Abschnitt 8 - Politische Bildung also umschließt die Fähigkeit, der Vergangenheit gerecht zu werden. ...

Politische Bildung also umschließt die Fähigkeit, der Vergangenheit gerecht zu werden. Weit bedeutsamer noch als diese aber erscheint mir eine andere, der Zukunft zugewendete Seite des durch solche Bildung geschliffenen Geistes. Er besitzt Einsicht und Begriff für „politische Notwendigkeiten“ und deren Gegenteil „politische Unmöglichkeiten“.

Diese Einsicht ist in besonderem Grade symptomatisch. Geht sie doch von selbst hervor aus dem Bewusstsein von jenen Kausalzusammenhängen, welche die Erscheinungen der politischen Welt mit derselben Notwendigkeit beherrschen wie die sogenannten Naturgesetze die Veränderungen in der mechanischen, wenn unter letzteren einige exakt berechenbar sind, so ist das der Fall, nicht weil hier der Kausalzusammenhang strenger, die Wirkung eine notwendigere Folge ihrer Ursachen wäre, sondern weil für unsere menschlich beschränkten Mittel ihre relativ einfachen Voraussetzungen messbar deutlich und vollständig erkennbar sind, während dieser Fall niemals eintreffen wird bei den unendlich feineren und tiefer verzweigten moralisch-politischen Phänomenen. Wer aber seinen Blick an die Beobachtung dieser gewöhnt hat, der hat sehen gelernt, wie auch politische Veränderungen nach ihrer Möglichkeit und Wirkungsweise strengstens bedingt sind durch den vorgefundenen Tatbestand, aus dem sie hervorgehen und auf den sie einwirken sollen; daß darum ihr Eintritt und Erfolg allerdings berechenbare Erscheinungen sind, obzwar aus der eben angedeuteten Ursache nicht exakt und absolut, sondern nur annähernd und nach Wahrscheinlichkeit - eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, auf deren Handhabung alle praktische Staatskunst beruht. Er sieht um so deutlicher, je tiefer er in der Beobachtung der wirklichen politischen Hergänge vordringt, wie bedingt und beschränkt darin der Spielraum des nach landläufiger Vorstellung freien Eingreifens einzelner Persönlichkeiten ist, wie wenig im Grunde auch der Mächtigste eigentlich „machen“ kann. Zwar ist der Impuls der Person ein gewaltiger Faktor in politischen, wie in allen menschlichen Dingen, aber Wirkung übt er nur nach Maßgabe der gegebenen Verhältnisse, insoferne er aus diesen herausgewachsen, in der Richtung vorhandener Kräfte eine schon vorbereitete Zukunft gestaltet. Der Takt für das politisch Mögliche ist die erste Eigenschaft des Staatsmannes, der Widerstand gegen politische Notwendigkeiten sein schwerster Irrtum. Alles für möglich, hingegen aber nichts für notwendig zu halten, ist bei jedermann das untrügliche Zeichen politischer Unbildung. Der Wahn, als ob alles an sich Schöne und Wünschbare in staatlichen Dingen jederzeit „gemacht“ werden könnte, wollten nur die sogenannten „maßgebenden Faktoren“ ein Einsehen haben und sich dazu entschließen, bildet ja die breite Unterlage der gemeinen politischen Kannegießerei. Nur glaube man nicht, daß sich dieser Wahn auf die Kreise des Pfahlbürgertums beschränke. Welche Ausbreitung er zu Zeiten gewonnen und welche historische Rolle er demgemäß gespielt hat, zeigen gerade die letzten hundert Jahre. Es sei nur an die Dekrete des französischen Nationalkonvents erinnert, dessen Mitglieder doch für politisch möglich halten mußten, was sie mit Gesetzeskraft befahlen, auch an die parlamentarischen Experimente hochstehender Staatsmänner und Körperschaften Mitteleuropas in der Blütezeit des politischen Doktrinarismus, und haben wir selbst es nicht in unseren Tagen noch aus der Ferne mit angesehen, wie der feierliche Versuch gemacht wurde, eine Verfassung englischen Stiles dem türkischen Reiche von oben herab anzuheften?


Wenn dieses und ähnliches am grünen Holze geschieht, so drängt sich die unbehagliche Frage hervor: wie es denn überhaupt in unserem Zeitalter mit der Verbreitung der politischen Bildung stehe? Unser hochgebildetes Jahrhundert, ist es im besonderen auch ein politisch gebildetes Jahrhundert?

Und hier ist der Punkt, auf welchem ich die Nachsicht und Gewogenheit meiner Hörer ernstlich in Anspruch nehmen muss für die Antwort, die ich nach bester Überzeugung zu geben und zu begründen habe.

Unsere Zeit, so lautet diese Antwort, fällt in eine Periode blühender naturwissenschaftlicher (neben herabgekommener ästhetischer) Bildung, kümmerlich und zurückgeblieben aber ist der Geist des Jahrhunderts in Bezug auf politische Bildung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung