Abschnitt 7 - Die eine bezieht sich aus die Beurteilung vergangener Zeiten und ihrer Zustände. ...

Die eine bezieht sich aus die Beurteilung vergangener Zeiten und ihrer Zustände. Nur der politisch Gebildete hat die Befähigung und Neigung, diese nach ihrem eigenen Maß zu messen, für die sozialen Produkte eines jeden Zeitalters Grund und Rechtfertigung in den politischen und sozialen Voraussetzungen eben dieser Zeit zu suchen, während der Ungebildete an Alles das Maß der Gegenwart unwillkürlich heranträgt und eben dadurch zu jener Unterschätzung vergangener und Überschätzung heutiger Dinge gelangt, welche die politische Unbildung stets begleitet hat. Ein solcher wird Erscheinungen, wie z. B. Sklaverei und despotische Familienverfassung des Altertums, später die Christenverfolgungen und die kastenmäßige Gestaltung der antiken Gesellschaft, die mittelalterlichen Römerzüge, Gottesurteile und Eideshelfer, Lehenswesen, Adelsprivilegien und Zunftzwang, auf kirchlichem Boden Zölibat, Mönchswesen und Ketzerverfolgung, zwar zumeist scharf tadeln, aber niemals begreifen. Der politisch Gebildete hingegen sagt sich, was seinerzeit Dauer und wirksamen Bestand gehabt hat, müsse unter den gegebenen Verhältnissen wohl auch seinen Grund gehabt habend er wird vielleicht nicht in der Lage sein, diesen aufzudecken, aber er wird geneigt sein, ihn vorauszusetzen und zu suchen, unbewusst geleitet von dem Hegelschen Spruch: „Alles Wirkliche ist vernünftig“; er wird deshalb gegenüber historischen Tatsachen mit politischen Werturteilen äußerst zurückhaltend sein, eingedenk der Wahrheit, die auch wieder nur ihm gegenwärtig ist, daß künftige Geschlechter von Alltagsmenschen unter den gepriesenen Errungenschaften und Einrichtungen unserer Zeit reichlich genug des Ungerechten, Verkehrten und Lächerlichen finden werden, um ihren Spott aus der vollen Schale ihres Unverstandes über uns auszugießen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung