den griechischen Geist zerstörte, wie Cäsars Geist über den des alten Rom siegte: so traten jetzt vier Zerstörer und Empörer auf, jeder in einer andere Weise, aber alle vier einig in der Grundidee, jeder gleich groß wie der andere: Luther, Rafael, Shakespeare und Spinoza.

Die Gemütstiefe des Einzelmenschen hatte die mittelalterliche Welt erbaut, aber aus ihrem Erbauer war er ihr Sklave geworden; die Welt des Zwiespalts, die Welt der Jenseitigkeit war fest geworden, etwas Unantastbares, das Verhältnis der Persönlichkeit zu dieser Welt war ein bestimmtes, buchstäblich vorgeschriebenes geworden. Persönlichkeiten hatten sich in dem neuen Rom vorgedrängt, wie einst in dem alten, und das sollte der Sturz des neuen Roms eben so gut werden, wie das alte daran zu Grunde gegangen war. Die unendliche Freiheit des Gefühls hatte den jenseitigen Himmel geschaffen, und nun sollte dasselbe unendliche Gefühl wieder nur mit dem Jenseits vermittelt werden nach Maßgabe steifer Satzungen, nach dem Gutdünken kalter Hierarchen? Welcher Widerspruch! Luther machte sich an diesen Widerspruch und zerschmetterte ihn in lauter Stücke, er zerhieb mit urkräftigem Worte die Brücke, welche von Rom aus ins himmlische Jerusalem führte und gab Jedem das Recht zurück, auf eignen Füßen dorthin zu wandern. Er stellte die Herzenszerknirschung wieder her, aus der die ganze mittelalterliche Welt entstanden war, er machte noch einmal Ernst mit dem Zwiespalt und der Zweigeteiltheit des Bewusstseins. Aber das Mittels welches er dazu wählte, musste notwendig sich gegen die ganze Welt der Jenseitigkeit kehren; dies Mittel wird ihn unsterblich erhalten unter allen folgenden Geschlechtern der Menschheit, es stellt ihn für ewig unter die Heroen des Geschlechts. Sein Mittel war die Befreiung des Selbstbewusstseins, die Freierklärung des inwendigen Menschen, das Recht sich selbst die Stätte des Heils zu suchen, sein eigner Priester zu sein.

Und Rafael! Rafael ist schon der Hohn der jenseitigen Welt über sich selbst, er der Künstler der Symbole der Jenseitigst ist der Vernichter der Jenseitigkeit. Er nimmt den Stoff der alten Weltanschauung und behandelt ihn menschlich-vernünftig. Er liefert scheinbar die höchste Vergötterung des himmlischen Reiches, und siehe da, es war nicht so, er lieferte die Verherrlichung der wirklichen, menschlichen Welt. Dieser Jüngling, der auf Bergeshöhen herumwandelt und alle Farben des sich brechenden Sonnenstrahls in sein welttrunkenes Herz sammelt, verherrlicht die Welt und das Leben, wie keiner seiner Genossen. Es sind Madonnen, die er malt, Madonnen voll himmlischen Liebreizes, heilige Jungfrauen mit dem Schmelze göttlichster Zärtlichkeit, es ist der ganze Zauber des himmlischen Reiches über sie ausgegossen. Aber nein! Es sind irdische Madonnen, Weiber voll glühendster Weltlichkeit, wirkliche Mädchen mit der bezauberndsten Freundlichkeit, es ist der ganze Zauber der schönen Erdenwelt über sie ausgegossen. Diese Verkehrung hat stattgefunden, so zerstört die höchste Kunst das Reich der Jenseitigkeit, das ist der Hohn des Genies!

Wie blüht und duftet der protestantische Geist in dem größten aller Dichter, in William Shakespeare? Hier jubelt und jauchzt die freie Persönlichkeit durch alle Dur- und Mollakkorde hindurch, hier ist die Welt des Jenseits, des Fatums und des Himmels und der Hölle heruntergestürzt in des Menschen Brust. Das Schicksal der Alten ist hier ins Gewissen eingekehrt. Jeder tragt sein Strafmaß wie das Maß seines Lohnes mit sich selbst herum, und Jeder ist berechtigt, sich auszuwirken und seine Bestimmung auf eigne Faust auszuführen, von Marcus Brutus, dem letzten Römer, und Kent dem Edlen bis auf Richard III. und Oswald, den Schuft. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht und: die Menschengeschichte ist das Menschengericht, eherne Gerechtigkeit herrscht in allen menschlichen Dingen: unter diesen Devisen hat der große Shakespeare Altertum und Mittelalter, tragische und komische Privatverhältnisse auf dem Kothurn und dem Soccus einherwandeln lassen und Schauspiele aufgeführt, in denen die Bildung zweier Jahrhunderte sich spiegelt. Ja, er griff seiner Zeit in dem Maße vor, er war so sehr Alles in Allem, dass er die philosophische Bewegung des Gedankens bis zum 18. Jahrhunderte in seinem Hamlet zeichnete und das Motto dazu in dem Satze aussprach: „An sich ist nichts weder gut noch böse, der Gedanke macht es erst dazu.“

Aber der Gedanke selbst trat ebenfalls endlich hervor, in reiner Unabhängigkeit, mit dem Trotze seines Rechtes, die Dinge im Himmel und auf der Erde zu untersuchen und den Zwiespalt der Welt an der Vernunft zu messen. Dies war die Tat Baruch Spinozas, des ersten Philosophen der neuen Zeit. Und siehe da, im Gedanken überall Einheit, in der Welt nichts als Zweiheit! Die Welt predigte ewigen Krieg zwischen Materie und Stoff; Baruch Spinoza lehrte die ewige Einheit beider in dem unerschaffenen Wesen. Dies Wesen ist räumlich, ausgedehnt, und denkend zugleich, dies sind seine beiden Eigenschaften. Aber Nichts kann räumlich gedacht werden, was nicht zugleich vom Denken abstamme: Sein und Denken sind Eins. Alle wahre Philosophie der neueren und neusten Zeit musste sich auf Spinoza gründen, hat sich auf Spinoza gegründet und sein Grundprinzip nur weiter ausgearbeitet. Die Welt ist eine Diesseitigkeit, das wahre Leben ist ein volles, Eines, ungetrenntes; die Wirklichkeit, die tiefer ergründete, ist die Stätte des tiefer ergründeten Geistes.

Aber all diese Blitze des Genies blieben unwirksam für die Gesamtheit der Völker; nur ihre Spitzen wurden erleuchtet, nur Einzelne, nur Kreise der Auserwählten wurden zu Feuerträgern. Von Bildung, von einer wahrhaften Durchbildung der Massen, der Völker, der Menschheit konnte keine Rede sein. Das schwere Schiff des Mittelalters steuerte zwar im Sturm, aber es steuerte doch noch, und die St. Elmsfeuer einer neuen Weltansicht schienen fast zu erlöschen in den schwarzen Wolken des Himmels.

Es muss der französischen Nation zum ewigen Ruhme nachgesagt werden, dass sie die erste war, welche diese Mastlichter zu größerer Helle anblies, zu einem Morgenrot der Weltbeleuchtung, der Aufklärung. Selbst im siebzehnten Jahrhundert, mitten unter prächtigem Despotismus bildete sich zu Versailles eine Literatur und mit ihr eine feine Gesellschaft, welche, die erste von allen, diese Literatur wiederspiegelte, sie hob und trug und selbst wieder teilweise zur Literatur wurde. Dieser Hof Ludwigs XIV. war voller Affektation, voller Heuchelei und Schöntuerei, voller langweiliger Formsucht, es ist wahr; aber er war zugleich der Träger einer Bildung, einer schöngeistigen, menschlichen Bildung, die ihre Früchte getragen hat, und die in Europa den Ton anzugeben vermochte. Sie hat ihr Fades und Unwürdiges, diese Selbstvergötterung der bonne société, dieses Versuchern der Marschälle durch Blaustrümpfe, diese Feier der tobten Generale von diplomatischen Kirchenfürsten, diese Maitressenwirtschaft des Königs und dieser weibliche Krieg der Bevorzugten untereinander; aber es lag etwas echt Humanes dabei zu Grunde, etwas Humanes, das sich mit rührender Naivität zeigte, wenn Lafontaine zu der Freundin seiner verstorbenen Beschützerin, welche ihn auf der Straße frug, warum er sein Domizil nicht jetzt bei ihr nehme, sagte: J’y allais Madame! Ich war eben auf dem Wege dahin!

Diese Bildung von Versailles war eine exklusive und ermangelte zudem der Kritik. Es musste weiter ausgeholt werden, die Masse des Volkes war noch zu bilden, und die wahre Bildung der neuen Zeit konnte in keiner Weise auf den Trümmern des Mittelalters errichtet werden. Kritische Elemente in der Versailler Literatur sind nur bei Moliere zu finden, — Moliere war ein Schüler Gassendis und dieser war vom spinozistischen Geiste durchdrungen. Das 18te Jahrhundert gab sich ans Werk, es holte tiefer und weiter aus als bisher geschehen war, es kehrte die Hälfte des alten Schuttes weg, es klärte die Menschheit auf. Frankreich ging voran, dieser Fackelträger der neueren Welt. Welche Axtschläge brachten diese französischen Philosophen dem mittelalterlichen Staate bei, welche Hiebe der Adelswirtschaft und der despotischen Willkürlaune. Wie greift Voltaire den festgewordenen Katholizismus an, wie zermalmt er die Hierarchen, jene Pächter der Wahrheit, welche dieselbe lotweise der dürstenden Menschheit abließen, lotweise, und wie versalzen! Wie hat Rousseau eine Erziehung vernichtet, welche ganz dazu geeignet war, Werkzeuge der geistlichen und weltlichen Willkürlaune zu schaffen, geradebrechte Geister und lendenlahme Körper? Wie stellt er den Staat des freien Vertrages, der gegenseitigen Verbindlichkeit, dem Staate der Tatsache, der Tradition gegenüber! Wie haben die Enzyklopädisten eine Weltansicht bekämpft, nach welcher derselbe Gott, der die Welt mit ewigen Gesetzen begabt, diese Gesetze gleich einem chinesischen Zauberer willkürlich aufhöbe, gleich wie mittelalterliche Könige und Priester die Gesetze der Freiheit und der menschlichen Seele verspotteten! Und wie haben dieselben Enzyklopädisten die Natur, diesen ewigen Organismus, diesen Sklaven des ganzen Mittelalters, wieder zu Ehren gebracht und kanonisiert! Die Geister arbeiteten wie nie vorher, nach ganz Europa hin verbreiteten sich die Springlichter der Aufklärung, sie wurde der Kultus des Jahrhunderts. Natur! Natur! schallte es in die Ohren der Menschheit, die vom Dachsschlafe des Winters emporsprang und die tragen Glieder allmählich ausdehnte. Natur, Natur, du Langvergessene, du Tiefbegrabene, wir sind deine Kinder, deine Freier! Wir wollen uns gesund baden in deinen Wellen, gesund von der alten Krankheit langer Jahrhunderte! Das war eine Zeit, eine gewaltige Zeit, der Hahnenruf der ganzen Zukunft. Und als nun in die so vorbereitete Menschheit die Eine Frage hineintönte, die ganz praktische und ganz einfache Frage: „Was ist der dritte Stand?“ Da erhob sich das ganze große Frankreich wie Ein Mann, und antwortete wie aus Einem Munde: Das ist der dritte Stand, der Bürgerstand. Weg mit den Privilegien und Monopolen, weg mit den Freiheiten und Rechten, gebt uns Freiheit und Recht für Alle, ist doch die Luft auch eine einzige für Alle! Hier eröffnet sich das großartigste Schauspiel der bisherigen Geschichte, das Schauspiel der Verwirklichung der Freiheit, das Schauspiel der faktischen Zertrümmerung des Mittelalters. Von diesem Schauspiel an haben fünfzig Jahre lang alle Sympathien in der ganzen Welt her datiert; das Streben nach politischer Freiheit wurde die neue Religion der Völker, und diese Religion hat ihre Heiligen und Märtyrer gehabt, wie jede andere. Die politische Freiheit wurde das Panier, worauf der Menschheit geschrieben schien: „In diesem Zeichen wirst Du siegen!“ Es schien, als ob die wahre Bildung der Welt, die neue griechische Bildung, dies harmonische Wesen, zu realisieren wäre unter politischen Garantien, innerhalb politischer Institutionen, mit der Devise: Freiheit innerhalb des Gesetzes und Gleichheit vor dem Gesetze. Deutschland arbeitete sich im philosophischen Gedanken theoretisch auf dieselbe Höhe hinauf; Kant mit seinem Imperativ, mit seinem: Du sollst! mit seiner Predigt: Im Reiche des Willens kann Jeder ein König sein, ist grade so gut Revolutionsmann wie die Nationalversammlung. Und Fichte gar ist ein Mann des Konvents, wenn er predigt: „Wer sich noch ermahnen und ermahnt werden muss, das Gute zu wollen, der hat noch kein bestimmtes und stets bereit stehendes Wollen; wer ein solches festes Wollen hat, der will, was er will, in alle Ewigkeit und er kann in keinem möglichen Falle anders wollen, denn also wie er eben immer will. — Alle Bildung strebt an die Hervorbringung eines festen, bestimmten und beharrlichen Seins, das nun nicht mehr anders sein kann, denn so, wie es ist.“

Seit der französischen Revolution ist die politische Freiheit, die Hervorbringung eines festen und beharrlichen Seins, von dem man wähnt, es müsse so, wie es sei, auch ein für allemal bleiben, das Ideal aller erleuchteten Köpfe und aller edlen Herzen gewesen. Die Restauration bildete eine abgeschmackte, dumpf-trübe, aber schwere Opposition gegen diesen Gedanken und wusste durch alle möglichen, ehrlichen und unehrlichen Machinationen zum letzten Male die Sehnsucht nach mittelalterlichen Gestaltungen wachzurufen. Aber dieser Zug der Sehnsucht war der letzte Seufzer des ewigen Abschiedes, die Menschheit bekam jenen sentimentalen Anflug, als ihr Schiff sich in eine ganz neue Bahn hineinlenkte, in welcher bald die letzten Bergspitzen der Vergangenheit für immer verschwinden sollten. Die Menschheit ermannte sich aus der Restauration, zunächst zwar wieder nur politisch; das französische Volk warf die Adels- und Pfaffenketten zum andern Male von sich und schuf sein Julikönigtum. Abermals zuckte der Wetterstrahl bürgerlicher Freiheit durch die alte Europa hindurch, zündete hier und zündete dort, im Ganzen scheinbar ohne Erfolg. Allein an diese Aufregung der Geister sollte sich etwas unendlich Höheres und Tieferes anknüpfen als ein politischer Enthusiasmus; die Lehrjahre der politischen Kampfe neigten sich zum Ende, es tagte etwas Neues, noch nicht Dagewesenes. In Deutschland schloss sich dem großartigen Hegel’schen System, das den Schlüssel zur Betrachtung aller Vergangenheit allererst geschmiedet hatte, eine Reihe kühner Kritiker an, welche in höherer Potenz, ein ganzes Stockwerk höher, die Arbeit der französischen Philosophen wieder aufnahm und mit einer unerhörten Schärfe und Kühnheit der Kritik die ganze Vergangenheit vom Sturze der antiken Welt an, in ihre feinsten Atome zerbröckelt, welche nicht nur gegen die politische Tradition einen radikalen Protest einlegte, sondern auch, und zwar hauptsächlich, gegen die religiöse Tradition, als auf welcher Grundlage das ganze Mittelalter, diese Welt der Gemütlichkeit und des Zwiespaltes, aufgebaut sei, endlich aber auch gegen die sozialen Zustände, gegen die bisherige Gesellschaft in die Schranken trat, und hier eine gewichtige, für das Alte die gefährlichste Lanze einlegte. Die politischen Bestrebungen, die politische Opposition in ihrer gewöhnlichen, bekannten Erscheinung, musste neben solchen Anläufen zur Nebensache herabsinken und wird es alle Tage mehr tun. Ist es doch ein ganz gewöhnlicher Maßstab bereits geworden, die bloß politisch Liberalen als Anfänger zu betrachten, oder sie wohl gar, wiewohl so im Allgemeinen mit Unrecht, zu den Toten, zu den Konservativen zu werfen. – Daneben trat man in Frankreich, diesem Lande der Praxis, gleich mit fertigen neuen Sozialtheorien hervor; man hatte die neue Gesellschaft bereits ideell konstruiert. Männer, wie St. Simon, Fourier, L. Blanc, Leroux, Proudhon, traten mit Schöpfungen und mit Kritiken gegen diese Schöpfungen auf; man machte bereits Partei, es gab St. Simonisten, Fourieristen, Cabetisten und andere Isten. Die Welt war offenbar in eine ganz neue Phase getreten; man war endlich dahin gekommen, sich nicht mehr mit Einzelheiten, mit Fortschritten und Verbesserungen zu begnügen, man grub in die Tiefe, nach den Wurzelfasern der mittelalterlichen Gesellschaft, und tat den notwendigen Fund, dass der Zwiespalt, die Entzweiung des Menschenbewusstseins in allen Lebensäußerungen kristallisiere, im Staat, in der Religion, in der Gesellschaft, dass es zeit sei, die um Jahrtausende lange Erfahrungen bereicherte Menschheit endlich in den Tempel einzuführen, worin der wahre Gottesdienst gefeiert werden könne, ihr endlich voranzuleuchten in das gelobte Land, nach unselig langem Schmachten, und Irren in der Wüste, ihr in denjenigen Zustand zu verhelfen, worin die neue Bildung, die wahre Bildung ihre Stätte haben sollte. Wie auch die Frage definitiv gelöst werden mag — das kann im Einzelnen kein Mensch beschreiben, sobald die Menschheit sich zu einer Bewegung anschickt — die praktische Frage ist aufgeworfen, ist vorhanden. 1789 hieß es: Was ist der dritte Stand? Antwort: Der Bürgerstand! Jetzt heißt es: Was ist der vierte Stand? Antwort: Das Proletariat! Der Sozialismus ist das Alles bezeichnende Wort für die neue Epoche, für die neue wahre Bildung; das schön unruhige Wogen der Menschheit im sichern Kahne neuer organischer Lebensgesetze wird wesentlich und durchaus sozial sein. Das ist die Zukunft der Welt. Alle unsere Bildung war Vorbildung auf die Vorbildung zum Sozialismus. All unser Tun und Lassen war polemischer Natur. Niederreißen, Zerstören, Vernichten, Aufräumen war unser Geschäft; in dieser Unruhe fanden wir unsre Seligkeit. Schwerterklang war unsre Lust; wir schufen Disharmonie oder vielmehr wir zeigten sie auf, überall wo sie war, und sie war überall: das war notwendig, aber es war keine Bildung, es war Zertrümmerung der alten Bildung, um für die neue den Bauplatz zu gewinnen. Es wird aber eine Zeit des Ausbaues kommen, eine Zeit der Gestaltung, eine Zeit der Schöpfung, der fortwährenden Schöpfung, welche eben die Erhaltung ist, eine Zeit der Formung, der Bildung. Diese Zeit ist die Zeit des Sozialismus.

Jedes politische Ideal zerschlagt sich an zwei Einwürfen. Es kann Freiheit gewähren bis zum Verschwinden einer dem Volke gegenüber stehenden Regierung; es kann die Meinungsäußerung mündlich und schriftlich sicherstellen, es kann Eigentum, Leben und Ehre, sowie den ihrer Verletzung Angeschuldigten, auf eine Weise schützen, welche nichts zu wünschen übrig lässt, es kann Selbstverwaltung, Selbstbesteuerung, Selbstregierung bringen; es kann Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe auf den höchsten Grad von Blüte treiben. Aber einmal: Kann es die Armut aufheben, kann es den Pauperismus töten, kann es das Verbrechen aus der Welt schaffen? Kann es dem Proletariat beikommen, kann es die Abhängigkeit der Nichtbesitzer von den Besitzern, der Minderbesitzenden von den Mehrbesitzenden und der Viel- und Wenigerbesitzenden von den Wenig oder Nichtsbesitzenden, tilgen? In der politischen Welt ist Jeder abhängig, Jeder ein Sklave und der höchste Eigentümer erst recht der Galeerensklave Aller. Wo ist größere Abhängigkeit als in Nordamerika? Wo herrscht der Geldgott, mit seinen Heiligen; Diebstahl, Schwindel, Verzweiflung mehr als in jener vielgepriesenen Republik? Und England, das Land der parlamentarischen Freiheiten, — wer ist frei dort? Der reichste Lord hängt von seinen Pächtern und Afterpächtern, der fabrizierende Millionär von den Scharen der Arbeiter, der Arbeiter von der Laune seines Herrn, dieser von einem Börsengerücht, das Börsengerücht selbst wieder von der auf lauter Zufälligkeiten erbauten Politik, diesem Fatum unserer Epoche ab. Wer macht uns jene große Hälfte der Menschheit frei, die weniger verdient, als sie gebraucht; wer schafft Menschen aus diesen modernen Sklaven? Die Politik, die Verfassungen? Wahrhaftig nein! So weit reichen die Politik und die Verfassungen nicht, sie schwimmen auf der Oberfläche herum. Wer macht jene Wesen, die uns Eugène Sue’s Meisterhand neulich in erschreckender Mannigfaltigkeit vorzeichnete, wieder zu Trägern des sittlichen Geistes? Wie kann man von der Bestimmung des Menschen reden, so lange nicht Alle — Menschen sind, welche die Natur mit dem Anrechte dazu schuf? Was weiß man denn bis jetzt von einer Menschengeschichte, in welcher Alle ihre Kräfte zusteuerten, in welcher Alle mit eingriffen in den großen schönen, stolzen Organismus, worin Menschenkräfte, alle Menschenkräfte auf- und niedersteigen und sich die goldenen Eimer reichen? Die Geschichte war bisher nur ein einziger, unausgesetzter Krieg und zwar wesentlich ein Krieg zweier Menschenscharen wider einander, ein Krieg der Glücklichen, der Habenden, der Sieger wider die Unglücklichen, Nichthabenden, Unterdrückten: in Griechenland hießen die letzteren Sklaven und Heloten, in Rom Sklaven, im Mittelalter Leibeigne, in Russland heißen sie Bauern, in Nordamerika Schwarze, in der zivilisierten Welt von England, Frankreich und Deutschland heißen sie Proletairs. Und wieder sind unter Ersteren, unter den Siegern, die Einen die Heloten der Andern, die Einen die Neger der Andern, die Einen die Bauern und Leibeignen der Andern, in verzweiflungsvollster Wechselseitigkeit. Unter diesem Gesichtspunkte stürzt die ganze Geschichte der Menschheit zusammen, Griechenland voran, auch Griechenland, Sparta an der Spitze, das, obgleich es in seinem sozialen Leben einen rohen Kommunismus ausübte, doch wieder der gebundene Sklave seiner eignen Staatsansicht war. Die Geschichte ist gemacht worden in sozialer Sklaverei, in Leibeigentum und Abhängigkeit vom Besitze: es gilt jetzt sie zu machen in sozialer Freiheit und Unabhängigkeit, in Herstellung des wirklich freien Ich. Wir wollen einmal abwarten, ob sich die Resultate dieser neuen Geschichte mit denen der alten messen können.

Zweitens stößt sich jedes politische Ideal den Kopf ein an dem Wesen und der Bestimmung des weiblichen Geschlechtes. Das Weib war in der ganzen Vergangenheit ein eben so arger Sklave, wie Heloten und Neger nur je gewesen; ja es war ein weit ärgerer, schmachvollerer Sklave, wenn es den Schein der Freiheit vor sich hertrug. Wir wollen gar nicht von den Zeiten und Ländern sprechen, wo das Weib wirklich gekauft, wirklich erfeilscht wurde, wo es eine Tauschware bildete und noch bildet. Nein, wir wollen unsere modernen Zeiten betrachten. Das Weib ist der Sklave seiner sogenannten Bestimmung; es wird gekauft, nicht wörtlich, nicht auf dem Markte, aber es wird gekauft, ja erst recht gekauft, wenn es selbst den Kaufpreis dazu hergibt. Es ist abhängig vom Manne, wie der Mann vom Gelde, es ist Sklave in zweiter Hand. Lässt sich das Weib einmal emanzipieren, lässt es sich loslösen von der Tyrannei selbst des besten Mannes: es ist aufs Neue Sklave geworden, Sklave aller Zufälligkeiten, jeder Kleinigkeit, Sklave des allergewalttätigsten Tyrannen, der öffentlichen Meinung, des Leumundes. Sie wollen mir ideale, wirklich sittliche Ehen entgegen halten, solche Ausnahmen, die man zählen kann. Sie stellen mir ein edles Weib hin, das sich einem Charakter, einem tüchtigen Manne hingab. Sie haben mich nicht widerlegt: Der Charakter, der tüchtige Mann ist Sklave seiner zerstörerischen Ideen, Sklave des Geldes, des Besitzes, wie Jeder. Nun, und die Frau eines Sklaven sollte keine Sklavin sein? Beobachtet den stillen Seufzer der Edlen, beobachtet den schmerzlich-reizenden Zug um ihre Lippen; dieser Zug bildet sich unwillkürlich bei dem selbst unbewussten Gedanken: Was könntest du sein, und was bist du? Ich habe stets gefunden, dass die Frauen die schwärmerischsten Anhänger des Sozialismus sind, dass sie eine Ahnung besserer Welten überkommt, wenn man auch nur ein Stück des Vorhanges zerreißt, der vor dem Paradiese der Zukunft hängt. Die Frauen sind zu einer hohen menschheitlichen Rolle bestimmt im Leben der Harmonie, sie werden das Element plastischer Anmut sein neben dem der plastischen Würde. Wo bleibt unter diesem Maßstab die Vergangenheit mit ihren Sklavenweibern? Sie sinkt in Nichts zusammen, Griechenland voran, Griechenland, wo die Weiber nicht einmal Zuschauerinnen auf den politischen Gallerten waren, wozu sie die neuere Zeit endlich gemacht hat.

Die Politik kann keine Proletarier und keine Weiber emanzipieren; dies ist nur die Kehrseite von dem Satz: Sie kann die Arbeit nicht organisieren. Flicken kann sie, stümpern und pfuschen, Maßregeln ergreifen, Armen - und Kolonialwesen verbessern. Aber ihre ganze Schwäche liegt schon in dem Ausdrucke: Das Armenwesen verbessern. Am Armenwesen bessern, will gerade so viel sagen, als ein Loch größer graben. Am Armenwesen ist nichts zu verbessern; es muss aufgehoben werden; dass Armut besteht, ist eine Schande für die Menschheit. „Raum für Alle hat die Erde.“ Entweder ist die Organisation der Welt und der Erde ein Unsinn gewesen, oder die Kultur dieser Erde, die Arbeit ihrer Verwaltung, der Gewinnst ihrer Produkte ist die Sache der Menschheit. Alle arbeiten und Alle genießen; der Genuss ist nur die Krone der Arbeit. Entweder ist alle Psychologie oder Seelenkunde ein Traum aus dem Tollhaus, oder die Neigungen und Fähigkeiten dos Menschen entsprechen der Masse der zu verrichtenden Arbeit. Die Natur soll der Spiegel des Geistes, sein materielles Ebenbild sein, sagen unsre Weisen. Wohlan, so muss sie in Harmonie mit den Arbeitsneigungen der Menschen sein, sobald diese Menschen nur wirklich frei sind, sobald es keine Proletarier und keine Sklavenweiber mehr gibt. Diese beiden Größen müssen sich vollständig decken. Nichts darf auf beiden Seiten übrig bleiben und die Kunst, diese Gleichung im Einzelnen zu Wege und in Bewegung zu setzen, heißt eben die Organisation der Arbeit.

Diese neue, wahrhafte Kultur, diese wahre Bildung wird eine neue Welt sein, sie wird die Trägerin eines Lebens werden, von dem wir bis jetzt kaum eine leise Ahnung haben. Eine neue Poesie, eine neue Malerei, eine neue Skulptur, eine neue Architektur werden entstehen; die neue Geselligkeit aber, die neue Kunst der Gesellschaft, wird das Leben selbst sein, dessen Dasein schon Poesie, dessen einzelne Szenen Malerei, dessen Menschen plastische Figuren, dessen ganze Konstruktion selbst die großartigste Architektur bilden wird. Alle Kräfte der Menschheit werden vorhanden und in Tätigkeit sein, die alten im Dienste der Ordnung, die neuen unerwartet groß und schön: das Ganze Eine Harmonie. Dann ist der vollständige Gegensatz geliefert zur Welt der Jenseitigkeit, dann existiert die volle unendliche Diesseitigkeit; dann ist Himmel und Hölle nicht bloß ins Bewusstsein des denkenden Menschen hineingestürzt, sondern alle Lebensmächte des Menschen sind in konkretem Dasein vorhanden, in buntester Mannigfaltigkeit entfaltet, in Leben, in rhythmische Bewegung gesetzt. Dann ist die Religion mit ihrem jenseitigen Himmel hienieden in tastbarer Wirklichkeit; dann ist der Begriff der Philosophie verleiblicht. Dann hat alle Sehnsucht ihr Ende erreicht, denn das Leben ist die stets spannende Erfüllung der Sehnsucht. Dies ist das Ziel des Sozialismus.

Was in ewigen Regeln sich bewusstlos bewegt, das hat von jeher Harmonie und Ordnung gepredigt: Das Planetensystem, die Sonnenkreise, die Natur unsrer Erde, — sind sie nicht vollständig organisiert, nicht frei kontribuierend in allen ihren Teilen zur Harmonie des Ganzen? Nur die Menschenwelt, diese Krone der Erde, nur sie konnte sich bisher nicht in der Freiheit zu dem gestalten, was die Reiche der Natur mit Notwendigkeit vollbringen. Aber die Zeit wird erfüllet werden, die Harmonie wird kommen. Lernen Sie die Bewegung kennen, welche gegenwärtig die Geister durchzittert, und welche den größten Bewegungen der Weltgeschichte gleichkommt, so muss es Ihnen klar werden, dass eine neue Epoche menschheitlicher Entwicklung anbricht. Diese Epoche ist die der freien Assoziation.

Ich habe Ihnen, hochv. Anw., in diesen Umrissen nur Andeutungen geben können; die Masse des Stoffs und die Beschränktheit der Zeit brachten dies so mit sich. Was wir gehört haben, ist kurz dieses: Es gab in der Geschichte nur eine einzige echt menschliche Bildung, die griechische, und es wird eine neue, vollständige Bildung hereinbrechen, welche wir die soziale nennen. Was Jeder von uns, was Sie, Frauen und Männer, zu tun haben, um der gebärenden Zeit zu Hilfe zu kommen, um in Ihren Kreisen die Vorbildung zur wahren Bildung anzupflanzen und zu verbreiten, ist dies: Seien Sie aufmerksam auf die Zeichen der Zeit, verfolgen Sie aufs Genaueste diejenigen literarischen Erscheinungen, welche allein würdig sind, gelesen und studiert zu werden, verderben Sie sich Ihre Zeit nicht mit der Spreu des Büchermarktes, mit dem Janhagel der Tagespresse! Lesen Sie das Gute, der Wink eines unterrichteten Freundes wird es Sie anfänglich von dem Schlechten unterscheiden lehren, und dieser Unterschied wird bald so fest in Ihnen stehen, dass Sie sich wundern, wie Sie jemals gehaltlosen Dingen einige Beachtung zollen konnten. Die Literatur ist die Heroldin des neuen Geistes, sie trägt seine Fahne vorauf. Vielleicht ist es mir vergönnt, im Bunde mit Gleichgesinnten Ihnen bei Ihren Bildungsbestrebungen nachhaltig unter die Arme zu greifen. Ich bin ein Westfale und werde das nicht vergessen; das westfälische Volk kommt langsam; aber wenn es da ist, so bleibt es; was es gefasst hat, das halt es fest.

Ferner haben Sie Mut! Eine Idee wäre des Sieges wenig würdig, wüsste sie nicht zu kämpfen, ja müsste sie nicht kämpfen. Diese Welt, wie sie annoch steht und geht, bedarf des Widerstreits zweier Prinzipien; die alte Bildung, die schlechte Bildung, steht der neuen wahrhaften werdenden entgegen. Da zerschlägt sich mancher Widder an der Mauer des Alten; aber man lässt nicht nach, die Mauer wird morsch, sie stürzt endlich, sie stürzt wahrhaftig. Haben Sie Mut, wenn es Leiden und Arbeit kostet, der Mut hat in sich selbst Genugtuung, selbst für vorläufige Niederlagen. Persönlicher Charakter, Gesinnung, auf Übereinstimmung zwischen Kopf und Herz gebaut, tun uns not; aber sie, sind auch unüberwindlich. Sie lassen sich nicht bändigen, weil sie bereits in sich selbst dasjenige überwunden haben, was draußen zu überwinden ist, die Feigheit, die Schlechtigkeit, die Niederträchtigkeit, den Egoismus. Der Sturz des Egoismus ist der Sieg der neuen Idee, der Egoismus muss ausgerottet werden.

Haben Sie Vertrauen zur Macht des Geistes, zur Macht der Vernunft. Der Geist hat die Geschichte gemacht, er hat sich stets seine Gegensätze selbst gesetzt, um sie radikal zu vernichten, um sich in ihrer Vernichtung groß und herrlich zu zeigen. Er scheut die Zeit nicht und die Schwierigkeiten; er hat sich eben jetzt den größten und furchtbarsten Gegner entgegengesetzt, um nach dessen Vernichtung in dem Anschauen seiner eignen Herrlichkeit zu schwelgen. Wohlan, Sie haben den Geist in sich, haben Sie Vertrauen zu ihm, haben Sie Vertrauen zu sich selbst!

Ich bin an dieser Stätte erschienen, um armen Notleidenden eine Beihilfe zu erwerben. Dieser Notpfennig reicht nicht aus, er versüßt nur einige Augenblicke des Elends und des Kummers. Es lässt sich auf dem Wege der Unterstützung nicht vollständig helfen, das Übel liegt zu tief, es liegt im Gesamtzustande der Zivilisation. Ich habe daher mit jener Beihilfe grade die Andeutung jener anderen radikalen Hilfe verbunden; ich habe Ihre Geister und Herzen für das neue Evangelium zu gewinnen gesucht. Das ist mein eigentlicher Tribut für unser Proletariat. Und wenn meine Worte dazu beigetragen haben, in Ihnen die Sehnsucht nach der neuen Lehre recht lebendig anzufachen, wenn ein Samenkorn Grund gefunden hat in Ihrem Innern, ein Samenkorn zu den Früchten der neuen, wahren, sozialen Bildung; dann will ich noch in spätester Zeit den Augenblick segnen, in dem ich vor Ihnen erschienen bin.

Grün, Karl Theodor Ferdinand (1817-1887; Pseudonym: Ernst von der Haide) Journalist, Philosoph, linksdemokratischer Politiker, Professor und Vortragsreisender. Herausgeber des Nachlasses von Ludwig Feuerbach (1804-1872)

Grün, Karl Theodor Ferdinand (1817-1887; Pseudonym: Ernst von der Haide) Journalist, Philosoph, linksdemokratischer Politiker, Professor und Vortragsreisender. Herausgeber des Nachlasses von Ludwig Feuerbach (1804-1872)