Abschnitt 9 - Der erste Teil dieser Behauptung bedarf keiner Erhärtung, allseitige freudige ...

Der erste Teil dieser Behauptung bedarf keiner Erhärtung, allseitige freudige Anerkennung ist ihm gesichert; von Kunstbildung soll heute nicht die Rede sein; für den letzten Satz aber bin ich um so dringender den Nachweis schuldig, je anstößiger der erhobene Vorwurf in unserer zugleich politischen und bildungsstolzen Zeit erscheinen mag. Aber freilich, kein Zeitalter weiß, wo ihm der Zopf hängt, bevor es abgelaufen ist, und nach zweihundert Jahren mag wohl mancher Schuljunge, gestützt auf sein Lehrbuch der Kulturgeschichte, geläufig hinweisen auf Mängel, die wir uns heute nur mühsam und widerwillig zum Bewusstsein bringen; sind ja doch Mängel überall schwerer aufzuzeigen als Auswüchse, zumal wenn jene durch blendende Vorzüge verdeckt erscheinen, wie es bei uns der Fall ist mit der mangelhaften politischen gegenüber der glanzvoll wuchernden naturwissenschaftlichen Bildung. Durch letztere, so behaupte ich, ist der Geist der heutigen europäischen Gesellschaft (mindestens der kontinentalen) so einseitig erfüllt und in Anspruch genommen, daß als Folgeerscheinung ein empfindliches Zurückbleiben in der Entwicklung des politischen Sinnes, in weiten Schichten bis zur völligen politischen Unbildung, eingetreten ist. Die einseitige Befangenheit der Geister in naturwissenschaftlichen Denkformen bildet den Zopf des neunzehnten Jahrhunderts.
Wer hiezu den Kopf schütteln will, werfe mit mir einen unbefangenen Blick in die größeren und kleineren Kreise unserer Gesellschaft, so weit hin als sie überhaupt auf Bildung irgendwelcher Art Anspruch macht. Da haben wir als weitesten Kreis das große Publikum der sogenannten populären Vorlesungen für Gebildete in allen größeren Städten. Es besteht zumeist aus dem, was man den guten Mittelstand zu nennen pflegt, wie einseitig aber sein Interesse und somit seine Bildung ist, zeigt das Programm der Vorträge, die es sichtlich bevorzugt. Gegenstände der exakten Naturforschung und immer wieder solche sind es, deren Darlegung man zwar nicht immer mit vollem Verständnis, aber stets mit Ehrfurcht und Bewunderung entgegennimmt, während für die Tatsachen und Zusammenhänge der politischen Welt in diesen Kreisen nur wenig Teilnahme und für bezügliche Vorträge kein Publikum vorhanden ist. Die bürgerliche Hausfrau und die Spektralanalyse - fürwahr eine charakteristische Erscheinung unserer Zeit und ein Problem für den künftigen Kulturhistoriker! Ein Problem, weil es a priori widersinnig erscheinen will, daß für eine dem täglichen Leben fremde und ohne mathematische Vorbildung unverständliche Naturerscheinung ein lebhaftes Interesse da gefunden wird, wo man ein solches Interesse weit eher erwarten möchte für eine wissenschaftliche Erklärung der Ursachen und Wirkungen des Kaffeezolles. Aber ganz im Gegenteil, der einseitig herrschenden Geistesrichtung zufolge bewundert man dort die Erhabenheit eines ewigen Naturgesetzes und berauscht sich am Scharfsinn des Entdeckers, indessen man hier nur klägliches Menschenwerk erblickt, Stümperei der löblichen Gesetzgeber von heute auf morgen, eine Sache, die willkürlich auch anders oder gar nicht sein könnte, welche darum das nach ewigen Wahrheiten lechzende Gemüt des Bildungsphilisters gänzlich kalt lassen muss. Die Lösung des scheinbaren Widersinnes aber liegt darin, daß wir eben alle, weit mehr als wir ahnen, Kinder unserer Zeit sind, das Wort „Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben“ gilt auch im Gedränge der Gedankenwelt: nur hie und da erheben sich Einzelne über dasselbe hinaus, indessen die große Masse herdengleich in den herrschenden Gedanken, Gefühlen und Interessen ihrer Zeit sich dahinwälzt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung